Satanistische Rituale auf Schloss Lenzburg?

Informationsveranstaltung des Vereins CARA (Care About Ritual Abuse) zum Thema „Organisierte rituelle Gewalt – Realität oder Täuschung?“ am 21. November 2019 im Casino Herisau

Samuel Kullmann, Vertreter der EDU im Grossen Rat des Kantons Bern und Angehöriger der Freikirche ICF, hat an der Infoveranstaltung des Vereins CARA am 21. November im Casino Herisau von satanistischen Netzwerken berichtet, die seiner Ansicht nach in der Schweiz aktiv sind. Kullmann ist nach eigener Aussage seit zwei Jahren mit dem Verein CARA verbunden und glaubt wie dieser an die Existenz von Gruppen, die rituelle Gewalt üben, indem sie Kinder in Ritualen systematisch sexuell missbrauchen, foltern und mitunter auch opfern. Diese Gemeinschaften würden, so die These, oft satanistische Symbolik und Inhalte pflegen und hätten Teile der Gesellschaft und Politik unterwandert.

Satanistische Gewalttaten im Rittersaal des Schlosses Lenzburg?

Unter dem Titel „Gewählt, um hinzuschauen“ berichtete Kullmann davon, wie er in den letzten zwei Jahren verschiedene Betroffene kennengelernt habe, die selbst Opfer von ritueller Gewalt gewesen seien. Als er mit dem Berner Grossen Rat von den Aargauer Kollegen zu einem Ausflug eingeladen und im Rittersaal des Schlosses Lenzburg bewirtet worden sei, habe er Bilder dieser Exkursion auf seiner Facebook-Seite gepostet. Daraufhin hätten sich insgesamt drei Opfer ritueller Gewalt bei ihm gemeldet, weil diese Fotos sie daran erinnert hätten, dass sie selbst in diesem Saal missbraucht worden seien. Auf Schloss Lenzburg hätten satanistische Rituale und Opferungen, aber auch kinderpornographische Verbrechen stattgefunden.

Samuel Kullmann gab diese Berichte als Faktum weiter. Irgendwelche Vorbehalte in Sachen Glaubwürdigkeit waren nicht zu hören, im Gegenteil, Kullmann wiederholte die im Bereich der Berichte von rituellem Missbrauch öfters gehörte These, dass rituelle Missbraucher sich oft Tatorte aussuchten, die bekannt und „sauber“ wirkten.

Fragliche Glaubwürdigkeit

Tatsächlich sind es unter anderem diese „berühmten“ Tatorte, welche viele Berichte über rituellen Missbrauch in ihrer Glaubwürdigkeit fraglich erscheinen lassen. Wie soll das gehen, dass im Rittersaal von Schloss Lenzburg satanistische Opfer stattfinden? Das würde eine Verschwörung mit Hunderten von Mitwissenden bedingen. Und bei Verschwörungstheorien gilt dieselbe Regel wie bei Erzählungen von angeblichen Okkultgruppen: je grösser, desto unwahrscheinlicher.

Camping-Hütten statt Rittersäle

Leider ist Missbrauch von Kindern, auch systematischer, jahrelanger Missbrauch, eine schreckliche Realität in unserer Gesellschaft. Realer Missbrauch fand in der Vergangenheit aber in Kellern statt, in Schuppen, in Hütten auf Campingplätzen und – vor allem – in der eigenen Wohnung, dem eigenen Haus, der eigenen Villa oder am eigenen Arbeitsplatz. Öffentliche Gebäude, Schlösser und Krypten als Tatorte waren hingegen typische Merkmale von Berichten, die sich später nachweislich als unzutreffend herausgestellt haben. Wer sich eine Missbrauchsgeschichte imaginiert – oft angeleitet durch Therapierende – sucht sich gern spannendere Tatorte aus, als real existierende Täter es vermögen.

Realer nichtritueller Missbrauch als Beweis für rituellen Missbrauch?

Da Beweise für die Existenz von rituellem Missbrauch im Sinne von systematischem Missbrauch von Kindern durch Gruppen im Rahmen von Ritualen bisher fehlen, was am Abend auch korrekterweise wiederholt betont wurde, wird gern auf nichtrituellen Missbrauch hingewiesen, um den rituellen Missbrauch zu plausibilisieren. Entsprechend ging auch Samuel Kullmann vor. Er erwähnte den Missbrauchsskandal um Jeffrey Epstein und einen Missbrauchsfall in Deutschland. Damit bewies Kullmann aber das Unbestrittene, die Existenz von systematischem nichtrituellem Missbrauch, die Frage des rituellen Missbrauchs blieb offen.

Wenn viele dasselbe sagen, wird es dann wahr?

Nebst Samuel Kullmann referierte an der Infoveranstaltung des Vereins CARA auch Michael Grossklaus. Grossklaus war zuerst Polizist, ist jetzt aber Pastor einer Freikirche in Villingen-Schwenningen, daneben Studienleiter bei der Biblisch-therapeutischen Seelsorge BTS. Grossklaus schilderte, wie er im Rahmen seiner pastoralen Tätigkeit mit Personen konfrontiert wurde, welche ihm von rituellem Missbrauch erzählten. Deren wachsende Zahl und die Gleichartigkeit ihrer Berichte führten Grossklaus allmählich zur Überzeugung, dass ritueller Missbrauch eine Realität sein muss.

Dieses Argument ist von Personen, welche an die Existenz von rituellem Missbrauch glauben, öfter zu hören. Wenn es aber tatsächlich so wäre, dass eine Vielzahl von ähnlichen Berichten die Realität des Geschilderten belegen würde, dann würden die Zehntausenden von Menschen, welche sich an frühere Leben zu erinnern glauben, die Reinkarnation als Tatsache beweisen, und die ebenfalls in die Zehntausende zählenden Personen, die davon überzeugt sind, von UFOs entführt worden zu sein, würden belegen, dass Ausserirdische existieren und an Menschen üble Experimente durchführen.

Nicht überall, wo Rauch ist, ist auch Feuer. In der Geschichte der Menschheit hat es schon furchtbar gequalmt, ohne dass auch nur ein Flämmchen nachgewiesen werden könnte, zu denken etwa an die schreckliche Ritualmordlegende gegenüber Juden, die immer wieder zu Judenverfolgungen geführt hat.

Schaffen Opfer Opfer?

Zwei Personen berichteten am Abend von rituellem Missbrauch, der ihnen selbst widerfahren sei: Eine Person steht in Auseinandersetzung mit ihrem Ex-Partner um die Tochter, mit ihrer Tochter um deren Erziehung, und mit Ämtern. Der rituelle Missbrauch, an den sie sich seit einiger Zeit erinnert, dient als Erklärung dieser verzwackten Situation und offenbar auch als Waffe im Streit mit dem Ex-Partner um die Tochter. Dass Menschen in Besuchs- und Sorgerechtsstreitigkeiten eine Beteiligung an rituellem Missbrauch vorgeworfen wird, hören wir in unserer Beratungsarbeit leider immer häufiger.

Die andere Person machte eine jahrelange Psychiatrie-, Therapie- und Diagnosekarriere durch, bis sie sich an rituellen Missbrauch zu erinnern begann und in dieser Deutung nun eine Verbesserung ihrer Situation gefunden hat. Als Haupttäter sieht sie ihren Vater, der sie jeweils dem rituellen Missbrauch zugeführt habe. Gefragt, wie es möglich sei, dass die Nachbarn von alledem nichts bemerkt haben, meinte die Person, dass die meisten Nachbarn ebenfalls zu den Tätern gehört hätten. Die Logik ihrer Erzählung liess sie, so unser Eindruck, ohne spürbare Hemmungen einen grösseren Personenkreis mitbezichtigen.

Hier wurden wir an übelste Zeiten der Menschheitsgeschichte erinnert: Reicht es wieder, neben einer verdächtigten Person zu wohnen, um auch selbst schlimmster Verbrechen beschuldigt zu werden?

Rosa Brille

Durch den Abend führte Ruth Mauz, pensionierte Pfarrerin, ehemalige Mitarbeiterin der Stiftung Schleife und Präsidentin des Vereins CARA. Sie berichtete von ihrer behüteten Jugend an der Sonnenseite des Zürichsees, und davon, dass sie das Leben durch die rosa Brille gesehen habe, bis ihr in ihrer Seelsorgearbeit Menschen begegnet sind, die von rituellem Missbrauch berichtet haben. Anfänglich sei sie skeptisch gewesen, und würde auch heute nicht jeden Bericht glauben. Aber die Existenz von rituellem Missbrauch ist für Ruth Mauz nicht fraglich, ebenso wie für einen Grossteil des rund 150 Personen zählenden Publikums.

Ruth Mauz ist, so durfte ich sie bei persönlichen Begegnungen kennenlernen, eine zutiefst gläubige, immens engagierte und ausgesprochen altruistische Frau. Das Wohl des Anderen seht in jedem Fall über dem eigenen. Manchmal frage ich mich aber, ob sie die rosa Brille ihrer Jugend nicht durch eine allzu düstere ersetzt hat.

Keine Diskussion

Die im Untertitel der Infoveranstaltung „Realität oder Täuschung“ anklingende Möglichkeit einer kontradiktorischen Behandlung des Themas löste die Veranstaltung leider nicht ein. Alle Referierenden vertraten unisono die These der Realität rituellen Missbrauchs. Dass ritueller Missbrauch auch Täuschung sein könnte, blieb unangesprochen, abgesehen von einem Hinweis von Michael Grossklaus, dass er auch schon eine offensichtlich erfundene Erzählung aufgedeckt habe – allerdings war die Sache sehr plump, indem die betreffende Person aus einem in Buchform publizierten und auf der Szene hochbekannten Bericht Passagen heraussuchte und dann als eigene Erinnerung ausgab.

Raum für Rückfragen an die Referierenden gab es keinen. Zwar wurde eine Box angeboten, in welcher Fragen deponiert werden konnten, und deren Beantwortung versprochen, eine Diskussion konnte so aber natürlich nicht zustandekommen. Dies dünkt mich sehr schade. Umstrittene Themen brauchen dringend kontroverse Diskussionen.