Besuch Zusammenkunft Zeugen Jehovas Zürich Altstadt

«Hallo?» meldet sich Christian[1] überrascht, als ich anrufe. Seine Nummer hatte ich auf der offiziellen Seite der Zeugen Jehovas, jw.org, gefunden.

Ich sage ihm, dass ich neu in Zürich sei und Interesse hätte, einer Zusammenkunft beizuwohnen. Dabei sei ich auf seine Nummer gestoßen. Ich hatte mich schon darauf vorbereitet, mein Interesse begründen zu müssen, um kein Misstrauen zu wecken. Das ist aber gar nicht nötig. Freudig entgegnet er, das sei super und natürlich gar kein Problem. Freundlich weise ich ihn darauf hin, dass ich noch den Zugangslink für die Zusammenkunft bräuchte. Er rufe mich zurück, um sich meine E-Mail-Adresse zu notieren, gerade sei er unterwegs. Gesagt, getan und so sitze ich um 19:30 bereit, um an der Zusammenkunft teilzunehmen.

Ein harmloser Einstieg

Als ich einschalte läuft schon ein Lied. Es singt keiner mit und der Text wird ohne Stimmeinlage eingeblendet. Es geht um Gott – Jehova, wie er von den Zeugen genannt wird – und um seine treuen Diener. Ich zähle 62 teilnehmende Zoom-Accounts. 24 Frauen, 16 Paare, 20 Männer und zwei Accounts, auf denen 3 oder mehr Namen stehen. Es sind sowohl alte, als auch junge Menschen zu sehen. Das Thema der heutigen Zusammenkunft lautet: Was sind die Folgen, wenn man Jehovas Gebote missachtet? Schwere Kost, finde ich und schaue mit möglichst neutraler Mimik in die Kamera. Zuvor hatte ich mir viele Gedanken über mein Auftreten gemacht. Wird jemand ansprechen, dass ich neu bin? Was nenne ich als Grund für mein Erscheinen? Allerdings beachtet mich niemand und so kann ich später sogar meine Kamera ausschalten, wie einige andere Teilnehmende auch.

Folgenschwere Entscheidungen

Die Stimmung ähnelt einer Schulklasse, in der die Schüler Angst haben, etwas Falsches zu sagen. Trotzdem sind alle sehr freundlich zueinander und achten auf ihre Wortwahl. Einige Personen sollten für diese Zusammenkunft Bibelstellen vorbereiten und dabei den Schwerpunkt auf ein bestimmtes Thema legen. Wer diesen Schwerpunkt festlegt, ist für mich nicht ersichtlich.

Der erste «Bruder», wie sich die Zeugen gegenseitig nennen, ist schon mal nicht da. Auf betretenes Schweigen hin wird mit dem nächsten Punkt weiter verfahren. Bruder Müller sollte die Bibelstelle Richter 17:2-4 vorbereiten, in der es um Micha geht, der seiner Mutter Silber stiehlt, es dann vor ihr zugibt und sie ihm verzeiht. Anschließend gibt Michas Mutter jedoch zweihundert Silbermünzen zum Silberschmied, der daraus eine Götterstatue machen soll – ein Götzendienst also. Bei den Zeugen Jehovas ein verbotener Brauch. Micha stiehlt also und zudem leistet seine Mutter auch noch einen Götzendienst. Ich erwarte nun, gemäß dem Thema der heutigen Zusammenkunft, die fatalen Folgen des Verhaltens der beiden zu erfahren, aber dazu wird nichts gesagt. Als ich später selbst in der Bibel und in der NWÜ (der Neue-Welt-Übersetzung der zeugen Jehovas) nachlese, stelle ich fest, dass Micha die Statue und andere Dinge geklaut werden. Der Zeuge, der den größten Redeanteil hat, berichtet jedoch lediglich von einem Bild, das vor ihm liege und verdeutliche, was passiert, wenn man sich Jehova widersetzt. Er sehe ein Bild einer Frau, die früher mal Zeugin Jehovas war und nun, wo sie die Gebote Gottes missachtet, ein trauriges Leben führt. Sie sei mit einem Alkoholiker zusammen und betrachte sehnsüchtig eine Ausgabe des «Wachtturms», der Zeitschrift der Zeugen.

Ein anderes Mitglied meldet sich zu Wort und betont, wie wichtig es sei, sich den Folgen seines Handelns bewusst zu sein. «Sehr gut.» antwortet der «Bruder», der das Bild der Aussteigerin vor sich liegen habe. So oder so ähnlich wird in der gesamten Zusammenkunft geantwortet werden. «Danke für deinen Beitrag.» oder «Gut, vielen Dank.» sind die Floskeln, mit denen die Brüder, die gerade das Wort haben, auf die Antworten und Gedanken ihrer Brüder und Schwestern reagieren. Eine Diskussion kommt nicht zustande. Mir kommt es so vor, als sei das den Anwesenden auch ganz recht.

Training und Bibelstunde: Zwei Fliegen mit einer Klappe

Es melden sich nun, nach Aufforderung, auch Schwestern zu Wort. Vier Frauen haben in Zweiergruppen Dialoge einstudiert, die helfen sollen, die Frage nach dem Leid auf der Welt zu beantworten und vor allem wie Gott es zulassen kann. Die Bibelstelle, auf die sie sich beziehen ist Jeremia 29:11: «Denn ich selbst weiß ja, welche Gedanken ich euch gegenüber habe», […] «Gedanken des Friedens und nicht des Unglücks, um euch eine Zukunft und eine Hoffnung zu geben». Die Dialoge sollen ein Gespräch zwischen einer Zeugin und einer Interessentin darstellen. Es wird deutlich geübt, nicht nur die Botschaft der Bibel zu transportieren, sondern auch das Interesse zu wecken und die interessierte Person an sich zu binden. Aber das ist ja genau im Sinn der Zeugen: So viele Menschen missionieren wie möglich, sie zu treuen Dienern Gottes machen und somit vor ihrem sicheren Tod bewahren, wenn der Endkrieg kommt.

Gott kümmere sich um unsere Probleme, was an dieser Bibelstelle deutlich werden soll. Damit wir besser durchs Leben kommen, bräuchten wir Informationen darüber, wie das besser gelingt. Und wo finden wir die? Natürlich in der Bibel! Es stehe ganz genau drin, was Gott schon alles getan habe, damit es uns «besser geht» (damit sind seine Strafen gemeint, die uns zeigen sollen, wie wir uns richtig verhalten) und was er noch tun werde, um das Leid in der Welt zu beenden (Harmagedon, der Krieg, bei dem alle Ungläubigen getötet werden).

Die Frau, die die Interessentin spielt, fragt daraufhin: «Aber wie soll ich denn die Informationen in der Bibel verstehen und umsetzen?». Da hat die Zeugin eine Lösung parat: Sie rufe nächste Woche nochmal an und sende ihr eine Ausgabe des Wachtturms zu, damit lasse sich die Bibel besser verstehen. Die Versammlung ist begeistert.

So werden die Leute also am Telefon zu den Zeugen Jehovas gebracht, denke ich mir.

Kinder! Fürchtet euch!

Es folgt ein weiterer Dialog dieser Art. Dann wird zu einem Programmpunkt übergegangen, den der dafür zuständige Bruder Brambilla begeistert einleitet. Es soll ein Video gezeigt werden, auf das anschließend von anwesenden Kindern, seinen Neffen, reagiert werden soll. Ganz im Sinn des Themas geht es hier darum, was passiert, wenn man seinen Eltern nicht gehorcht. Ich muss an das Buch von Sophie Jones denken und daran, wie sie beschreibt, dass Satan für sie real war, überall Gefahren gelauert haben und sie sich ständig vor Jehova und ihrer Mutter fürchtete, wenn sie etwas falsch machte. Ich verdränge die Gedanken und lasse das animierte Video auf mich wirken. Ein kleiner Junge läuft mit seinen dreckigen Schuhen über den frisch – natürlich von der Mutter – geputzten Boden. Sein Vater erwischt ihn und fragt ihn, wie seine Mutter sich wohl jetzt fühlen werde. Der Junge stellt sich seine theatralisch weinende Mutter vor. Gemeinsam mit dem Vater putzt er den Schmutz weg. Der Vater bespricht mit ihm, dass die beiden jetzt sehr viel Arbeit hatten, die sie sich bei korrektem Verhalten hätten sparen können. Er liest dem Sohn die passende Bibelstelle vor, in der steht, dass Kindern ihren Eltern gehorchen sollen, damit es den Kindern selbst gut gehe. Ich finde es interessant, dass es um das Wohl der Kinder geht, wenn doch das Unwohlsein der Kinder vermutlich mehr durch die Strafe bei Fehlverhalten entsteht und weniger durch das Mitgefühl mit den Eltern. Zu einer solchen Perspektivübernahme sind die meisten Kinder sowieso erst ab Primarschulalter in der Lage («Theory of Mind»). In der nächsten Szene entscheidet sich der Junge, trotz anfänglichen Zögerns, dazu, seine Murmeln wegzuräumen. De Entscheidung fällt, weil er sich ein Katastrophen-Szenario ausmalt, in dem der Vater auf den Murmeln stürzt und das halbe Haus demoliert. Er stellt sich die anmaßenden Blicke seiner Eltern vor und räumt auf, ganz zur Freude seiner Mutter, die ihn überschwänglich lobt.

Für mich wird deutlich, dass hier mit Angst und Schuld gearbeitet wird, so wie es viele ehemalige Zeuginnen und Zeugen Jehovas beschreiben.

Die Neffen des Bruders Brambilla werden nun gefragt, was sie gelernt haben. Sie antworten brav, dass man auf Jehova hören soll. Auf Nachfrage erklären sie, dass man auch auf die Eltern hören soll. Und warum soll man das ganze machen? «Weil Jehova sonst böse wird.», antworten sie und treffen damit ins Schwarze. Denn die Kinder nehmen natürlich nicht die von den Erwachsenen weitergedachte Botschaft mit, dass es den Kindern selbst besser geht, wenn sie sich richtig verhalten. Sie haben einfach Angst vor der Strafe Gottes und der Strafe der Eltern.

Anschließend wir noch ein Lied mit dem passenden Titel «Höre doch auf Gottes Wort!» gespielt.

Harmagedon – die Folge aller Taten

Die ultimative Folge der Missachtung Jehovas Gebote sei selbstverständlich der Tod im Endkrieg, zu dem nach dem Lied einige Fragen gestellt und beantwortet werden. Gott habe ein genaues Datum im Kopf, wann dieser Krieg beginnen soll, er weiß auch genau was passieren wird und wie es passieren wird. Nach Harmagedon wird es für die Gläubigen, die nach Gottes Geboten leben, das Paradies auf Erden geben. Eine Schwester betont, dass es nicht ausreiche, die Gebote zu kennen, es sei kein Selbstläufer. Man müsse aktiv an sich arbeiten, um Gott bestmöglich zu folgen. Ihr wird energisch beigepflichtet.

Männer an die Macht! – So steht es doch in der Bibel?

Auch organisatorisches wird in der Zusammenkunft besprochen: Erstens geben es nun, durch den großen Zulauf zur Gemeinde, nun sieben Männer, die eine Verantwortungsposition innehaben und an die man sich wenden kann. Dabei wird sich auf folgende Bibelstelle berufen: «Darum, Brüder, sucht euch aus eurer Mitte sieben Männer aus, die ein [gutes] Zeugnis haben und mit Geist und Weisheit erfüllt sind, damit wir sie über dieses notwendige Geschäft setzen können» (Apg, 6,3).

Mich fasziniert es, wie sogar die Strukturen der Organisation biblisch begründet werden.

Es folgt der Rechnungsbericht von Dezember und ein Abschlusslied. Das war`s!

[1] Alle Namen wurden verändert.

Julia Sulzmann, 14. Januar 2022

http://www.relinfo.ch/lexikon/christentum/zeugen-jehovas-2/