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Zu Steiners 75. Todestag

 

 

Am 30. März 2000 jährte sich zum 75. Male der Todestag Rudolf Steiners, des Gründers der Anthroposophie. Wie heute wieder unübersehbar geworden ist, kann Steiner als eine der umstrittensten Gestalten der europäischen Religionsgeschichte des 20. Jahrhunderts gelten. Für die einen hat der "Herr Doktor", wie ihn seine Anhänger zu nennen pflegten, den Rang eines Offenbarers unserer Zeit und des Retters des Christentums. Für die anderen, seine Gegner, gilt Steiner als einer der grossen Veränderer und Verfälscher der christlichen Tradition und so als Begründer einer der markantesten Irrlehren neuerer Tage. Dritte wiederum sehen in Steiner einen Menschen, der aus etwas abstrusen Theorien heraus zu fruchtbaren praktischen Ansätzen in Pädagogik, Ernährungslehre und Medizin gelangte, die man, trotz Reserven gegenüber Steiners "Geisteswissenschaft", nicht missen möchte. Esoteriker und Esoterikerinnen nehmen in Steiner einen Vorläufer wahr, dessen Werk allerdings durch seine Anhänger zu einer eigentlichen Dogmatik mit verbindlichen Antworten auf jede nur denkbare Frage umgedeutet wurde. In letzter Zeit trat zu diesen Haltungen eine weitere Perspektive dazu. Kritische Forscher weisen auf problematische Aussagen in Steiners Werk hin, die deutlich machen, dass Steiner auch dies - und vielleicht vor allem dies - war: Ein Kind seiner Zeit.

Als Kind seiner Zeit wird man Steiner auch mit Vorteil deuten wollen. Das Denkmal des Herrn Doktor als Offenbarer für die Ewigkeit verstellt den Blick auf den irdischen Steiner, der aus seinen geschichtlichen Bedingtheiten heraus verständlich wird.

Steiner beschreibt sich als Menschen, der schon in Kindheitstagen eher inneren Welten und geistigen Dingen zugewandt gewesen war. Steiner sinniert viel, sieht Bilder und Erscheinungen. Noch fehlt ihm aber die Sprache und das weltanschauliche Gerüst, diese Bilder zu ordnen und auszudrücken. Beides gewinnt er zuerst bei Goethe, dessen naturwissenschaftliche Schriften Steiner herausgeben darf, dann aber vor allem bei der Theosophie, der Steiner um die Jahrhundertwende begegnet. Die Theosophie, 25 Jahre zuvor entstanden, versucht nichts weniger, als alle Religionen der Menschheit, aber auch neueste naturwissenschaftliche Erkenntnisse, zusammenzuführen zu der einen Wahrheit. Dieses Projekt nimmt sie an die Hand, indem sie aus den Traditionen der Religionen eine dahinterliegende Urwahrheit zu schöpfen glaubt und diese mit dem Darwinismus, dem Entwicklungsgedanken zusammenbringt. Das Resultat ist eine Weltanschauung, die von einer universalen geistigen Entwicklung ausgeht: Die Seelen aller Wesen entwickeln sich von Inkarnation zu Inkarnation höher hin zu geistigen Welten, die den Sehenden schon heute zugänglich sind.

Diese Vorstellung höherer Welten, die mit einer Unzahl verschiedener höherer Wesenheiten bevölkert sind und unsere materielle Realität durchdringen und beeinflussen, ermöglicht Steiner, seine inneren Bilder zu deuten. Sie gelten ihm nun als ein Lesen in der "Akasha-Chronik", einer Art historischer Aufzeichnungen in den höheren Sphären. Manches, was Steiner sieht, hat er vorher so oder in ähnlicher Form gelesen, manches hat er gehört, z.B. von einem Kräuterdoktor, dem sich die anthroposophische Medizin wohl wesentlich verdankt.

Zunehmend ist es aber die Figur des Christus, der Steiner in seiner Schau der Akasha-Chronik begegnet. Dabei greift Steiner kirchliche Ueberlieferung gerne auf, deutet sie aber in theosophischem Sinne um, und propagiert diese Neudeutung dann als ursprünglichen Inhalt des Christentums. Selbstredend sind die Kirchen, die damit der Verfälschung der Tradition bezichtigt werden, dieser Neudeutung des Christentums gegenüber äusserst skeptisch. Steiner gründet deshalb seine eigene Kirche, die Christengemeinschaft, die von den Kirchen allerdings kaum als christliche Schwesterkirche anerkannt wird. Zu deutlich ist die prägende Bedeutung des theosophischen Erbes. Es bleibt aber wahr, dass für Steiner die Figur des Christus von zentraler Bedeutung war, so bedeutsam, dass er sich deswegen von der christentumskritischen Theosophischen Gesellschaft trennte und seine eigene Anthroposophische Gesellschaft begründete.

Bei Goethe ist Steiner einem Universalgelehrten begegnet, der sich beinahe zu jedem Fachgebiet der Wissenschaft zu äussern vermag. Die Theosophie beansprucht ähnliches: Die Kenntnis der höheren Welten, der Akasha-Chronik, ermöglicht die Beantwortung aller Fragen, auch derjenigen, die auf Erden unlösbar scheinen. Steiner erliegt dem Reiz der Allwissenheit. Er nimmt Stellung zu allen Fragen, die an ihn herangetragen werden, und zumeist ausführlich (sein Gesamtwerk umfasst deshalb mehr als 350 Bände). Weil Steiner alle Fragen seiner Zeit aufgreift, beantwortet er auch die Frage der Menschenrassen. Warum ist Europa zur Zeit Steiners entwickelter als Schwarzafrika? Steiner beantwortet diese Frage in einem Sinne, der damals in darwinistisch oder theosophisch interessierten Kreisen üblich war: Weil die europäische Rasse weiter entwickelt ist als die schwarzafrikanische. Für Steiner ist das keine Diskriminierung, weil die Menschenseele durch die verschiedenen Rassen wandert. Für einen Menschen mit schwarzer Hautfarbe ist dies aber sehr wohl eine Diskriminierung. Zugunsten Steiners ist aber festzuhalten, dass er zur Rassenfrage nur selten Stellung bezieht. Sie ist kein Thema, das ihn wirklich interessiert.

 

Steiner äusserte durchgängig die Ueberzeugung, dass seine Sicht der Akasha-Chronik keine Ausnahmeerscheinung, sondern im Grunde jedem Menschen zugänglich ist. Seine Anhänger hatten nach Steiners Tod nicht so viel Vertrauen in ihre Fähigkeiten, verzichteten auf eigene Schau und pflegten statt dessen die Lektüre des Werkes des "Herrn Doktor". Steiner wurde so zunehmend dogmatisiert und in einem solchen Masse zur Offenbarergestalt, dass es für manche Anthroposophen undenkbar ist, dass sich in 350 Bänden Steiner auch nur ein Fehler oder eine überholte Aussage finden würde. 350 Bände Wahrheit für die Ewigkeit, Ausfälligkeiten gegenüber Schwarzen und Asiaten eingeschlossen. Steiner selbst wird damit ein schlechter Dienst getan. Die Frage des Rassismus bei Steiner ist nicht deshalb ein Problem, weil da ein Mensch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts rassistisch dachte, dies war der Normalfall. Das Problem ist die Tatsache, dass manche Vertreter einer weltanschaulichen Strömung an der Schwelle zum 21. Jahrhundert rassistische Aussagen für unfehlbare Wahrheit halten.

Die Zukunft wird zeigen, ob es der Anthroposophie gelingt, Steiner zu ergänzen und - wo nötig - zu korrigieren. Andernfalls besteht die Gefahr, die sich im Moment betreffs der Rudolf-Steiner-Schulen zeigt: Steiners um 1920 revolutionäre Einsichten zur Pädagogik sind heute überholt. Was fortschrittlich war, ist heute rückständig. Es wäre der Anthroposophie zu wünschen, dass sie den Weg über einen dogmatisierten Steiner hinaus in die Zukunft findet.

Georg Otto Schmid, 2000


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