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  Chabad Lubawitscher Bewegung
  Uebersicht
  Menachem Mendel Schneerson
Leben und Ideen des Lubawitscher Rebbe
Inhalt
1 Einleitung
Chabad ist eine chassidische Bewegung. Innerhalb der chassidischen Bewegung gründete Rabbi Schneur Zalman den Lubawitsch Chassidismus, der seiner Lehre nach auch Chabad genannt wird. Chabad steht als Akronym für Weisheit, Einsicht und Wissen. Da Gott sich in der Thora und in den Mitzwot den Menschen geoffenbart hat, führt der Erkenntnisweg des Menschen über Thora-Studium und Mitzwot-Observanz. Zu den fundamentalen Lehren gehört auch der Glaube an das Kommen des Messias. Dieser Glaube war für den siebten Rebbe der Lubawitscher Bewegung, Menachem Mendel Schneerson, sehr wichtig. Er ging davon aus, dass die Ankunft des Messias noch in seiner Generation erfolgen würde und hielt die Menschen an, die Thora-Gesetze einzuhalten, um das Kommen des Messias zu begünstigen. Bereits einige Jahre vor seinem Tod war ein Teil der Bewegung überzeugt, dass Schneerson selbst der Messias sei und sich demnächst offenbaren werde. Dies ist bis heute nicht geschehen. Dennoch sind einige Chabad-Mitglieder immer noch überzeugt von der Annahme, Schneerson sei der Messias. Die verschiedenen Anschauungen bezüglich dem Messiasdenken haben innerhalb der Bewegung zu grossen Problemen geführt. Dennoch hat sich Chabad seit dem Tod des Rebbe im Jahre 1994 weiterhin vergrössert und an Mitgliedern gewonnen. Heute gehören etwa 200'000 Juden dazu. Chabad gilt heute als die grösste der orthodoxen Bewegungen und wird auch von vielen nicht-orthodoxen Juden unterstützt.

Ein zweiter Fokus dieser Arbeit liegt bei der Frage, was diese Bewegung so erfolgreich macht. Die starke Persönlichkeit des letzten Rebbe, Menachem Mendel Schneerson, hat sicherlich viel dazu beigetragen, dass sich Chabad während seiner 44-jährigen Führungszeit von einer kleinen, im Holocaust fast vernichteten Gemeinschaft zu einer weltweiten Bewegung entwickeln konnte. Ein Ziel von Chabad ist, jeden Juden in der Welt zu erreichen. Die Bewegung zeichnet sich durch ein ernorme Aktivität aus: Rund um die Welt arbeiten Gesandte, sogenannte Schlichim im Namen von Chabad. Sie gründen Synagogen, Schulen und Begegnungszentren. Die Outreach-Arbeit beinhaltet auch verschiedene Kampagnen, um den Juden die jüdischen Gesetzte näher zu bringen und sie zu mehr Thora-Observanz zu bringen. Die Arbeit der Schlichim ist der Grundpfeiler der Bewegung. Zum Erfolg von Chabad trägt auch die grosse Anpassungsfähigkeit der Bewegung bei. Anders als andere orthodoxe Gruppierungen macht sich Chabad die technischen Erfindungen des 20. Jahrhunderts zu Nutze, um mittels Internet oder mit Hilfe von Videos und Büchern die Botschaft des Rebbe und ihre auf der Kabbala basierende Ideologie den Menschen näher zu bringen.

2 Chassidismus: Ein kurzer Überblick
Der Chassidismus entstand während des 18. Jahrhunderts in Osteuropa. Der Gründer dieser Bewegung war Israel ben Eliezer, besser bekannt nach seinem Ruf als Wunderheiler unter dem Namen Baal Schem Tow. Seine Lehre wurzelte in der Kabbala. Die Kabbala ist eine jüdische Mystik, die in Spanien entstand. In der Kabbala gilt Gott als „der Grenzenlose“ (En Sof). Von ihm stammen die 10 Spähren Gottes (Sefirot), in denen er sich offenbart. Sie sind „Emanationen“ Gottes und stehen zwischen En Sof und der Welt. Das wichtigste Werk der Kabbala ist der Sohar. Dieser Teil der Kabbala war auch für Baal Schem Tow der wichtigste. Der Chassidismus beinhaltet viele mystische Elemente, welche den damals ungebildeten und unterdrückten Juden in einer leicht verständlichen Form durch Legenden und Geschichten vermittelt wurde (Metz, S. 302; Rosenthal & Homolka, S. 176). Viele dieser Geschichten hat Martin Buber auf Deutsch neu erzählt und so den Chassidismus einem breiteren Publikum nahegebracht (Solomon, S. 61). Obwohl das Studium der Thora und des Talmud auch für chassidische Juden zentral ist, stellt es nicht den einzigen Weg dar, um eine Beziehung mit Gott herzustellen und aufrechtzuerhalten. Leidenschaftliches Beten, Freude, religiöse Hochstimmung, Singen und Tanzen sind ebenso wichtig und gehören zu den Kernelementen des Chassidismus. Die immer grösser werdende chassidische Bewegung teilte sich nach dem Tod von Baal Schem Tow in verschiedene kleinere Gruppen, wobei viele der frühen Sekten immer noch bestehen und nach den Namen der mit ihnen verbundenen Städte benannt sind (Solomon, S. 61). Jede von ihnen verehrte einen Führer (Zaddik oder Rebbe genannt). Wie wir am Beispiel der Lubawitscher sehen werden, ist das Prinzip eines Rebbe immer noch aktuell. Während ein Rabbi als Gelehrter fungiert, passt für einen Rebbe mehr die Bezeichnung Guru. Ein Rebbe lebt sehr fromm und wird als Mittler zwischen den Menschen und Gott gesehen. Sein Wort gilt absolut (Metz, S. 302). Zu den grundlegenden Charakteristika, die mit einem chassidischen Rebbe verbunden sind, gehören, dass der Rebbe seine Position aufgrund des Willens seiner Bewegung hat. Er ist ein Führer auf Lebzeit und durch das Erreichen einer höheren Ebene mit speziellen Kräften oder Mächten ausgestattet. Zugleich ist er der Diener der Bewegung, d.h. er gehört ihr voll und ganz. Ein Rebbe ist verantwortlich für das spirituelle und materielle Wohlbefinden seiner Anhängerschaft (Fishkoff, S. 75). Der Chassidismus galt ursprünglich als revolutionäre und volkstümliche Bewegung, heute jedoch wird der Chassidismus zum Ultra-Orthodoxen Judentum gezählt (Rosenthal & Homolka, S. 177).
3 Die Lubawitscher Bewegung
3.1 Der Anfang
Nach dem Tod von Baal Schem Tow, dem Gründer des Chassidismus, übernahm Rabbi Dov Baer die Führung der Bewegung. Einer seiner besten Schüler war Rabbi Schneur Zalman von Liadi, welcher Ende des 18. Jahrhunderts den Lubawitsch Chassidismus gründete. Er galt als ausgezeichneter Talmud-Kenner. Der Höhepunkt seiner intellektuellen Arbeit war sein Buch Tanya, welches 1796 zum erstenmal publiziert wurde und auch heute noch ausgiebig studiert wird. Tanya ist ein theoretisches Werk, welches aussagt, dass ein grundlegendes menschliches Bedürfnis darin besteht, sich mit der Unendlichkeit Gottes zu verbinden. Gemäss Rabbi Scheur Zalman ist spirituelles Wachstum ein lebenslanger Prozess, der unermüdliche Selbstdisziplin erfordert. Intellekt und Emotionen müssen beide angemessen eingesetzt werden. Diese Lehre wurde Chabad genannt (Hoffman, S. 19). Chabad steht als Akronym für die drei Emanationen Gottes nach dem System der Kabbala: Chochmah, Binah und Da’ath (Weisheit, Einsicht, Wissen). Diese drei Gottesemanationen werden dem Bereich der Kognition zugerechnet. Sie bilden die Quelle für die sieben weiteren Gottesemanationen, die dem Bereich der Emotion zugeordnet sind. Aufgabe und Ziel des Chabad-Chassid ist, höhere Stufen der Wahrnehmung zu erreichen, indem er in seinen Handlungen und in der Welt die Abhängigkeit von den Gottesemanationen erkennt. Da Gott sich in der Thora und in den Mitzwot den Menschen geoffenbart hat, führt der Erkenntnisweg des Menschen über Thora-Studium und Mitzwot-Observanz. Darin unterscheidet sich der Chabad-Chassidismus deutlich von den anderen chassidischen Strömungen, die vor allem das emotionale Gotteserleben betonen (Müller, S. 48). Da sich die Bewegung seit der Zeit von Rabbi Scheur Zalman in Lubawitsch niedergelassen hat, gibt ihr dieser Ort den zweiten Namen. Nach dem Tode von Rabbi Scheur Zalman wurde sein ältester Sohn der neue Rebbe.
3.2 Weiterentwicklung
Das Amt des Rebbe wird im Chassidismus durch erbliche Abstammung weitergegeben, sodass jeweils einer der Söhne oder aber ein Schwiegersohn eines verstorbenen Rebbe die Führung übernimmt. Während sich Europa im 19. Jahrhundert politisch, kulturell und ökonomisch stark veränderte, lebte Chabad unter den nachfolgenden Rebbe gemäss den traditionellen jüdischen Gesetzen (Thora und Halacha). Anders als andere traditionelle Gruppierungen, wie beispielsweise Amish, lehnte Chabad die sich entwickelnde Technologie nicht per se ab. Gemäss den Chabad Rebbe kann Wissenschaft das Handwerk Gottes aufdecken. Die darwinistische Evolutionstheorie hingegen wurde und wird klar abgelehnt. Verschiedene politische Umstände führten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dazu, dass fast alle jüdischen Führer aus Russland fliehen mussten. Aber der 6. Rebbe, Rabbi Yosef Yitzchak Schneerson, wollte das Land nicht verlassen. Nach einer Verhaftung und weiteren Schwierigkeiten musste auch er Russland verlassen. Er reiste durch Europa und besuchte als erster und bisher einziger Lubawitscher Rebbe Israel. Er gründete weltweit viele religiöse Schulen und Synagogen und unterhielt zu seinen Anhängern einen intensiven schriftlichen Kontakt. Zu Beginn des zweiten Weltkrieges konnte er von Polen nach Amerika flüchten. Zwei Jahre später gelang es seiner Tochter Chaya Muschka und ihrem Ehemann, Rabbi Menachem Mendel Schneerson, von Frankreich nach Amerika zu reisen. Ein Teil der Familie des 6. Rebbe blieb in Polen zurück und wurde später in einem Konzentrationslager getötet (Hoffman, S. 25).

Rabbi Yosef Schneerson gründete kurz nach seiner Ankunft in New York in Crown Heights, Brooklyn, das Hauptquartier der Chabad Bewegung. Er übertrug seinem Schwiegersohn, Menachem Mendel Schneerson, die Aufgabe, drei verschiedene Abteilungen zu gründen: Ein Verlagswesen, eine Bildungsstätte für Outreach - Missionen und eine Stelle für Sozialangebote. In verschiedenen Städten Nordamerikas gründeten Chabad Rabbiner Yeshivas und brachten chassidische Texte und Gebetbücher in Umlauf. Die einst nur in Osteuropa ansässige Lubawitscher Bewegung transformierte sich in eine nach aussen orientierte Gruppierung, welche versuchte, die ganze jüdische Welt zu beeinflussen. „Unlike virtually all other Hasidic groups stuggling to survive the Holocaust, the Lubavitcher saw themselves as leading a historic, divinely mandated mission on behalf of all Jewry “ (Hoffman, S. 26). Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges forcierte der 6. Rebbe die sogenannte Outreach- Arbeit. Er wollte vor allem die europäischen Juden, welche den Holocaust überlebt hatten, unterstützen. Da jüdische Flüchtlinge in verschiedenen Ländern lebten, schickte er zahlreiche Rabbiner in die betreffenden Länder. Der sechste Rebbe starb Anfang 1950. Zu diesem Zeitpunkt waren die meisten Juden, die in Amerika lebten und die Bewegung unterstützten, arme Immigranten, die kaum ein Wort Englisch sprachen. Innerhalb der Chabad Bewegung waren sich alle einig, dass der Schwiegersohn des Verstorbenen, Rabbi Menachem Mendel Schneerson, die Führung der Bewegung übernehmen sollte. Damals 48-jährig, galt er sowohl spirituell als auch intellektuell als sehr geeignet. Erst wollte er die ihm vorgeschlagene Position nicht übernehmen, weil er die Verantwortung als zu gross erachtete. Erst ein Jahr nach dem Tod seines Schwiegervaters erklärte er sich offiziell bereit, der siebte Rebbe zu werden. Zum damaligen Zeitpunkt ahnte niemand, in welchem Ausmass sich Chabad unter seiner nun folgenden rund vierzigjährigen Führungszeit vergrössern würde (Hoffman, S. 27).

4 Menachem Mendel Schneerson
4.1 Lebensgeschichte
Menachem Mendel Schneerson wurde 1902 in der Ukraine geboren. Sein Vater war ein Gelehrter mit hohem Ansehen und seine Mutter stammte von einer aristokratischen jüdischen Familie ab. Menachem Mendel wuchs zusammen mit zwei jüngeren Brüder auf. Von frühester Kindheit an zeigte er einen erstaunlichen mentalen Scharfsinn. Als er seine Bar Mitzvah erhielt, galt er bereits als aussergewöhnliches Talent bezüglich Thora-Kenntnisse. 1923 lernte er den damaligen Lubawitscher Rebbe Rabbi Yosef Yitzchak Schneerson kennen, welcher ihn in den Kreis seiner engsten Vertrauten aufnahm. Fünf Jahre später heiratete Menachem Mendel Schneerson die Tochter des sechsten Rebbe, Chaya Muschka. Das Paar zog nach Berlin, wo Menachem Mendel Schneerson Mathematik und Naturwissenschaften studierte. Aufgrund der Nazi-Bedrohung zog das Paar von Berlin nach Paris, wo Schneerson seine Studien an der Sorbonne fortsetzte. In erster Linie vertiefte er sich jedoch in Gebete und Thorastudien. Ausserdem erfüllte er für seinen Schweigervater zahlreiche administrative Aufgaben. Als die Nazis Paris besetzten, floh er und seine Frau 1941 nach New York. Wie bereits erwähnt, erklärte er sich formell erst 1951, d.h. ein Jahr nach dem Hinschied seines Schwiegervaters bereit, die Führung der Chabad-Bewegung zu übernehmen. Schneerson sagte damals, er werde seine Arbeit als Führer annehmen, aber letzten Endes sei jeder Mann und jede Frau von Chabad für das eigene Handeln und für das Streben nach Göttlichkeit selbst verantwortlich. Der siebte Rebbe führte während über vierzig Jahren die Bewegung: Während dieser Zeit entwickelte sich die ehemals kleine Bewegung zu einem weltweiten Netz mit über 200'000 Mitglieder (Jacobson, S. XXIV). Nachdem Schneerson die Führerschaft angenommen hatte, verliess er Crown Heights fast nie mehr. Er reiste nie nach Israel (Fishkoff, S. 69). Laut Rabbi Mendel Rosenfeld (Chabad Zürich) war Schneerson „a very busy man“, sodass er gar keine Zeit fand, andere Länder zu besuchen. Er verliess Crown Heights nur, um das in Queens gelegene Grab (genant Ohel, was Zelt bedeutet) seines verstorbenen Schwiegervater zu besuchen (www.encyclopedia.thefreedictionary.com). Seine Ehefrau Chaya Muschka starb 1988. Die Ehe blieb kinderlos. Somit existiert kein direkter Nachkomme. Nach dem Tod seiner Ehefrau zog der Rebbe von seiner Wohnung in das Lubawitscher Hauptquartier an der 770 Eastern Parkway, welches als „770“ bekannt ist. Im Hauptquartier befanden sich nicht nur Büros, sondern auch eine Synagoge.

Der Rebbe erlitt während seinen fortgeschrittenen Jahren einen Herzinfarkt und mehrere Schlaganfälle. Nach dem Schlaganfall 1992 konnte er nicht mehr sprechen. Er blieb bis zu seinem Tode im Juni 1994 der Führer der Lubawitscher.

4.2 Ideen und Anschauungen
Menachem Mendel Schneerson führte ein paradoxes Leben. Einerseits setzte er während seiner Amtszeit kaum einen Fuss über die Grenzen seiner näheren Umgebung hinaus, andererseits war sein Einfluss weltweit zu spüren. Gemäss Jacobson (S. XXV) galt er nicht nur als einer der grössten Religionsgelehrten der Welt, sondern auch als brillanter Mathematiker und Wissenschaftler. Manche hielten ihn für ein Überbleibsel der „alten Welt“ und für den Leiter einer weltfremden Gemeinschaft. In Wahrheit wusste er sehr gut über die moderne Welt Bescheid und sprach voller Begeisterung zur ganzen Gesellschaft, zu Juden und Nichtjuden. Sein Anliegen war die Erziehung zur Tugendhaftigkeit und die Einheit der Juden (Jacobson, 1995). Kurz nach der Annahme der Führung 1951 beschäftigte er sich mit der Frage, welche Probleme die nächsten Jahrzehnte mit sich bringen würden. Er begann mit der Gründung von Bildungs- und Öffentlichkeitszentren, die soziale und humanitäre Dienste für alle Menschen anboten. Das von seinem Schwiegervater eingeführte Prinzip der „Lubawitsch-Gesandter“, sogenannten Schlichim (1), verfolgte er mit grossem Einsatz weiter. Die Schlichim gründeten zahlreiche Chabad-Lubawitsch-Zentren, um die spirituellen und materiellen Bedürfnisse der Gemeinden zu befriedigen. Ein Leben als Schlichim-Paar ist für viele Mitglieder auch heute noch das wichtigste Lebensziel und die Arbeit all dieser Paare oder auch von Einzelpersonen trägt wesentlich zur Aufrechterhaltung und Vergrösserung der Bewegung bei.

Jacobson (S. XXV) schreibt, dass der Rebbe seine fundierte religiöse und wissenschaftliche Bildung mit tiefem Mitgefühl und Einsicht verband und auf diese Weise – ganz unauffällig – zu einer führenden Persönlichkeit wurde, bei der andere grosse Persönlichkeiten aus Politik, Religion und Wirtschaft Rat suchten.

Nachdem Schneerson nach dem Tod seiner Ehefrau ins Lubawitscher Hauptquartier gezogen war, durfte man ihn auch nachts besuchen. Es kam häufig vor, dass Schneerson fast die ganze Nacht arbeitete und Menschen empfing, sodass er kaum zum Schlafen kam. Am Sabbath und an Feiertagen hielt er häufig spezielle Feiern, sogenannte farbrengens, bei denen er die Führung langer Reden übernahm. Via Satelliten wurden die farbrengens in die Chabad-Zentren der ganzen Welt übertragen (www.encyclopedia.thefreedictionary.com).

Der Lebensstil von Schneerson war äusserst bescheiden und er selbst sehr genügsam. Er kleidete sich nach alter Tradition und hielt sich streng an die Thora-Gesetze. Obwohl er selbst nie nach Israel gereist war, wurden dort im Namen von Chabad viele Städte und Zentren gegründet. Wie viele andere orthodoxe Juden war auch Schneerson gegen die säkulare Staatsform, weil dadurch eine völlige Thora-Observanz nicht möglich ist.

Auf die Frage, was ihn so besonders machte, gibt es verschiedene Antworten: Es war einerseits die Stärke und das Charisma seiner Persönlichkeit. Andererseits motivierte er die Leute sehr stark und brachte jeweils das Beste aus ihnen hervor (Fishkoff, S. 71). Der israelische Ministerpräsident Yitzhak Rabin sagte einmal: „It was the eyes of the rabbi that impressed me, the blue, penetrating eyes that express wisdom, awarness, and deep penetration“ (Fishkoff, S. 69). Nach seinem Tod kritisierten seine Gegner Schneersons aggressive Outreach-Kampagnen, seine Ablehnung gegenüber religiösem Pluralismus und den Personenkult, der sich schon zu Lebzeiten des Rebbe entwickelt hatte und nach seinem Tod in Extreme getrieben wurde (Fishkoff, S. 81).

Obwohl der Rebbe sehr traditionell lebte, lehnte er moderne Techniken, die der Bewegung bei der Verbreitung ihrer Botschaft helfen konnten, nicht ab. Er fand sogar eine gute Begründung für den Einsatz von Wissenschaft und Technik, nämlich dass dadurch gar göttliche Elemente aufgedeckt werden könnten. Diese Ambivalenz zwischen dem Festhalten an der Tradition und dem Annehmen moderner Hilfsmittel scheint auch heute noch ein typisches Merkmal von Chabad zu sein. Bezüglich Schneersons Einstellung zu Frauen antwortete mir Rabbi Rosenfeld, dass der Rebbe Frauen durchaus geschätzt habe. Schneerson sei aber davon ausgegangen, dass Frauen vermehrt emotionale anstelle von intellektuellen Fähigkeiten besässen. Die Aufgaben von Lubawitscher Vertreter (schlichim) wurden und werden aber von Frauen genauso ausgeführt wie von Männern, auch wenn die Arbeitsinhalte teilweise unterschiedlich sind. Genauso wie im übrigen orthodoxen Judentum sind die Frauen vorwiegend im häuslichen Rahmen anzutreffen. Obwohl der Rebbe selbst keine Kinder hatte, war ihm die Beziehung zu Kindern sehr wichtig.

Der Rebbe selbst hat keine Schriften oder Bücher hinterlassen. Seine Worte sind jedoch von zahlreichen Mitgliedern festgehalten worden, sodass heute in vielen Büchern nachgelesen werden kann, was er sagte. Sein grösstes Anliegen war, jeden Juden in der Welt zu erreichen und es ihm so einfach wie möglich zu machen, mehr im Sinne der Thora-Gesetze zu leben (Fishkoff, S. 55). Er ging davon aus, dass schon ein tägliches Mitzvah der Schlüssel sein könnte, um universelle Güte zu verbreiten und um auf diese Weise in das messianische Zeitalter hineinzuführen. Seiner Ansicht nach lohnt es sich, jeden einzelnen Juden dazu zu bringen, nach den jüdischen Gesetzen zu leben. Diese Ansicht widerspiegelt sich auch in der Aktivität der Bewegung. Gemäss Rabbi Rosenfeld (Chabad Zürich) geht es bei Chabad nicht nur darum, die Halacha einzuhalten, sondern durch die Beziehung zu Gott eine tiefere Bedeutung im Leben zu finden. Schneerson lehrte, dass die Hilfe gegenüber einem anderen Juden der reinste Weg sei, um die Liebe zu Gott auszudrücken (Fishkoff, S. 21).

5 Erlösungslehren und Messias-Vorstellungen
In diesem Kapitel werden die Erlösungslehren von Schneerson näher betrachtet. Seine Überzeugung, die Ankunft des Messias werde noch in seiner Generation erwartet, übt immer noch einen starken Einfluss auf die Bewegung aus. Innerhalb von Chabad existieren unterschiedliche Meinungen darüber, ob der Rebbe nun der erwartete Messias sei oder nicht. Die verschiedenen Auffassungen belasten Chabad bis heute.
5.1 Die Erlösungslehren von Schneerson
Der Messianismus, d.h. die Erwartung auf das konkrete Eingreifen göttlicher Mächte in den Ablauf der Welt durch die historische Erlöserpersönlichkeit des Messias (der Gesalbte) hat seinen religionsgeschichtlichen Ausgangspunkt im Judentum (Levinson, S. 14ff). Der Ursprung des messianischen Begriffs findet sich in der Bibel im 3. Buch Mose. Dort bezieht er sich auf den gesalbten Priester. Die Texte der hebräischen Bibel zeigen, wie verschieden die Anschauungen bezüglich eines Messias schon früher waren. Gemäss den biblischen Texten ist ersichtlich, dass der Messias nicht als der Heiland angesehen wird, der die einzelnen Seelen erlöst, sondern als guter Herrscher, der für Gerechtigkeit in der Gesellschaft sorgt und Frieden zwischen den Völkern stiftet. Er ist nicht nur der Erlöser Israels, sondern seine Botschaft wendet sich an alle Menschen. Wichtig ist, dass der zu erwartende Friede nicht einfach ein Werk Gottes ist, sondern dass es dazu auch der Anstrengung der Menschen bedarf.
5.1.1 Dichotomisches Denken als Ursache der Trennung von Gott
Seit dem Amtsantritt im Jahre 1951 fokussierte Schneerson auf die Endzeit- sowie Messiaserwartung. Seine Erlösungslehre beinhaltet verschiedene Stadien des Erlösungsprozesses. Grundlegend ist, dass das menschliche Dasein von einer dreifachen Dichotomie-Erfahrung geprägt ist: Der Kosmos zeigt sich dem Menschen als Dualität von Welt und Gott. Die Welt wiederum erfährt der Mensch als Dualität von Materie und Geist. Der Mensch selbst unterliegt der Zweiteilung von Körper und Seele. Kann der Mensch dieses Denken in Dichotomien überwinden, so hebt er damit zugleich den Unheilszustand auf. Das dreifach dichotomische Denken und die dadurch bedingte dreifache Entfernung des Menschen zu Gott sieht Schneerson in Parallele zur geschichtlichen Exilserfahrung. Er unterscheidet zwei Formen des Exils: Der menschliche Körper befindet sich im „state of exile“ (Schneerson, 1994, S. 5), deswegen muss der Körper erlöst werden. Die menschliche Seele hingegen ist „an actual part of G-d above“ (Schneerson, 1994, S. 7). Sie bleibt auch dann Teil Gottes, wenn sie sich in einem Körper aufhält, der sich im Status des Exils befindet. Als Teil Gottes kann die Seele nicht in den Status des Exils geraten, sondern lediglich in den „place of exile“ (Schneerson, 1994, S. 8). Das Heilsziel der Seele besteht somit nicht in der Erlösung, sondern in der Umkehr (Müller, S. 51). Das Heilsziel liegt in der Aufhebung des Exilszustandes, dem Ende der Trennung von Gott. Dann bildet der Mensch eine Einheit mit Gott, ohne Gott gleich zu werden oder mit diesem zu verschmelzen (Jacobson, S. 237).
5.1.2 Stadien des Erlösungsprozesses
Der Rebbe unterscheidet zwei Stadien des Erlösungsprozesses. Während sich der erste Teil des Geschehens innerhalb der Geschichte und strikt innerhalb der natürlichen physischen Weltordnung abspielt, werden im zweiten und endgültigen Abschnitt alle Begrenzungen und Dichotomie-Erfahrungen aufgehoben.
5.1.2.1 Das erste Stadium des Erlösungsprozesses: Die Ära des Messias
Das jüdische Volk ist in alle Welt exiliert und lebt unter fremden, nicht-jüdischen Staatsformen und Gesetzen (Müller, S. 52). Auch in Israel ist eine volle Thora-Obervanz nicht möglich, da es hierzu des Tempeldienstes bedarf. Der Messias verändert diese Situation: Er ermöglicht die volle Obersvanz der religiösen Gesetzgebung. Weil der Messias nicht nur die natürliche, gottgewollte Ordnung wieder einsetzt, sondern die Juden auch vor allen Unruhen und Unterdrückungen schützt, können sich die Juden vollkommen dem Thora-Studium sowie einem Leben gemäss der Gesetze widmen. Damit führt der Messias die Juden und die gesamte Welt auf eine höhere Daseinsform. Schneerson sagte dazu: „while the natural order of the world prevails, the Jewish people and the word at large will be elevated to a perfect state of knowledge and practice. This ist the purpose of Mashiach’s coming” (Schneerson, 1992, S. 60). Der Messias braucht keinerlei übernatürliche Kräfte zur Ausübung seines Amtes, Wundertaten widersprechen gar den Charakteristika des Messias. Deshalb bedingt die Auferstehung der Toten, welche die weltlichen Gesetzmässigkeiten eindeutig sprengt, ein zweites, auf die Ära des Messias folgendes Erlösungsstadium. Schneerson stellt sich in seiner Darstellung der Lehre um den Messias und das messianische Reich hinter die Lehre des Maimonides (2). So übernimmt Schneerson auch die Liste der Charakteristika und Aufgaben des Messias von Maimonides: Der Messias ist Nachkomme Davids; er hat die Thora studiert und befolgt die Gesetze; er leitet alle Juden zu einem Leben gemäss der Thora-Gesetzgebung an; er führt den endzeitlichen Krieg Gog gegen Magog. Zudem sammelt er die Exilierten ein, führt sie nach Israel und errichtet dort den Tempel wieder (Müller, S. 53ff).

Der Rebbe charakterisiert die Ära des Messias als eine Zeit der Befreiung. Letztlich erwartet Schneerson in dieser Ära ein Offenbarungsereignis. Den Anbruch des messianischen Reiches erwartet Schneerson nicht als ein plötzliches Ereignis, sondern als prozesshaft verlaufend. Es sind die guten Taten der Menschen, welche diesen Prozess seinem Ende entgegenführen. Es ist zwar der Messias, der das messianische Reich herbeiführt, aber es sind die Juden, welche mit ihren Taten den Messias herbeiführen.

Diese Anschauung scheint innerhalb von Chabad tief verankert zu sein, wie wir am Beispiel der Outreach-Arbeit sehen.

5.1.2.2 Ein Zwischenstadium im Erlösungsprozess: Der Gan Eden
Den Gan Eden (Garten Eden) sieht Schneerson als eine individuelle Zwischenstation im Erlösungsprozess. Er ist das Reich der Verstorbenen. Bricht die Auferstehung der Toten an, verlassen die Verstorbenen den Gan Eden wieder. Der Übergang in den Gan Eden steht gemäss dem Rebbe nicht allen Juden offen, sondern ist als Belohnung für das Verhalten im irdischen Leben anzusehen. Weil die Seele im Gan Eden von den Begrenzungen des Körpers befreit ist, steht ihr ein stufenweiser Aufstieg auf eine unendliche Anzahl von Ebenen spirituellen Wissens offen. Durch die zunehmende Selbstauslöschung der Seele findet gleichzeitig eine zunehmende Offenbarung des Or En Sof (3) statt. Dem Gan Eden fehlt die Dimension des Körperlichen. Deswegen steht er unter der Ära der Auferstehung – und auch unter der Ära des Messias: Das letzte Erlösungsziel ist mit dem Aufenthalt im Gan Eden somit noch nicht erreicht (Müller, S. 54ff).
5.1.2.3 Das zweite Stadium des Erlösungsprozesses: Die Ära der Auferstehung
Erst mit der Auferstehung erreicht die Erlösungslehre von Schneerson ihr zweites Stadium und damit das Ziel. Die Auferstehung bricht nach der Ära des Messias an. Der Messias muss erst alle ihm zugewiesenen Aufgaben erfüllt haben. Im Gegensatz zum Gan Eden werden an der Auferstehung alle Juden Anteil haben. Müller (S. 55) erläutert weiter, dass die Aufnahme in den Gan Eden als Belohnung für das Thora-Studium gilt, während die Auferstehung von den Taten der Juden abhängt, insbesondere von der Observanz der Mizwot.

Es erstaunt daher nicht, dass die Befolgung der Mizwot für die Chabad-Mitglieder im Zentrum steht. Dies kommt in der Outreach-Arbeit sehr stark zum Ausdruck, wenn die Schlichim mit ihren Mizwot-Tanks durch die Gegend ziehen.

Während der Seele im Gan Eden bereits der Or En Sof offenbart wurde, so zeigt sich dem Körper und der Seele in der Ära der Auferstehung „the essence of the Or En Sof“ (Schneerson, 1994). In der Offenbarung des Or En Sof liegt letzlich die Aufhebung des Unheilszustandes in der Welt, nämlich die Aufhebung jeglicher Unterscheidbarkeit von Gott, die Aufhebung der Dichotomie-Erfahrung (Müller, S. 56).

5.1.2.4 Schneersons Lehre und die Gegenwart
Der Glaube an die bevorstehende Ankunft des Messias ist durch Maimonides kodifiziert und damit für das orthodoxe Judentum verbindlich. Schneerson betrachtet die Ära des Messias bereits als angebrochen. Die Generation des Lubawitscher Rebben ist die letzte Generation des Exils und die erste Generation der Erlösung. Schneersons Naherwartung basiert auf der Betrachtung und Interpretation der jüdischen Geschichte. Dabei spielt die Zahl Sieben die entscheidende Rolle. Schneerson selbst in der siebte Rebbe innerhalb der Chabad-Dynastie. Was Schneur Zalman, der Begründer von Chabad begonnen hat, nämlich die Essenz der Schechina (4) auf die Erde zurückzuholen, muss Schneerson nun als siebter Rebbe vollenden (Müller, S. 57).
5.1.2.5 Die tikkun-Lehre nach Schneerson
Die Erwartung des Messias und die Ära der Auferstehung bilden nur eine Komponente der eschatologischen Lehren Schneersons. Deren zweite Komponente basiert auf einer Vorstellung der lurianischen (5) Kabbala, den tikkun. Die tikkun-Lehre ersetzt die Messias-Erwartung. Der Messias spielt keine aktive Rolle; sein Erscheinen zeigt lediglich den Abschluss des tikkun-Prozesses an. Durch ein Leben gemäss der schriftlichen und mündlichen Thora führen die Menschen die Erlösung selbständig herbei. Der Rebbe kombiniert die beiden Vorstellungen (tikkun und Messiansismus): Der tikkun wird zur Voraussetzung für den Ausbruch der messianischen Zeit. Wichtig ist die Ansicht, dass die Erlösung zwar durch den Messias durchgeführt wird, herbeigeführt wird der Messias jedoch durch die vorbereitenden Taten der Menschen. Schneerson sieht sich und seine Generation in der Zeit des Übergangs zwischen der Herbei- und der darauf folgenden Durchführung der Erlösung. Dieser Übergang erscheint bei Schneerson nicht als Schnitt, sondern als Schnittmenge: In der letzten Phase des tikkun-Prozesses sind bereits Anzeichen der messianischen Erlösung zu erkennen; der Messias hat sich jedoch noch nicht offenbart. Umgekehrt zeigt sich diese Übergangszeit zwar für die Erlösung durch den Messias überaus empfänglich, verlangt aber dennoch zuerst den Abschluss des tikkun (Müller, S. 59ff).
5.2 Der Rebbe als Messias
Die Möglichkeit der Zugehörigkeit zu beiden Stufen der Erlösung (tikkun und Messiansmus) führt in Teilen der Chabad-Bewegung zu der Überzeugung, dass der Messias bereits anwesend sei, sich aber in seiner Funktion noch nicht geoffenbart habe. Von dieser Vorstellung aus ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zu der Überzeugung, der Rebbe selbst sei der Messias (Müller, S. 62). Bis heute ist ein Teil der Bewegung überzeugt, dass Schneerson der Messias ist. Dieser Umstand verursachte innerhalb der Bewegung grosse Probleme und Auseinandersetzungen, da die nach dem Tode des Rebbe verantwortliche Führerschaft der Meinung war, man solle dieses Thema nicht öffentlich machen, weil niemand genau wissen könne, was nun wirklich stimme.

Wie wir im obigen Kapitel gesehen haben, waren die Erlösungslehren für Schneerson ein zentrales Thema.

Der Glaube, dass ein Abkömmling des Geschlechts Davids das jüdische Volk aus dem Exil ins heilige Land führen wird in ein Zeitalter des Friedens und der Gerechtigkeit gehört zu den fundamentalen Lehren des orthodoxen Judentums (Fishkoff, 2003). Eine der dreizehn Glaubenssätze von Maimonides ist der Glaube an das Kommen des Messias. Der Glaube an das Kommen eines Messias gehört zu den Ecksteinen der Chabad-Lehre und beeinflusst die sogenannte Outreach-Arbeit sehr stark: Wenn das Ziel eines jüdischen Lebens darin besteht, alles nur Mögliche dafür zu tun, um das Kommen des Messias zu fördern, dann wird die Ermutigung anderer, die jüdischen Gesetze zu befolgen und Gutes zu tun, zu einer göttlich verfügten Aktivität. Die Lubawitscher selbst leben streng nach der Halacha, dem jüdischen Gesetz, um die Wahrscheinlichkeit der messianischen Zeit zu erhöhen.

Weshalb sind einige Mitglieder von Chabad auch nach dem Tode des Rebbe überzeugt, er sei der Messias? Ich habe diese Frage auch Rabbi Rosenfeld (Chabad Zürich) gestellt. Er antwortete mir dem Sinn nach, dass der Rebbe durchaus zu den möglichen Kandidaten gehört habe, welche bestimmte Voraussetzungen erfüllen müssen, um als Messias in Frage zu kommen. Schneerson war sehr charismatisch, ein grosser Gelehrter und starker Führer. Ausserdem werden ihm verschiedene Wundertaten nachgesagt (Fishkoff, 2003). Einerseits scheint die Persönlichkeit des Rebbe dazu beigetragen zu habe, dass viele in ihm den Messias sahen. Andererseits unterhielt er sehr nahe Beziehungen zu seinen Mitgliedern. Er hat sich sehr stark um die Menschen gekümmert und ihnen Ratschläge erteilt, sowohl persönlich als auch schriftlich. Nachdem der Rebbe nach einem Schlaganfall 1992 nicht mehr sprechen konnte, wurde die messianische Interessengruppe sehr aktiv (Fishkoff, S. 265). Hierbei dürften verschiedene psychologische Elemente mitgespielt haben: Die Menschen hatten Angst, ihn zu verlieren und ohne seine Führung weiterzuleben. Indem sie ihn zum Messias erklärten, nährten sie ihre eigenen Hoffnungen, er möge sie nach seinem Tod nicht einfach verlassen. Da die Lubawitsch Bewegung niemanden ausschliesst, dürften sich in dieser Bewegung auch viele unsichere und ängstliche Menschen finden, die den Halt eines Führers suchen. Schneerson selbst wollte zwar nicht als Messias gesehen werden, aber er wehrte sich auch nicht so klar dagegen, wie er es hätte tun können. Viele fragten sich, weshalb er nicht selbst einen endgültigen Stopp gegenüber dem keimenden Messianismus gesetzt hatte. Einige verliessen deswegen sogar die Bewegung. Andere wiederum nahmen ihn mit den Argumenten in Schutz, dass er gar nicht mehr in der Lage war, dies selbst zu tun.

Die messianischen Anhänger wollten 1993 sogar in einem Medienereignis das Erscheinen des Messias (Schneerson) weltweit übertragen. Der Rebbe zeigte sich zwar kurz den Massen seiner vor Begeisterung singenden und tanzenden Anhänger, aber von einer messianischen Inthronisation konnte keine Rede sein (Müller, S. 62; Levinson, S. 118). Nach seinem Tod 1994 ging eine Schockwelle durch die Bewegung. Einige waren überzeugt, dass er sich nun als Messias preisgeben würde, obwohl die Auferstehung nach dem Tod nicht zu den Grundzügen des Messiasglaubens gehört. Die messianischen Anhänger verwiesen auf alte jüdische Quellen, die den Hinweis geben, dass der Messias auferstehen könne. Diese unterschiedlichen Ansichten sind bis heute Streitpunkte in der Bewegung. Rabbi Rosenfeld sagt dazu, dass sie es ganz einfach nicht wissen und sich deshalb auf die Frage, ob er nun Messias sein könnte oder nicht, eine Antwort schenken. Das zentrale Komitee der Chabad-Lubawitsch Rabbiner gab 1998 das folgende Statement ab (Fishkoff, S.268):

„Belief in the coming of the Moshiach and awaiting his imminent arrival is basic tenet of the Jewish faith. It is clear, however, that conjecture as to the possible identiy of Moshiach is not part of the basic tenet of Judaism…The preoccupation with identifying the Rebbe as Moshiach is clearly contrary to the Rebbe’s wishes”.

Die meisten Schlichim reagierten nach seinem Tod dahingehend, dass sie noch mehr Effort in die Outreach-Arbeit gaben. Es schien, als wollten viele ihren Kummer in der Arbeit ersticken. Ein Schliach erklärte, dass nach dem Tod des Rebbe der Wunsch aufkam, mehr zu tun. „It’s like a child, when a parent dies. You want to do what he wanted” (Fishkoff, S. 270). Diese Aussage scheint mir insofern interessant, als das sie aufzeigt, wie nahe sich viele dem Rebbe gefühlt haben. Gleichzeitig könnte darin auch ein Abhängigkeitsverhältnis zum Ausdruck kommen. Obwohl einige Mitglieder sehr stark vom Rebbe abhängig waren und vielleicht immer noch sind, konnte sich Chabad innerhalb der letzten zehn Jahre, d.h. seit dem Tod von Schneerson, weiter vergrössern. Fest steht, dass die Bewegung bezüglich der Messiasfrage bis heute gespalten ist, obwohl die Anzahl der Messianisten stetig abnimmt. Schneersons ehemalige Synagoge in Brooklyn ist fest in den Händen der Messianisten, was viele Chabadniks, die Schneerson nicht als Messias sehen, beunruhigt oder gar verärgert. Gemäss Fishkoff (S. 274) ist es unklar, wie tief bzw. verbreitet der Chabad-Messianismus tatsächlich ist.

Obwohl die Frage bezüglich Messias unbeantwortet bleibt, ist offensichtlich, dass innerhalb der Chabad Bewegung ein enormer Personenkult betrieben wird. Dieser Personenkult hatte sich bereits zu Lebzeiten von Schneerson gebildet und wurde seit seinem Tod weiter verstärkt. Seit 1994 wird alles von ihm gesammelt, übersetzt, gedruckt und verteilt. Dies scheint für Chabad der einzige Weg zu sein, das Erbe vom Rebbe an die jüdische Welt und die eigenen Kinder weiterzugeben (Fishkoff, S. 277). Auch heute noch schreiben viele Mitglieder Briefe an den Rebbe und bringen sie zu seinem Grab. Bilder von Schneerson sind allgegenwärtig. Wie bereits erwähnt, kenn Chabad im Gegensatz zu anderen chassidischen Gruppen keine Berührungsängste, was moderne Technologien wie Video, Radio, TV und Internet betrifft. Die Internetpräsenz von Chabad ist enorm. Dass sie sich für ihre eigenen Zwecke der modernen Hilfsmittel bedienen und gleichzeitig an den alten Traditionen festhalten, zeigt einerseits eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit der Bewegung, andererseits aber eine Ambivalenz, die sich auch in der Person von Schneerson widerspiegelte (vgl. Kapitel 4.2). Die vom Lubawitsch Hauptquartier produzierten Bücher, Videos und Internetauftritte sind machtvolle Instrumente, um die Erinnerung an Schneerson und seine Botschaft aufrechtzuerhalten (Fishkoff, S. 284).

6 Lubawitsch heute
6.1 Aktivitäten und Organisation der Bewegung
Chabad zeichnet sich durch eine enorme Aktivität aus. Die sogenannte Outreach-Arbeit ist das Kernkonzept der Bewegung. Die Outreach-Arbeit wird zum grössten Teil von Schlichim-Paaren ausgeführt. Die meisten der jungen, meist frisch verheirateten Paare konnten schon während ihrer Schulzeit die ersten Erfahrungen bezüglich Outreach-Arbeit sammeln. Es war 1967, als der Rebbe Juden auf der ganzen Welt darum bat, täglich mit einer Tefillin (6) zu beten, um Israel auf diese Weise während des Sechs-Tage-Krieges zu schützen (Fishkoff, S. 49). Diese Kampagne war die erste von zehn wichtigen „Mitzvah Kampagnen“, die Schneerson zwischen 1967 und 1976 einführte, um die Outreach-Arbeit zu intensivieren. Auch heute noch führen Schüler der Chabad Bewegung am Freitagnachmittag Tefillin-Kampagnen durch. Jedem Schüler werden bestimmte Strassen oder Geschäftshäuser zugeteilt, sodass jeder Schüler in seinem Revier in einem ersten Schritt versucht, Juden ausfindig zu machen und diese dann in einem zweiten Schritt überzeugt, mit einem Tefillin zu beten. Schneersons Ansicht, dass bereits eine Mitzvah täglich etwas bewirken kann (vielleicht sogar das messianische Zeitalter herbeiführen) und dass eine Mitzvah ein heiliger Akt darstellt, „ worth doing for any reason“ (Fishkoff, S. 49) gibt der Outreach Arbeit als theologische Untermauerung eine spezielle Dringlichkeit.

Als Maxime für die Outreach Arbeit gilt: Mach es einem Juden so einfach wie möglich, jüdischer zu leben. Wenn jemand keine Kerzen hat, werden von Chabad welche geschenkt. Zusätzlich wird noch erklärt, welche Gebete beim Anzünden gesprochen werden. Lubawitsch sieht sich als Brücke zwischen observanten und nicht-observanten Juden (Fishkoff, S. 55).

Für viele Paare ist die Arbeit als Schlichim das grösste Ziel bzw. der innigste Wunsch. Es ist ein aussergewöhnliches Phänomen und typisch für Chabad, dass auch heute noch eine ganze Generation junger Menschen ihr Leben dafür spenden will, anderen das Judentum näher zu bringen. Das Leben der Schlichim-Paare ist einfach und die finanziellen Mittel oft sehr bescheiden. Da heute vielerorts bereits Chabad-Zentren aufgebaut sind, werden Schlichim-Paare auch dorthin geschickt, wo bereits erfolgreich ein Chabad-Betrieb läuft (Fishkoff, S. 112). Erfolgreiche Arbeit wird der Kraft des Rebbe zugesprochen. Viele Chabad Schlichim sprechen davon, dass der Rebbe durch sie arbeitet. Sie sind davon überzeugt, dass es der Rebbe ist, der auf die Menschen wirkt (Fishkoff, S. 58). Auch die Schüler, die jeweils am Freitag die Outreach-Arbeit machen, fühlen sich dem Rebbe verpflichtet. Sie sind überzeugt, dass der Rebbe sie beobachtet (Fishkoff, S. 63).

Seit Schneersons Tod existiert unter den jungen Chabad-Paaren ein enorm starker Wunsch, als Schlichim irgendwohin zu gehen und dort im Namen von Chabad zu arbeiten. In dieser Aufgabe sehen sie eine Möglichkeit, die Arbeit des Rebbe weiterzuführen (Fishkoff, S. 116).

6.2 Zukunftsaussichten
Der Rebbe starb vor 10 Jahren. Er hatte während seiner 44-jährigen Führerschaft erreicht, dass sich die ehemals kleine Chabad-Bewegung zu einer weltweiten Bewegung mit über 200’000 Mitgliedern entwickelte. In den letzten zehn Jahren ist die Infrastruktur von Chabad mehr gewachsen als während seiner Lebenszeit. Im Jahr 2000 sind beispielsweise 51 neue Chabad Einrichtungen alleine in Kalifornien gegründet worden (Fishkoff, S. 12). Weltweit gibt es heute mehr als 1400 Chabad-Institutionen – Synagogen, Schulen, Camps und Begegnungszentren – in 35 Ländern auf 6 Kontinenten (www.chabad.de).

Die jährlichen Betriebskosten des Chabad-Empiriums liegen heute bei fast einer Milliarde $. Alleine in der ehemaligen Sowjet Union ist die Expansion von Chabad erstaunlich: Während die Bewegung 1994 in acht russischen Städten vertreten war, sind es Anfang 2002 bereits 61 Städte in Russland und den umliegenden Staaten, in denen Chabad-Zentren zu finden sind (Fishkoff, S. 13). Diese Zahlen zeigen, dass die Aktivität der Bewegung durch den Tod von Schneerson keineswegs abgenommen hat. Die Erinnerung an den siebten Rebbe wird mittels Bücher, Videos und Internet so stark aufrecht erhalten, dass seine Präsenz für viele noch spürbar ist. Gemäss Rabbi Rosenfeld (Chabad Zürich) sieht es nicht so aus, als würde es einen achten Rebbe geben, weil niemand in der Bewegung dafür in Frage kommt. Es scheint auch gar kein Bedürfnis nach einem neuen Führer vorhanden zu sein.

Auch ein Jahrzehnt nach dem Hinschied des Rebbe verfolgen die Chabad-Mitglieder das von Schneerson formulierte Ziel, jeden Juden in der Welt zu erreichen. Was ist der Schlüssel zum Erfolg? Chabad hat Geld. Das meiste davon wird von Juden gespendet, die nicht orthodox sind. Chabad hat eine ausgezeichnete Infrastruktur. Chabad hat eine faszinierende Theologie, eine Interpretation der Realität, basierend auf der Kabbala und der jüdischen Mystik, die viele intellektuell und spirituell überzeugend finden. Ein sehr wichtiger Punkt ist, dass die Lubawitscher sehr anpassungsfähig sind. Mehr als jede andere chassidische Bewegung ist Chabad fähig und auch bereit, die politischen und technischen Instrumente des 20. Jahrhunderts zu benutzen, um ihre Sache bzw. ihr Anliegen und ihre Ziele voranzutreiben (Fishkoff, S. 14).

Der wichtigste Schlüssel zum Erfolg sind jedoch die Schlichm – Tausende von idealistischen jungen Frauen und Männer, die bereit sind, ihre Heimat zu verlassen, um irgendwo in der Welt ein Chabad-Zentrum zu gründen und den Menschen die jüdischen Gesetze näher zu bringen. Sie entscheiden sich für diese Arbeit, weil der Rebbe es so möchte (Fishkoff, S. 15).

Auf meine Frage, wie die Zukunft von Chabad aussieht, antwortete mir Rabbi Rosenfeld, ich solle einfach die letzten zehn Jahre anschauen. Ob es jemals einen neuen Rebbe geben wird, bleibt offen. Auch die Frage, ob die Mystik und die Philosophie von Chabad auch künftig öffentliche Aufmerksamkeit erregen und ausserhalb der Bewegung stehende Juden anziehen wird, bleibt offen. Chabad wird sich aber sehr wahrscheinlich in Russland, der Ukraine und in den übrigen Ländern innerhalb der jüdischen Welt weiterhin gut behaupten können.

„Or perhaps Moshiach will come, and render all question moot“ (Fishkoff, S. 321).

7 Anmerkungen
1. Schliach (Singular), Schlichim (Plural) bedeutet Gesandter oder Vertreter.

2. Maimonides (1135-1204), jüdischer Philosoph, formulierte die dreizehn Glaubensgrundsätze, die als jüdisches Glaubensbekenntnis gelten.

3. „Licht des En Sof“, kabbalistischer Terminus, etwa: „Licht des Unbegrenzten“, also Licht Gottes. Der En Sof, das Unbegrenzte, gilt in der Kabbala als ursprüngliche Seinsform Gottes vor Beginn der Schöpfung.

4. Schechina bedeutet „göttliche Gegenwart“ oder auch die „Herrlichkeit Gottes“.

5. Gemäss Isaak Luria (1534-1572) stellt die Vermischung von göttlichen und irdischen Elementen eine „Schöpfungspanne“ dar. Der tikkun als die Herauslösung und Rückführung der göttlichen Elemente hebt diesen Schöpfungsfehler auf. Die Erlösung der Welt liegt im Abschluss des tikkun-Prozesses.

6. Die Tefillin sind zwei an einem Riemen befestigte Lederkapseln, die vier biblische Texte enthalten. Zusammen mit dem Tallit, dem Gebetsschal, wird die Tefillin bei bestimmten Gebeten getragen.

8 Literaturverzeichnis
Bücher:

Encyclopaedia Judaica (1971). Volume 11. Jerusalem: Keter Publishing House Ltd.

Fishkoff, S. (2003). The Rebbe’s Army. Inside The World of Chabad-Lubavitch. New York: Schocken Books.

Freeman, T. (1999). Dem Himmel auf die Erde bringen. Die Weisheit des Rabbi Schneerson aus New York. Wien: O. W. Barth.

Hoffman, E. (1991). Despite All Odds. The Story of Lubavitch. New York: Simon & Schuster.

Jacobson, S. (1995). The wisdom of the Rebbe Menachem Mendel Schneerson. Toward a meaningful life. New York: William Morrow and Company.

Levinson, N.P. (1994). Der Messias. Stuttgart : Kreuz.

Metz, W. (2003). Handbuch Weltreligionen. Eine umfassende Einführung in Gedanken und Riten der Weltreligionen. Wuppertal: Brockhaus.

Rosenthal, G.S. & Homolka, W. (1999). Das Judentum hat viele Gesichter. Die religiösen Strömungen der Gegenwart. München: Knesebeck.

Schneerson, M.M. (1992) in: U. Kaploun (Hg.). I Await His Coming Every Day. Analytical Studies by the Lubavitcher Rebbe, Rabbi Menachem Mendel Schneerson Shlita of the Rambam’s Rulings on Mashaich and the Ultimate Redemption. Brooklyn (New York).

Schneerson, M.M. (1994). Anticipating the redemption. Maarim of the Lubavitcher Rebbe Rabbi Menachem Mendel Schneerson Shlita concering the Era of Redemption. Brooklyn (New York).

Solomon, N. (1999). Judentum. Eine kurze Einführung. Stuttgart: Reclam.

Internet:

www.chabad.org
www.encyclopedia.thefreedictionary.com
www.lubavitch.com

Zeitschriften:

Müller, R. (1998). „Maschiach achschaw!“ – Die Erlösungslehren von Menachem Mendel Schneerson. Zeitschrift für Religionswissenschaft, 98, (1), S. 47-63.

Ich danke Rabbi Mendel Rosenfeld von Chabad Zürich und Herrn Michel Bollag für die interessanten und lehrreichen Gespräche.

Gabriela Nietlisbach, 2004
Letzte Aenderung 2004, © gn 2004, Infostelle 2000
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