Im Frühjahr 1988 trat die Michaelsvereinigung in Dozwil im Thurgau am Bodensee mit ihren apokalyptischen Botschaften vom nahe bevorstehenden Weltende an die Oeffentlichkeit. Eine durch die Sensationspresse hochgespielte Kampagne in diesen Wochen führte dazu, dass diese Bewegung, die zehn Jahre nach diesem Ereignis immer noch circa 4 000 Anhänger aus der Schweiz, aus Deutschland und Oesterreich umfasst, über die Grenze der Schweiz hinaus bekannt wurde. Auf den Muttertag am 8. Mai 1988 hin spitzte sich die Situation zu. An diesem Termin sollte nach verschiedensten Aussagen - zunächst unwidersprochen durch den religiösen Leiter Paul Kuhn oder seine Führungscrew - der "Weltuntergang" stattfinden. Nachdem der 8. Mai - durch Krawalle in Dozwil bestimmt - vorübergegangen war, trat nach einer Autoritätskrise der prophetischen Stimmen, unter denen zum Teil falsche Prophetinnen erkannt wurden, und der Uminterpretation des Ereignisses vom Mai 1988 seit 1992 eine Konsolidierungs- und neue Missionsphase ein, die bis heute anhält.
Nach dem Tod des Mediums Maria Gallati am 16. Januar 1988 fand eine Neuentwicklung der Gemeinschaft, die sich um Paul Kuhn und Maria Gallati geschart hatte, statt. Um nicht orientierungslos zu sein, suchte man neue "Werkzeuge", durch die der Himmel seine Mitteilungen weitergab, und fand recht rasch mehrere geeignete Personen. Besondere Bedeutung kam Monika Hofer aus Aurach/Bayern zu, die bereits vor dem Tod von Maria Gallati mit der Michaelsvereinigung Kontakt hatte.
Daneben nahm und nimmt gegenwärtig Ulrich Aeberhard, Musiklehrer aus Olten, als "Matthäus" die zentrale Rolle in der Dozwiler Gemeinschaft ein. Von ihm sagt Paul Kuhn, dass er "nicht ein Sprechwerkzeug im Sinne Marias (Gallatis sei). Er besitzt die andere Gabe, dass er geschrieben wird von Heiligen Geistern Gottes" (Benedicite 1991).
(Eine andere, parapsychologische Erklärung zu diesem Phänomen: Automatisches Schreiben stellt sich bei herabgesetzter Bewusstseinstätigkeit (z.B. durch Meditation oder in Trance) ein. Der Automatist schreibt unwillkürlich, häufig zwanghaft; der Sinngehalt des geschriebenen Textes erscheint ihm dabei persönlichkeitsfremd, von aussen gegeben. Zum besseren Verständnis eine Situation aus dem Alltag: bei längeren Telefonaten kritzelt man öfters auf den bereitgelegten Notizzettel, obwohl man voll auf das Gespräch konzentriert ist. So können Botschaften aus dem Unterbewusstsein entstehen und transportiert und Telefongespräche "kommentiert" werden.)
Vom März bis April 1988 wurden durch Anhänger Paul Kuhns fünf Privatoffenbarungen verteilt (eine weitere Anzahl solcher Botschaften wurde seit Januar 1988 der Michaelsvereinigung offenbart), die einen unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang ankündigten. Die durch verschiedene Medien vermittelten Botschaften enthielten Bilder und Vorstellungen, die an religiöse Schreckensvisionen erinnerten. Oder waren es die Schriften des Ufologen und Umweltschützers Franz Weber, die im Frühjahr 1988 von einer Rettungsaktion Ausserirdischer berichteten, die in diesen Visionen aufgegriffen wurden? Ein Text, der viel Verwirrung, aber auch Angst gestiftet hat, soll hier als Beispiel dienen:
Durch die Presse wurden diese apokalyptischen Botschaften - zum Teil in aggressiver Weite - in die Oeffentlichkeit übermittelt. Es kam zu immer grösseren Spannungen im Dorf Dozwil und der umliegenden Region des Bodensees. Der Muttertag als Datum des bevorstehenden Weltuntergangs wurde bekannt. Paul Kuhn distanzierte sich erst am 7. Mai vom Zeitpunkt des "Weltuntergangs" durch eine Presseerklärung. So kam es am 7./8. Mai 1988 zu Ausschreitungen und Krawallen in Dozwil.
Spürbar wurden vor und bei diesem Ausbruch wie auch in der Zeit danach die sozialen Spannungen, in die Menschen, die nach den "Botschaften des Himmels" wie in einer Arche Noah leben, mit ihrer Umwelt kommen. Spaltungen von Familien, Auseinandersetzungen in der Schule und am Arbeitsplatz oder die Angst, zum "Sektendorf" zu werden und das daraus resultierende persönliche, gesellschaftliche wie politische Engagement waren die Folgen. Gerichtliche Nachspiele mit Gegnern der Michaelsvereinigung waren spürbare Nachwehen. Ehemalige Anhänger, die sich nach dem 8. Mai von der Michaelsvereinigung trennten, berichteten von ihren grossen Aengsten und dem seelischen Druck, der z.T. bis heute anhält und seelsorgerliche Hilfe, aber auch psychotherapeutische Beratung und Begleitung nötig machte.
Deutlich ist heute noch der Wille von Paul Kuhn und seiner Glaubensgemeinschaft zu spüren, weiterhin den eingeschlagenen Missionskurs zu steuern, sowie die feststellbare Tendenz, das Lehrgebäude der durch "Werkzeuge" übermittelten Botschaften, aber auch die Strukturen und die Praxis der Gemeinschaft zu fundamentieren. Einführungskurse finden wieder statt, neue Botschaften aus dem Jenseits - ob von den Erzengeln Michael, Raffael, Gabriel und Uriel (für Paul Kuhn ist es heute klar, dass dieser "Endzeit-Engel" in Maria Gallati wirkte, wie er in seiner "Einweihung" in Benedicite 1991 mitteilte), von Bruder Klaus oder gar der Gottesmutter Maria werden publik gemacht. Vor allem in den Jahren 1988 bis 1990 enthalten sie Aussagen, die das Frühjahr 1988 als Zeit der Scheidung zwischen Gläubigen und Ungläubigen interpretieren - ein Grundmuster apokalyptischer Gemeinschaften, wenn der Weltuntergang nicht stattfindet. Denn Zweifel kommen auf, das Verlassen zahlreicher Anhänger muss kommentiert werden. Ein Beispiel dazu:
Mahnrufe, Paul Kuhn und den damaligen "Werkzeugen" Ueli Aeberhard und Monika Hofer zu vertrauen, werden laut:
Die absolute Autorität von Paul Kuhn wir immer wieder herausgestrichen, seine Autorität durch die "himmlischen Autoritäten", ob Maria, Erzengel Uriel oder gar Jesus Christus selbst, fundamentiert; Kritik oder kritische Anfragen sind nicht zugelassen:
Ob dies der Grund war, dass Monika Hofer die Michaelsvereinigung anfangs der 90er Jahre verliess und ihren eigenen Weg als "Medium" ging, einen neuen Partner fand und eine neue Gemeinschaft mit neuen Anhängern gründete? In der Michaelsvereinigung gilt sie heute als "falsches Werkzeug"; Ueli Aeberhard ist heute das "Werkzeug", das "geschrieben wird von den Heiligen Geistern Gottes."
Neben der inneren Konsolididerung galt es für die Michaelsvereinigung nun auch, sich mit der Kritik der Landeskirchen auseinanderzusetzen. Werbend wie drohend wenden sich die "himmlischen Stimmen" in ihren Botschaften an die Schweizer Bischöfe und alle Pfarrämter in einem offenen Brief (15. Januar 1991):
Apokalyptisch drohend bleibt der Grundton dieser Botschaften, die mahnen und Menschen zur Entscheidung rufen. Auch an die Regierenden und Behörden wendet sich im Mai die Mitternachtsvereinigung mit einem Memorandum, um "wachzurütteln", um vorzubereiten, "ohne Angst die Zeit der Not" zu ertragen. Politisches Engagement wird gefordert.
Doch ein neues Datum gibt es für den Weltuntergang im Augenblick (noch) nicht, trotz deutlicher apokalyptischer Botschaften in den "himmlischen" Mitteilungen, die "Matthäus" niederschreibt und die bis vor kurzem im Benedicite - nunmehr eingestellt - veröffentlicht wurden. Noch heute lösen sie Aengste aus - nicht so sehr bei den Mitgliedern der Michaelsgemeinschaft, sondern bei deren Angehörigen, die einen "Weltuntergang" wie den der Sonnentempler auch bei den Menschen, die ihnen wichtig sind, befürchten und Rat und Hilfe bei Beratungsstellen suchen.
Joachim Müller, September 1998
zur Uebersicht St. Michaelsvereinigung
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