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Lass dich durchheiligen

Bemerkungen zu einer Versammlung des Evangelischen Brüdervereins

am Sonntag 15.Juli 2007 an der Gräbligasse 14 in 8001 Zürich

 

 

Schon im Treppenhaus empfängt den Besucher zarter Kirchengesang, drei oder vierstimmig, aber kein voller Klang. Der Versammlungsraum scheint an diesem strahlenden Sommersonntag nur spärlich besetzt zu sein. Und in der Tat: In dem mitsamt der grossen Empore für etwa 400 Besucher konzipierten Raum warten circa 25 zumeist ältere Leute auf den Beginn des Gottesdienstes.  

Links neben der Kanzel sitzen drei Älteste, die die Versammlungen leiten werden. Die zur Einstimmung gemeinsam und ohne Begleitung gesungenen Lieder werden von Anwesenden vorgeschlagen. Auch während der Versammlung wird gesungen, was Anwesende sich wünschen. Auch die einleitenden Gebete werden spontan von zwei Anwesenden von ihrem Platz aus frei formuliert. Zum Schluss des Gottesdienstes haben zwei andere die Chance, öffentlich zu beten. Beide Male betet zuerst ein Bruder, dann eine Schwester. Der Älteste, mit dem ich mich nach Schluss der Versammlung noch unterhalte, bestätigt, dass diese Gebete nicht mit den Betenden abgesprochen sind. Spontaneität und eine gewollter Mangel an liturgischer Strenge prägen - bei allem Gehorsam gegenüber dem eigenen Brauchtum - die gottesdienstliche Versammlung.  

Am deutlichsten fällt dieser bewusste Mangel am Ende der Versammlung auf, wo der Versammlungsleiter anstelle eines Segens nur der Versammlung zuruft: Gott befohlen und auf Wiedersehen. Auch liturgische Stille, ein gemeinsam gesprochenes Unser Vater, oder meditative Musik zur Einstimmung, nach den zwei Predigteilen oder zum Ausgang fehlen völlig. Der Brüderverein präsentiert sich als Grossfamilie, getragen von einem ausgeprägten Bibelgehorsam und einer vergleichsweise immer noch recht speziellen Sündenlehre und Moral, aber ansonsten möglichst ohne liturgisches Schnickschnack. Man ruft ich gegenseitig während der Versammlung auch Fragen zu, wie in einer unprätentiösen Vereinsversammlung. (Schliesslich ist der Brüderverein auch keine "Kirche" sondern bloss ein "Verein".)   

Normalerweise betritt einer der 20 in der Schweiz  hauptamtlich tätigen Evangelisten die Kanzel. Ihre theologische Vorbildung gleicht aber derjenigen der heute predigenden nebenberuflich tätigen Ältesten: Vor allem das Leben lehrt beide. Nur  relativ selten besuchten oder besuchen Evangelisten eine freikirchliche Bibelschule in der Schweiz oder in Deutschland. (Der Brüderverein selber unterhält keine eigenen Ausbildungsstätten für Evangelisten.) Heute predigen also zwei Älteste, beide Mitglieder des für die ganze Schweiz zuständigen, 200-köpfigen Brüderrats. Der erste Bruder zitiert zum Thema Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes ein gutes halbes Dutzend Bibelstellen, die er eine nach der andern mit persönlichen Bemerkungen ergänzt. Weil diese verschiedenen Bibelzitate das Thema Gehorsam gegenüber Gottes Willen in unterschiedlicher Weise ausweiten, wird seine Ansprache zur  bunten Sammlung biblisch begründbarer Ideen. Ein roter Faden, der sich durch seine längere Ansprache zieht, ist der Verweis auf Gedankensünden. Auf seine Gedankensünden gilt es zu achten und ihnen mit Hilfe des heiligen Geistes und des göttlichen Wortes zu wehren. Wer in Gedanken sündigt, sündigt auch bald in der Tat. Zusätzlich warnt der Bruder auch mehrmals vor dem Eigenwillen. Der Eigenwille trotzt dem göttlichen Willen. Es gilt, dem Willen Gottes zu gehorchen, und nicht der eigenen Genusssucht oder der eigenen Meinung oder dem nachzuhängen, was die vergängliche Welt anzubieten hat. Mehrfach werden wir aufgefordert, uns "durchheiligen" zu lassen. In dieser Formulierung steckt wahrscheinlich das aus der Geschichte des Brüdervereins bekannte Konzept eines sündlosen Christ-Seins oder doch eines Christ-Seins, das sich keiner Sünde mehr bewusst ist. Im erwähnten Gespräch mit einem Ältesten nach der Versammlung werde ich auf diese zweite Deutung der Sündlosigkeit verwiesen. Wer den Weg der Nachfolge und der Heiligung geht, ist sich mindestens phasenweise keiner Sünde mehr bewusst. Das heisst nicht, versichert mir der Älteste, dass er nachträglich doch noch hie und da erkennen muss, dass er trotz seiner angeblichen Sündlosigkeit immer noch in einer Sünde lebte. In jedem Fall aber scheint Sünde für den gläubigen Bruder und die gläubige Schwester im Brüderverein nur noch eine Art unnötiger Zwischenfall zu sein, der leider hie und da noch geschieht, der aber auch ganz ausbleiben kann. Im letzten Fall erleben dann Schwester und Bruder mit gutem Gewissen Sündlosigkeit.  

Der zweite Prediger befragt das "Unser Vater" im Blick auf das Thema der Versammlung "Gehorsam gegenüber Gottes Willen." Besonders aufschlussreich für den kritischen Zuhörer sind seine Ausführungen zur Bitte: "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern." Wie deutet heute eine Gemeinschaft, deren Mitglieder mindestens phasenweise bewusste Sündlosigkeit erreichen, diese doch allen Jüngern empfohlene Bitte? Der Redner macht es sich in diesem Gottesdienst einfach. Er sagt nichts zum ersten Teil der Bitte, der von der andauernden Sündengebundenheit der Jünger ausgeht. Er äussert sich nur zum zweiten Teil: Wenn wir anderen nicht vergeben, wird auch uns nicht vergeben.  

In den Predigten und noch verstärkt in den freien Gebeten und Liedern wird immer wieder auf Jesus Opfertod für unsere Schuld hingewiesen. Abgesehen von der postulierten "bewussten Sündlosigkeit" unterscheidet die in dieser Versammlung verkündete Lehre wenig von vielen anderen Varianten biblizistisch-evangelikaler Theologie. Was liegt da näher als die Frage an den Gesprächspartner am Schluss der Versammlung, warum der Brüderverein in der Evangelischen Allianz nicht mitwirke? Die Antwort kommt so rasch und in so vorgestanzter Form, dass ich mich frage, ob der Älteste seine Antwort noch wirklich reflektiert. Er behauptet, die evangelische Allianz sei mit der Ökumene liiert und die Ökumene führe zuletzt sowieso nur nach Rom. Ich versuche dem Gesprächspartner zum einen die evangelisch-landeskirchliche Sicht der praktizierten Ökumene und zum anderen die deutlichen Vorbehalte mancher Mitglieder der evangelischen Allianz gegenüber der Ökumene zu erläutern. Aber ich stosse auf Granit. Es ist, wie es ist. Die Allianz führt auch über kurz oder lang nach Rom. Basta.  

Ich frage mich, wie ich den Versammlungssaal verlasse, ob nicht doch noch ein anderer Grund den Brüderverein davon abhält, sich in die intensivere Begegnung mit anderen Freikirchen und mit der evangelischen Landeskirche hineinzubegeben. Vielleicht fühlt man sich zur Zeit dieser Begegnung in manchen Kreisen des Brüdervereins auch nicht oder noch nicht gewachsen. Im Vergleich mit Versammlungen des Brüdervereins sind die Gottesdienste anderer Freikirchen und nicht selten auch anderer landeskirchlicher Gemeinden fast grenzenlos attraktiv. Wie soll und wie kann man sich im bewusst konservativen, liturgisch kargen Brüderverein einer Begegnung stellen, die vielleicht in einen Vergleich mündet?

 

Georg Schmid, 2007


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