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Mythos Tibet und Mythos Dalai Lama

Bemerkungen zu: Martin Brauen, Traumwelt Tibet, Westliche Trugbilder, Hauptverlag Bern 2000

 

 

In den letzten Jahren des 20.Jahrhunderts wurde die Tibetomanie geradezu ein Charakteristikum westlicher Kultur. Braucht jede Zivilisation ein Traumland, in das hinein sie alle ihre ungestillten Sehnsüchte werfen kann? Hat der Strom tibetischer Flüchtlinge, das politische und kulturelle Unrecht, das ihrer Heimat immer noch zugefügt wird, oder das Suchen nach spirituellen Alternativen zum verwestlichten und scheinbar schon sattsam bekannten Christentum so viele Westler zu Tibetfreaks gemacht? Martin Brauen zeigt in seiner eindrücklichen Dokumentation zur Entwicklung der westlichen Tibetbilder, dass die westliche Welt seit Generationen, mindestens seit den Anfängen der Theosophie im 19. Jahrhundert, Tibetträumen nachhängt. Diese Träume haben in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts in Film und Werbung allerdings derart überbordet, dass ein Buch zum Thema sich geradezu aufdrängte. Gerade die Vielfalt der Tibetträume macht dieses Werk vom Martin Brauen zu einer wahren Fundgrube für kulturell interessierte LeserInnen: Tibet wird vorgestellt u. a . als Land des perfekten Friedens, der höchsten Weisheit, der vollkommenen Harmonie des Menschen mit der Umwelt, als Land der Magier und Zauberer, der ewigen Jugend, als Heimat der grössten Tantriker und Sex-Künstler, als Land der reinen Genügsamkeit, des allumfassenden Altruismus und des perfekten Verzichtes. Aber auch auf die Horrorbildvarianten lässt sich der Verfasser ein, die zumeist als Reaktion auf übersetzte Traumbilder auftauchen: Tibet wird auch zum Land des religiösen Stumpfsinns, des systematisierten Aberglaubens, der hemmungslosen Priesterarroganz und des kriminellen Okkultismus. Besondere Beachtung findet einerseits das von Mythen umnebelte Verhältnis der Nazis und Neonazis zu Tibet und andrerseits - in breit ausladende Dokumentation vorgestellt - dasThema "Tibet in der Werbung und im Kommerz". Zu den besten Abschnitten des Werkes gehören m.E. die Bemerkungen zu den grossen und bekannten Tibetspielfilmen der letzten Jahre (S.176ff) und die Ausführungen zu Frage, inwieweit die Tibetträume des Westens auf einen Grund oder doch einen Ansatz in der tibetischen Tradition zurückgeführt werden können (S.244ff). Gerade dieses letzte Thema hätte wahrscheinlich noch eine eingehendere Behandlung verdient. Denn durch noch weiterführende Verweise auf die historische Realität Tibets würden sich die westlichen Trugbilder sicher noch überzeugender entlarven lassen.

Die Freude am Thema, der Wille zu wohlwollenden Einfühlung bei gleichzeitigem Bestreben um präzis beobachtende kritische Distanz prägen Martin Brauens wertvolle Arbeit. Nur an einer Stelle kann von Wohlwollen und präzis beobachtender kritischer Distanz nicht mehr die Rede sein: Im Abschnitt über die zugegeben diskussionswürdige Dalai-Lama-Kritik des Ehepaares Trimondi "Der Schatten des Dalai Lamas" verlässt der Verfasser alle Maximen der beobachtenden Sorgfalt. Er verhandelt die beiden im Kapitel "Theosophen, Okkultisten, Nazis und Neonazis"(!) und stampft ihr Werk pauschal in Grund und Boden ( S.92f.) Offenbar kann er positive Traum- und Trugbilder Tibets in aller Ruhe besprechen und erwägen. Dalai-Lama-Mythen gegenüber aber gelingt ihm dies nicht. Positive und negative Traum- und Trugbilder im Blick auf den Dalai Lama aber müssten mit ähnlicher wohlwollender Gelassenheit und kritischer Präzision beobachtet und erwogen werden. Denn der Tibetmythos verbindet sich zur Zeit mit einem ebenso publikums- und werbewirksamen Dalai-Lama-Mythos. Wer nur Tibetmythen analysiert, geht nur die halbe Wegstrecke. Der Leser gewinnt aber nicht den Eindruck, dass Martin Brauen innerlich schon bereit wäre, auch den zweiten Teil des Weges sorgsam und mutig anzutreten.

 

Georg Schmid, 2001


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