Evangelische Informationsstelle: Kirchen - Sekten - Religionen

Ende der Toleranz?

Der Dalai Lama und die Dorjee Shugden-Verehrung

 

Artikel aus Leben & Glauben, Nr. 16/1998

 

Der Dalai Lama war bisher doch das Musterbeispiel für grenzenlose Toleranz. Plötzlich aber wird innerhalb des tibetischen Buddhismus fanatisch um die sogenannte Dorjee Shugden- Verehrung gestritten, wie wenn die buddhistischen Meister fundamentalistische Mullahs wären. Wie erklären Sie sich diesen Absturz in Intoleranz ?

G. D. in F.

 

 

Kein Mensch ist grundsätzlich nur tolerant. Und wahrscheinlich auch keiner nur intolerant. Als Menschen tragen wir alle Licht und Schattenseiten in uns. Ueberforderung drängt in uns allen die Toleranz ins Abseits und lässt die intoleranten, harschen, ja sogar fanatischen Kräfte in uns wach werden. Was den Dalai Lama wirklich bewog, sich plötzlich und bestimmt gegen eine bisher im tibetischen Buddhismus auch von seinem eigenen Lehrer anerkannte Verehrung der Schutzgottheit Dorjee Shugden zu wenden, lässt sich aus der Distanz nur vermuten.

Dorje Shogden soll ein Lama gewesen sein, der aus Neid umgebracht wurde und der als Totengeist nun wilde Wut auslebt. Nach einer im tibetischen Buddhismus oft geübten Tradition gilt es, dämonische Kräfte im Ritual zu versöhnen. Wer sie verjagt und verdammt, macht sie nur um so gefährlicher. Warum hat nun der Dalai - auf diese tibetische Kunst der Versöhnung des Dämonischen verzichtend - verdammt und verboten, was früher versöhnt und verehrt werden wollte? Wahrscheinlich muss der Dalai Lama Mitleid, Weisheit, Erleuchtung, Wohlwollen, Toleranz, Friedfertigkeit, Erkenntnis, Güte, Verständnis und was der spirituellen Qualitäten mehr sind, bis zum Kollaps aller göttlichen Maximen vorleben und vorzeigen.

Dass dieser Kollaps ausgerechnet im Zusammenhang mit der schon früher einmal unter dem fünften Dalai Lama umstrittenen Verehrung der Schutzgottheit Dorjee Shugden eintritt, ist vielleicht kein Zufall. Dem Vernehmen nach hat das Orakel des Dorjee Shugden den Dalai Lama vor Jahrzehnten zur Flucht nach Indien animiert. Seither hat China Tibet immer augenfälliger annektiert und seiner eigenen Kultur und Religion entfremdet. Die Mehrheit der Bewohner Tibets sind heute Chinesen. Das gewaltfreie Eintreten des Dalai Lama für eine Befreiung seines Landes vom chinesischen Joch hat zwar in der Weltöffent lichkeit zu grosser Sympathie geführt, aber kaum je zu konkreten politischen Aktionen gegenüber dem chinesischen Riesenreich.

Mit Gewaltfreiheit konnte zwar Gandhi seinerzeit die englische Öffentlichkeit beeindrucken und umstimmen. England besass dank seiner freien Presse auch die Möglichkeit, öffentliche Meinungen zu bilden und durchzusetzen. Gewaltfreier Protest und moralische Appelle lassen aber Diktaturen beinahe unberührt. Wenn aber der Einfluss des exilierten Dalai Lama auf die Politik Rotchinas und sein Beitrag für den Erhalt tibetischer Kultur in Tibet wenig oder nichts einbringt, war der Weg ins Exil dann die rechte Entscheidung? Oder gehörte der Anwalt der Tibeter in diesen Jahren der höchsten Bedrängnis nicht zu seinem Volk?

Dorjee Shugden hat durch sein Orakel den Dalai Lama ins Exil geführt. Nun erkennt der Dalai Lama, dass Dorjee Shugden keine hilfreiche Schutzgottheit, sondern ein Dämon war, dessen Rat und dessen Verehrung nur Probleme schaffen. Normalerweise versucht der tibetische Buddhismus, keinen Dämon zu verdammen. Aber der kritische Betrachter der Debatte begreift, dass im Fall des Dorjee Shugden der Dalai Lama die alten Regeln überheht.

Georg Schmid, 1998


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