www.relinfo.ch

Judentum

 

 

Obwohl sich das Judentum als das Volk Israel der hebräischen Bibel versteht, kann von Judentum als ausgeprägtem religiösem Willen, mit markanter liturgischer Tradition und mit einer das ganzen Leben ordnenden Gesetzestreue erst seit der Rückkehr der Reste dieses Volkes, oder genauer seiner Südstämme, aus dem babylonischen Exil in seine frühere Heimat gesprochen werden. Die Vorgeschichte des Judentums, die sog, Geschichte des Volkes Israel von den Stammvätern bis zum babylonischen Exil wird heute von kritischen Erforschern der herbräischen Bibel nur noch mit grösster Vorsicht den grossen Linien entsprechend dargestellt, die in den biblischen Texten vorgezeichnet werden. Die Erzählungen aus der Väterzeit bis hinein in die Zeit der Könige sind in kritischer Perspektive identitätstiftendes Werk der Exils- oder Nachexilszeit. Andere finden in diesen Texten - vor allem auch aus der Königszeit - zuverlässige historische Information.

Die Grundfrage des Judentums seit der Zeit des Exils wurde seither zur Leitfrage jüdischer Geschichte: Wie kann das jüdische Volk seinem exklusive Verehrung fordernden Gott dienen und seine religiöse und ethnische Identität bewahren mitten unter anderen Völkern? Die exklusive Verehrung des einzigen Gottes setzte das Judentum zwangsläufig in Distanz zur heidnischen Umgebung. Die Treue gegenüber dem in einer detailierten Exegese der Thora entschlüsselten göttlichen Willen setzte später notwendige Grenzen auch im Umgang mit Christen und Moslems. Das Wissen um die besondere Beziehung Gottes zu seinem Volk, die zunehmende Bedeutung des göttlichen Gesetzes (Thora) und dessen Interpretation (Talmud) für den jüdischen Alltag und Festkreis schenkten so dem Judentum auch in der späteren Zerstreuung über fast die ganze damals bekannte Welt die Chance, in allem Zusammenleben mit anderen Völkern, Glaubensweisen und Kulturen Judentum zu bleiben. Die als verhaltene Hoffnung immer präsente, in messianischen oder zionistischen Bewegungen nicht selten hell aufflammende Hoffnung auf eine letzte Identität von göttlichem Heilswillen und weltlicher Ordnung führte gerade in Auseinandersetzungen mit konkretem Messiasanspruch auch zu heftigen Debatten innerhalb des Judentums, trug aber immer wieder auch jene Kraft der Hoffnung ins Bild der jüdischen Identität, ohne die das Judentum wahrscheinlich bald zur blossen Pflege ehrwürdiger Vergangenheit verblasst wäre. Nicht weniger entscheidend war und ist der Beitrag der jüdischen Mystik ( Kabbala und Chassidismus) zur lebendigen jüdischen Identität der letzten Jahrhunderte. Im zwanzigsten Jahrhundert missionieren einzelne in mystischen Traditionen wurzelnde Schulen (z.B. Chabad) nach der Katastrophe der Nazizeit mit grossem Erfolg unter den Juden der ganzen Welt. Zu all diesen traditionellen Strömungen und Grundanliegen des Judentums gesellte sich in Europa seit der Aufklärung das sog. liberale Judentum, das das göttliche Gesetz mit neuen möglichst menschlichen und menschennahen Interpretationsmöglichkeiten bedenkt und die jüdische Identität in bisher kaum bekannter Offenheit gegenüber der Welt der Andersgläubigen lebt.

Auch nach Jahrhunderten periodisch sich abwechselnder christlicher Judenfreundschaft und "christlichen" Judenhasses immer noch nicht oder erst recht nicht zu begreifen war dann der im 20. Jahrhundert ausgerechnet in Deutschland, in einem Land mit ausgeprägter liberaler jüdischer Tradition, mit grauenhafter Leidenschaft aufflammende Antisemitismus. War das die Antwort auf die neue jüdische Anpassungsfähigkeit und Offenheit?

Heute würden sich bei entsprechenden Umfragen wahrscheinlich die grosse Mehrheit der mitteleuropäischen Juden dem liberalen Judentum zuzählen. In religiösen Gemeinden indes ist davon nur ein kleiner Bruchteil integriert. Die orthodoxen und konservativen Gemeinden - die letzteren auf halbem Weg zwischen liberalem und orthodoxem Judentum stehend – sorgen sich mehr um Gesetzestreue und Gehorsam als um weltnahen Glauben. Sie leben mit grösseren Zahlen religiös aktiver Juden ihr auffallendes und pointiertes Verständnis jüdischer Identität.

Eine relativ neue Bewegung innerhalb des Judentums ist der Zionismus, der zur Gründung des Staates Israel führte und der sich heute in seiner Liebe und seiner Treue zu dieser alten, neuen Heimat dokumentiert. Die Antworten auf die Frage, wie jüdisch oder wie gesetzeskonform dieser Staat zu ordnen sei, ob gesetzestreues Judentum überhaupt ohne Kompromisse gegenüber dem göttlichen Willen einen säkularen Staat errichten könne, sind im Einzelnen so zahlreich wie die religiösen Strömungen, Gruppen und Grüppchen im heutigen Judentum.

Eine kleine, aber aktive neue Gruppierung, vor allem, aber nicht nur in Israel, nennt sich "messianische Juden". In evangelikalen Kreisen entstanden, sehen sie das biblisch verstandene Christentum als Erfüllung des Judentums, nicht als Gegensatz.

Innerhalb des Gesprächs zwischen Juden und Christen lernten in den letzen Jahren Christen die jüdischen Wurzeln ihres christlichen Glaubens neu kennen und schätzen. Jesus wird sogar von manchen Erforschern des Neuen Testamentes heute als charismatische Gestalt im Judentum seiner Zeit verstanden, die an keiner Stelle den Raum des damaligen Judentums überschreitet. Umso dringlicher stellt sich dann allerdings von diesem so völlig der jüdischen Tradition verpflichteten Jesus ausgehend die Frage, warum denn die Jesusbewegung bald nach Jesu Tod sich den Heiden zuwandte. Aber nicht nur das jüdische Erbe im Christentum wurde und wird neu entdeckt. Innerhalb des Reformjudentums wird selbstverständlich auch der Einfluss des Christentums auf das Judentum - während ihrer zweitausend Jahre alten über weite Strecken auch gemeinsamen Geschichte - wahrgenommen und zur Debatte gestellt.

Georg Schmid, 2004


zurück zum Text im Normalformat

zur Uebersicht Judentum

zur Relinfo-Grundseite

© 2004 gs / 2000 Infostelle