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Barbro Karlén - die wiedergeborene Anne Frank?

 

Podiumsdiskussion in Basel und Zürich

Im Rahmen von zwei Podiumsdiskussionen in Basel und Zürich, die vom Journalisten und Reinkarnationstherapeuten Roland Goldberger in Zusammenarbeit mit dem anthroposophischen Verleger Thomas Meyer veranstaltet wurden, trat Ende Mai die schwedische Schriftstellerin und Dressurreiterin Barbro Karlen, die von sich behauptet, die Wiedergeburt der Anne Frank zu sein, in der Schweiz auf. Die Veranstaltung im Zürcher Volkshaus war trotz eines Eintrittspreises von Fr. 23.- ausverkauft, wobei sich das Publikum, die Fragen machten es deutlich, ausschliesslich für Barbro Karlén und ihre Geschichte interessierte, wogegen die anderen Podiumsteilnehmer, es waren neben Goldberger und Meyer noch das Medium Edith Ackermann, der Sterbeforscher und katholische Theologie Gabriel Looser, der Psychologe Pifko und der Reinkarnationstherapeut Jan Erik Sigdell, eigentlich nur soweit von Belang waren, das ideologische Rüstzeug für den Glauben an Reinkarnation bereitzustellen, resp. im Falle von Pifko, dem einzigen ganz schüchternen Kritiker, diesem Glauben grosse Offenheit entgegenzubringen.

So war das Podium mit Ausnahme Pifkos im Glauben an Reinkarnation geeint, wobei allerdings das Wie der Reinkarnation ganz verschieden angegangen wurde: die Bandbreite reichte von einem "empirischen" Approach Sigdells, der nur gelten lässt, was er von seinen ProbandInnen hört, bis zu einer "dogmatischen" Konzeption Thomas Meyers, der als guter Anthroposophe auch im Falle der Reinkarnationslehre am Munde seines Meisters Steiner hängt, wofür er von anderen Podiumsteilnehmern einiges an nur knapp verdeckter Schelte entgegennehmen musste: er verzichte auf eigene Erfahrungen und kaue statt dessen Erfahrungen anderer (Steiners) wieder. Das Publikum beteiligte sich an diesem internen Disput durch nickende Bejahung gewünschter und kopfschüttelnde Verwerfung ideologisch unerwünschter Aussagen.

Begleitet wurde die Veranstaltung in Zürich von einem Protest von Antifa-VertreterInnen, die Barbro Karlén einer Verharmlosung des Holocaust und Thomas Meyer der Herausgabe eines antisemitischen Buches zeihten. Die Vorwürfe an Karlén werden unten zu bedenken sein.

 

Barbro Karléns Leben

Barbro Karlén hat ihre bisherige Lebensgeschichte in ihrem Buch "...und die Wölfe heulten". Fragmente eines Lebens niedergeschrieben, welches im November 1997 im von Thomas Meyer geleiteten Perseus Verlag Basel erschien (inzwischen in dritter Auflage).

Karlén berichtet in ihrem Buch pseudonymisch (sie nennt sich Sara Carpenter) von ihrem Werdegang vom verträumten Kind über den gefeierten literarischen Jungstar und die erfolgreiche, aber umstrittene Dressurreiterin zu ihrer heutigen Tätigkeit als wiedergeborene Anne Frank.

Schon als kleines Kind will Karlén Bilder von Verfolgungsszenen gesehen haben, die sich allerings im Verlauf ihres Lebens abschwächten. Eine hohe Sensibilität Barbros und ein beachtliches literarisches Talent führen allerdings dazu, dass sie schon als Zwölfjährige mit einem Gedichtband an die Oeffentlichkeit tritt. Die nächsten fünf Jahre publiziert Karlén mehrere Bücher, wird von den Medien erst umlagert und von der Oeffentlichkeit als literarisches Wunderkind gefeiert. Mit der Zeit und zunehmendem Alter verliert Karlén allerdings ihren Novitätswert, das Interesse der Oeffentlichkeit geht zurück. Im Alter von siebzehn Jahren publiziert Karlén ihr letztes Buch (bis zum Erscheinen der vorliegenden Autobiographie).

Das Vermögen, das Barbro mit ihren Büchern verdiente, verliert sie wieder. Eine im Alter von achzehn Jahren geschlossene Ehe geht in die Brüche, den der Ehe entsprungenen Sohn erzieht Barbro fürderhin allein (er begleitete zusammen mit seiner Freundin Barbros Zürcher Auftritt mit Harfenmusik).

Barbro tritt nun in den Polizeidienst ein. Als eine der wenigen Frauen in dieser Männerdomäne ist Barbro hier in einer schwierigen Situation, die sie im Gegensatz zu ihren Kolleginnen nicht zu meistern vermag. Ablehnung durch männliche Kollegen und soziale Ungeschicktheit Barbros greifen ineinander bis zum Debakel. Barbro sieht sich bald systematischem Mobbing ausgesetzt, welches durch eine zwischenzeitliche Liaison mit ihrem Chef sich naturgemäss nicht verbessert.

Nach Jahren des Leidens unter dieser Situation geht Barbro aus dem Polizeidienst ab und betätigt sich fürderhin als Zureiterin an einer Reitschule. Hier meint Barbro gleich von Beginn weg unsaubere Machenschaften ihrer Vorgesetzten aufdecken zu müssen und sieht sich so alsbald wiederum in der Situation der gemobten Mitarbeiterin wieder. Diesmal sind die Folgen des Mobbings allerdings weit gravierender, weil die Gegnerschaft Karléns eine Pferdesport-Journalistin für ihre Sache gewinnen kann, welche in der Folge eine rüde Kampagne gegen Karlén startet. Karlén ist beruflich erledigt und bedarf juristischer Schritte, um sich zu rehabilitieren. Der Ausgang dieser Verfahren ist noch offen.

 

Barbro Karlén als Anne Frank?

In den Zeiten der Verfolgung durch Mobbing, erst durch einen bestimmten Mitarbeiter und dann durch die Pferdesport-Journalistin, erlebt Karlén Träume, die an die Verfolgungsbilder aus ihrer Kindheit anknüpfen und diese weiterspinnen:

Barbro sieht sich als jüdisches Mädchen, das von einem SS-Mann verhaftet und sexuell belästigt wird. Sie kommt in ein KZ, wo der selbe SS-Mann, der inzwischen zu "einem der Chefs" dieses Lagers aufgestiegen ist, sie des öftern nächtens in ihrer Baracke besucht und vergewaltigen will. Eine "Aufseherin", welche mit dem SS-Mann liiert ist, reagiert auf das jüdische Mädchen mit Eifersucht und plagt es. Schliesslich ertappt die Aufseherin den SS-Mann in flagranti beim Mädchen und erschiesst ihn versehentlich, worauf sie selbst ohne weitere Umstände von ihren Kollegen erschossen wird. Das Mädchen wird später lebendigen Leibes verbrannt.

Für Karlén scheint klar zu sein, dass diese Bilder, die sie in der Zeit allseitiger Verfolgung erlebt, die Geschichte der Anne Frank nach ihrer Verhaftung darstellen, die sie in ihr jetziges Leben weiterbegleitet. Aus dem Erzählzusammenhang folgert recht deutlich, dass Karlén im SS-Mann denjenigen Polizeikollegen wiedersieht, welcher ihr die meisten Schwierigkeiten und einmal auch sexuelle Avancen machte. Die Aufseherin wird mit der Pferdesport-Journalistin in Zusammenhang gebracht.

 

Ist Barbro Karléns Geschichte der Anne Frank nach ihrer Verhaftung plausibel?

Wenn Barbro Karlén wirklich Erinnerungen an das weitere Geschick der Anne Frank nach deren Verhaftung haben will, müssten diese "Erinnerungen" historisch in jeder Hinsicht plausibel sein. Hier ergeben sich aber erhebliche Bedenken:

- Die Beförderung gerade des SS-Mannes, der Anne Frank verhaftet, zu "einem der Chefs" genau des KZ, in welchem Anne Frank einsitzt, stellt an den Zufall doch ganz erhebliche Ansprüche. Der Mann müsste die Einheit gewechselt haben und in seiner neuen Einheit im Rang aufgestiegen sein. Dies ist extrem unwahrscheinlich.

- "Einer der Chefs" eines KZ wird, wenn er denn sexuelle Absichten auf eine Insassin hat, diese kaum verschiedentlich in einer Baracke, die von dutzenden, wenn nicht gar von hunderten von Gefangenen belegt wird, aufsuchen. Er wird sie zu sich bringen lassen.

- Die umstandslose Erschiessung der Aufseherin nach ihrer versehentlichen Tötung ihres Geliebten steht im Widerspruch zu den Gebräuchen der SS. Die SS als gewissenhafte Organisatorin des Schrecklichen hätte wissen wollen, was hier vorgefallen ist, und die Dame wohl erst verhört.

- Die Todesart Annes, Verbrennen bei lebendigem Leibe, passt schlecht zu den Gebräuchen in KZ. Von der historischen Anne Frank wird angenommen, dass sie wohl an Typhus gestorben ist.

 

Die Erinnerungen Barbro Karléns, so dürftig sie sind, erscheinen in den Details, die sie liefern, eher unplausibel. Sie sind sehr verständlich als alptraumhafte Verarbeitung dessen, was Karlén während der Zeit der Kampagnen gegen sie widerfuhr, mit der Geschichte der Anne Frank haben diese Erinnerungen wohl nicht das Geringste zu tun.

Dass sich Barbro Karlén unbewusst gerade mit der Person Anne Franks verbunden fühlt, einer Berühmtheit, deren Inanspruchnahme der kritischen Leserschaft unbescheiden anmuten möchte, erscheint vor dem Hintergrund von Karléns Leben nicht unverständlich: Ist doch der Verlust von Karléns eigener, früher Berühmtheit resp. deren negative Wendung im Rahmen der Kampagne gegen sie eines der Hauptprobleme des Lebens Barbros. So sind Aussagen, welche die eigenen Fähigkeiten hervorheben, im Buch Karléns nicht selten und als Reaktion auf die Untreue des öffentlichen Interesses auch nicht unbegreiflich. Die Inanspruchnahme Anne Franks mag so verständlich sein als Versuch Karléns, ein konsistentes Selbstbild zu gewinnen, ein Selbstbild, dessen Ausgestaltung ihr durch das krasse Auf und Ab ihres Lebens aus ihrer eigenen Biographie heraus nicht möglich ist.

 

 

Karléns Geschichte als Verharmlosung des Holocaust?

Seitens der Teilnehmer an der Podiumsdiskussion in Zürich war das Bemühen spürbar, einem Vorwurf entgegenzuarbeiten: dass durch den Hinweis darauf, dass die Seelen der Opfer des Holocaust heute wieder inkarniert seien, das schreckliche Geschehen der Ermordung von sechs Millionen Menschen in den Vernichtungslagern der Nazis verharmlost würde.

Alle diese sicher ernstgemeinten Beteuerungen treffen aber nicht den Punkt. Jede Form der Reinkarnationstheorie entwertet duch die Aneinanderreihung verschiedener Leben die einzelne Biographie. Dies ist eine unvermeidliche Folge des Reinkarnationsglaubens, die beinhaltet, dass auch Schrecknisse, die in einem der zahllosen Leben geschehen, etwas von ihrem Schrecken verlieren: Es war zwar furchtbar, aber es geht ja weiter. In diesem Zusammenhang war die Podiumsdiskussion selbst ein Lehrstück: Die Schrecken des Holocaust wurden nicht thematisiert, auf Interesse des Publikums stiess bloss die Frage des Ueberlebens und der Beweise dafür.

Hier liegt die eigentliche Gefahr des Reinkarnationsglaubens: dass historische Geschehnisse im Grunde jede Bedeutung einbüssen. Einmaliges wird unwichtig, unfaire und auch schreckliche Konstellationen unerheblich oder gar wünschbar, da sie die Möglichkeit schaffen, Karma abzutragen. So wird derjenige Glaube, der geglaubt wird, um der Bedeutungslosigkeit des Einzelnen zu entgehen, zu einem Glauben, der dazu beiträgt, dass das Einzelne der Geschichte seine Bedeutung verliert.

Besonders zynisch wirkt in diesem Zusammenhang eine Aussage wie diejenige von Jan Erik Sigdell, dass die Reinkarnationstheorie geeignet sei, das Böse in der Welt durch die Karmatheorie zu erklären. Jede wie auch immer geartete metaphysische Erklärung des Holocaust verharmlost diesen, insofern das Unbegreifliche dann begreiflich wird. Aufgabe von uns Nachgeborenen kann es dagegen nur sein, die Unfassbarkeit des Schrecklichen im Gedächtnis zu bewahren.

 

Georg Otto Schmid, 1998


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