Euro-Islam / Liberaler Islam

«Euro-Islam» bezeichnet einen europäischen liberalen Islam. Dabei geht es um eine Art des «Reformislam» in einem humanistischen, aufklärerischen Sinne.

Die Ansätze eines liberalen Islams finden sich in den ersten intensiveren Begegnungen zwischen der islamischen und der europäischen Welt. Vor allem mit der ägyptischen Expedition Napoleon Bonapartes 1798-1801 entstanden erste Bewegungen. Eine davon war die Nahda-Bewegung, welche versuchte, Islam und Moderne miteinander zu versöhnen. Zu dieser Bewegung gehörten Dschamal ad-Din al-Afghani (1838-1897) und Muhammad Abduh (1849-1905). Mit ihren Reformen beeinflussten sie den Moderne-Diskurs in der arabisch-islamischen Philosophie. So steht die Nahda-Bewegung am Anfang des liberalen Islams, aber auch des Salafismus.

Bei anderen Vordenkern des liberalen Islams gibt es Uneinigkeiten im wissenschaftlichen Diskurs, ob sie denn wirklich liberal waren oder nicht.

Der Begriff «Euro-Islam» wurde erstmals 1991 vom Wissenschaftler Bassam Tibi in die Diskussion eingeführt. Dieser Euro-Islam beschreibt eine bestimmte Form des säkularisierten Islams, indem europäische Muslime Prinzipien des Islams mit liberalen europäischen Werten kombinieren.
Der Begriff «Euro-Islam» wird aber auch allgemein für den liberalen Islam verwendet.

2006 bezeichnete Johannes Twardella die Position von Tariq Ramadan als «Euro-Islam». Der islamische Intellektuelle selbst hingegen verwendete diesen Begriff nicht und auch andere Wissenschaftler und Schriftsteller sahen zu grosse Unterschiede in den Theorien von Bassam Tibi und Tariq Ramadan, um für beide den gleichen Begriff zu verwenden. Bei Tariq Ramadan geht es auch um einen Islam in Europa, der den Dschihad ablegen muss. Die Scharia jedoch sieht Ramadan als wichtiges Instrument und auch die Missionierung sei kein Problem. Tariq Ramadans Position wird in seiner Position von verschiedenen Seiten Fundamentalismus und Antisemitismus vorgeworfen.

Im Jahr 2016 haben liberale Musliminnen und Muslime und einige liberale islamische Organisationen in Deutschland, Österreich und der Schweiz gemeinsam eine Erklärung abgegeben, die «Freiburger Deklaration». Dabei ging es vor allem darum, sich zu positionieren und als Ansprechpartner für staatliche Stellen und andere Organisationen anbieten zu können.

Vertreterinnen und Vertreter eines liberalen Euro-Islam haben ein Islamverständnis, das sich auf Demokratie und Menschenrechte stützt, welche in der westlichen Welt durch Humanismus und Aufklärung entstanden sind. Im Gegensatz dazu werden im konservativen Islam werden von einigen Strömungen Menschenrechte ganz oder teilweise abgelehnt. Der liberale Islam in islamischen Ländern unterscheidet sich allerdings von einem liberalen Euro-Islam und dem anderer westlicher Länder. Was aber alle Strömungen des liberalen und des Euro-Islams eint, ist der Glaube an die fünf Säulen des Islam.

Humanismus und Individualismus

«Liebe zu Gott und Liebe zu den Menschen. Und ohne die Liebe zu den Menschen bleibt die Liebe zu Gott entfremdet und wäre inhaltsloser Kult.»[1]

Ein aufgeklärter Islam will die individuelle Persönlichkeitsentfaltung fördern und eine persönliche Beziehung zu Gott ermöglichen. Ganz im Sinne eines Individualismus, der auch in anderen religiösen Bewegungen in Europa Einzug gefunden hat.
Dazu kommt auch oftmals eine Islamkritik, die als wichtig empfunden wird, genau wie Meinungsvielfalt.

«Vom Deutungsmonopol der Gelehrten muss endlich Abschied genommen werden.»[2] Jeder Muslim soll den Koran selbst lesen, interpretieren und darüber diskutieren lernen.

Anpassung

Der Schöpfer des Begriffs «Euro-Islam», Bassam Tibi, argumentiert, dass ein Abschied von Scharia und Dschihad unerlässlich sei, um die Integration von Muslimen in Europa nicht zu behindern. Auch andere Denker des Euro-Islams sehen die Integration eines humanistischen Islam als Weg, Europa vor dem Islamismus zu bewahren.

Die Theologie des Islam solle angepasst werden. So wollen viele im Euro-Islam wegkommen von einem Glauben an einen strafenden Gott. In der Reform wird Gott als barmherzig gesehen und vergebend. Manche erkennen nur den Koran als Richtschnur an und verwerfen alle Hadithe. Wieder andere verwerfen gar alle Suren des Korans, die in Medina geoffenbart wurden und erkennen nur diese aus Mekka an.

Trennung von Staat und Religion

Ein Grundsatz im Euro-Islam ist die Trennung von Religion und Staat. Das sei wichtig, da einige Denkerinnen und Denker Europa in der jetzigen Situation in Gefahr sehen. Durch Fortbestehen einer nationalen Einbindung der Muslime in Europa in die Traditionen ihres Herkunftslandes würde eine langsame Islamisierung des Kontinents stattfinden und keine Integration. Deshalb müssten die Muslime in Europa eine klare Trennung von Staat und Religion akzeptieren und sich auch loslösen von Bindungen an einzelne Ethnien.
Zu dieser Trennung gehört im Euro-Islam auch die Ablehnung des politischen Islam.

Wiederaufgreifen alter Traditionen

Im Euro-Islam orientieren sich manche Vertreterinnen und Vertreter auch an alten Lehrtraditionen des Islam, die marginalisiert oder vergessen wurden.
Eine dieser Strömungen ist die Theologie der Mu’tazila. Im 9. Jahrhundert, zur Blütezeit des Islams, wurde diese theologische Richtung vor allem in Bagdad und Basra vertreten. Sie war stark beeinflusst von der Philosophie der Antike, wo Willensfreiheit und Rationalität im Vordergrund standen und überlieferte Traditionen hinterfragt wurden.
Eine andere, oft aufgegriffene Strömung der islamischen Theologie, ist der Rationalismus von Ibn Ruschd (auch: Averroes, 1126-1198). Der andalusische Philosoph war ein Gegenspieler des persischen Philosophen und Mystikers al-Ghazālī.
Auch Vordenker nicht-liberaler Strömungen werden im liberalen Euro-Islam teilweise aufgegriffen. Dazu gehören beispielsweise ein Vordenker des Salafismus Ibn Qaiyim al Dschauzīya, der den Dschihad als ausschliesslichen Verteidigungskampf ansah.

Wissenschaft

Im liberalen Euro-Islam werden gängige wissenschaftliche Methoden und Erkenntnisse akzeptiert. Dazu gehört auch die Evolutionstheorie und Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft und Archäologie, auch wenn diese ein anderes Bild von Muhammad und seiner Zeit aufzeigen, als in traditionellen Quellen beschrieben wurde.

Historisch-kritische Methode

«Der moderne humanistische Islam will nicht mehr und nicht weniger als den Islam von seinen verkrusteten Denkschichten befreien, seinen wahren Kern freilegen und ihn gemäss seiner heutigen Situation neu interpretieren.»[3]

Der Euro-Islam bedient sich der historisch-kritischen Methode, um religiöse Texte des Islams zu verstehen und zu interpretieren. Dabei wird der Sinn eines Wortes oder eines Satzes anhand der Entstehungssituation betrachtet. Gewisse Erkenntnisse und Vorschriften im Islam werden abhängig von Zeit und Situation in der sie entstanden sind, verstanden.  Das heisst, dass gewisse Vorschriften in der heutigen Zeit ihren Sinn verlieren oder angepasst werden müssen auf die heutige Zeit und die heutige Situation in der die Muslime leben. Nur der Kern von Vorschriften bleibt dabei erhalten, ihr moralischer Sinn.
Um den Koran überhaupt in seiner Erstehungssituation erforschen zu können, müssen Wissenschaftler auch auf die Hadithe zurückgreifen, die über das Leben des Propheten Muhammad berichten. Doch da liegt auch die Schwierigkeit, denn zu erkennen, welche Hadithe glaubhaft sind und welche nicht, gestaltet sich nicht so einfach. Dazu gibt es viele unterschiedliche Meinungen.
Historisch-kritisch gelesen gibt es auch im Koran einige Diskussionspunkte. Denn der Text nimmt klar Bezug auf die Geschehnisse und Umstände der Entstehungszeit und weist Ähnlichkeiten zu zeitgenössischer Literatur, Theologie und Philosophie auf. Dazu kommen noch redaktionelle Überarbeitungen des Textes, genauso wie Zusätze, Änderungen und unvermeidliche Abschreibfehler in der Überlieferung. Für gläubige liberale Muslime ändert das aber nichts an der Göttlichkeit der Offenbarung Muhammads. Sie sehen diese Dinge als menschliche Fehler.

Bildungswesen

Die Freistellung vom Schulunterricht, Sexualkunde oder Schwimmen zum Beispiel sieht der Euro-Islam als Missbrauch der Religion. Zu einer positiven Entwicklung eines Kindes würden auch diese Aspekte dazugehören. Allerdings wird ein Islamunterricht an Schulen begrüsst, der nicht unter dem Einfluss von traditionalistischen Islamverbänden steht. Genauso setzten sich viele Vertreterinnen und Vertreter auch für die liberale islamische Theologie an europäischen Universitäten ein.

Andersgläubige

«Die Reform des Islam predigt dagegen das Sichöffnen der Muslime gegenüber Angehörigen anderer Religionen sowie gegenüber andersdenkenden Menschen im Allgemeinen.»[4]

Im liberalen Euro-Islam werden Muslime und Nicht-Muslime als gleichberechtigt verstanden. Von einer Islamisierung des gesellschaftlichen Lebens nehmen die meisten Vertreterinnen und Vertreter Abstand und auch Ehen können unabhängig von Religionszugehörigkeiten geschlossen werden.

Gleichberechtigung der Geschlechter und Sexualität

Frauen und Männer sollen im liberalen Euro-Islam gleichberechtigt sein. Frauen sollen sich auch mehr einbringen können und können, je nach Gemeinde, Gelehrte und Imaminnen sein.

Einige Gläubige des Euro-Islams lehnen muslimische Kleidervorschriften und Geschlechtertrennung in Moscheen ab. Andere sehen jedoch gerade das Tragen eines Kopftuches als Entsexualisierung der Frau und somit auch als feministisch.

Viele liberale Muslime lehnen Mehrehen als frauenfeindliche Form der Partnerschaft ab. Auch Imam-Ehen, die in Moscheen geschlossen werden und vor dem Gesetz keine Gültigkeit haben, werden von den meisten liberalen Muslimen abgelehnt.

Was die sexuelle Orientierung angeht gibt es wieder sehr unterschiedliche Meinungen, jedoch gibt es zahlreiche Strömungen im liberalen Islam, die auch LGBTIA+ Personen akzeptieren.

Diskriminierung

In vielen Strömungen des liberalen Islam wird explizit Abstand genommen von Homophobie und Antisemitismus. Auch Kinder- und Zwangsehen werden meist nicht akzeptiert.

Psychische und körperliche Strafen werden von vielen Vertreterinnen und Vertretern des Euro-Islam abgelehnt. Das gilt für gesetzliche Strafen, wie Körperstrafen oder Todesstrafen, aber auch für erzieherische Massnahmen oder Mittel zur Konfliktlösung.

[1] Ourghi, 2017: 227.

[2] Oughi, 2017: 15.

[3] Ourghi, 2017: 11.

[4] Ourghi, 2017: 11.

Manche liberalen Muslime praktizieren keine Geschlechtertrennung in Moscheen und alle beten gemeinsam. Teilweise werden auch die Kleidervorschriften aufgehoben und LGBTIA+ Personen werden nicht von Gebeten ausgeschlossen. Dazu gibt es in manchen Gemeinden auch Imaminnen.

«Wie viele andere zu Recht vorhergesagt haben, so bin ich auch der Ansicht, dass das Internet auf den Islam eine Wirkung haben wird wie die Druckerpresse auf das Christentum – ein wichtiger Antrieb für Entwicklung und Reformation.»[1]

Der Euro-Islam verbreitet sich online aber auch offline. Viele verschiedene Organisationen und Einzelpersonen vertreten unterschiedliche Meinungen innerhalb des liberalen Islam, die teilweise sehr gegensätzlich sein können.

[1] Nasr, 2016: 322.

Ist eine Islamreform überhaupt möglich?

Der traditionelle Islam kritisiert den liberalen Euro-Islam, weil sie sagen, der Islam sei unveränderlich, Reformen seien unnötig und nur eine Verfälschung des Islams.  Zudem würde der liberale Islam Vorurteile über den Islam anfachen.
Islamkritiker lehnen die Vorstellung, dass der Islam überhaupt reformiert werden könnte, komplett ab und sagen, er könne nicht modern interpretiert werden.
Der liberale Euro-Islam sieht den Islam so, dass er schon immer vielgestaltig gewesen sei und sich immer verändert habe und das auch heute noch könnte und sollte.

Nasr, Amir Ahmad (2016): Mein Islam. Bloggen für die Freiheit, aus dem Englischen von Mike Kauschke, Aurum in J. Kamphausen Mediengruppe GmbH: Bielefeld.

Ourghi, Abdel-Hakim (2017): Reform des Islam. 40 Thesen, Claudius Verlag: München.

Tibi, Bassam (2009): Euro-Islam. Die Lösung eines Zivilisationskonfliktes, Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt.

Bassam Tibi (2020): Euro-Islam statt Islamismus: Ein Integrationskonzept [erweiterte Neuausgabe], ibidem-Verlag: Stuttgart.

Freiburger Deklaration (2016): Zürich, http://saekulare-muslime.org/freiburger_deklaration.pdf.

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