On Fire for Jesus

Michael Walther, 12.1.01

Michael Walther ist freischaffender Journalist in Flawil SG.
E-mail: m-walher@bluewin.ch
Internet: http://www.geschichtenladen.ch

Während die Landeskirche den Spagat zwischen Evangelisch-demokratischer Union und Schwulensegnugen übt, will eine Freikirche mit einer konservativen Moral die Stadt Zürich erwecken. Sie könnte es schaffen.

Es begab sich aber zu jener Zeit, dass eine Kirche die schnellste, unfreundlichste, und geldgierigste Stadt der Schweiz, Zürich, erwecken wollte. Die Kirche nannte sich ICF, International Christian Fellowship. Ihre Prediger hiessen Leo Bigger, ein ehemaliger Offsetdrucker aus Buchs, der andere, vergeistigtere, war Matthias Bölsterli, ein Lehrer und Psychologiestudent, der früher von Tanger nach Zürich Haschisch kiloweise verschoben hatte. Sie predigten an einem der symbolträchtigsten Orte der Stadt, wo Zürich sich selber ist, in der Alten Börse. Und sie taten es für die Jungen. Um sie zu überzeugen, wurden sie wie die Hip-Hopper. Sie kleideten sich wie sie, sprachen wie sie und verpackten ihre Multimediashows, in denen sie viermal pro Sonntag den Namen Gottes priesen, mit Rockmusik, Videos und Lichteffekten. Die Menschen aber kamen in Scharen, 2000 waren es jedes Wochenende. («Den Juden bin ich wie ein Jude geworden. Denen, die unter dem Gesetz stehen, bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden. Denen, die ohne Gesetz sind, bin ich wie einer ohne Gesetz geworden. Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden. Ich bin allen alles geworden, damit ich auf jeden Fall einige rette. Alles aber tu ich um des Evangeliums willen, um an ihm teilzuhaben.» Paulus, 1. Kor. 9, 20)

Willkommen im ICF. Es ist klar, schön und kalt an diesem Sonntag. An der Ecke Talstrasse-Bleicherweg kommen plötzlich immer mehr Menschen zusammen. Junge in Turnschuhen. Familien mit Kinderwagen, blonde, grosse schöne Frauen im Pelz- oder Wollmantel, die mit Männern gehen, die sicher 8000 verdienen und Volvo fahren. Das Foyer in der Alten Börse ist schon gerammelt voll. Der Mann einer Frau küsst als Begrüssung die Frau eines Anderen.

«Es isch schön, dass ihr cho sind», rufen kurz darauf Tabea und Sandra, die beiden «MCs» oder Masters of ceremony, in den Börsensaal. Dann legt die Band los. Es ist ziemlich satter Funk-Blues-Rock, knackig, hart, gut abgemischt. Der Kabelschlauch längs durch den Börsensaal ist so dick, dass man jedesmal drüber stolpert. Lead-Sänger Simon Lämmle ist heute nicht da, er ist im Militär. Dafür vertritt ihn der Keyboarder Daniel Weber (Name geändert). Er hat blaue Augen, rotblondes Haar und Backenbart und sieht aus wie Moses in einer Musicalinszenierung für Jugendliche. Der Flötist streckt nach dem Solo die Flöte in die Höhe. Die andere Hand hält er auf sein Herz. Er glaubt das wirklich.

Langsam geht Matthias Bölsterli durch den Mittelgang nach vorn. Er trägt diese beigen Hosen mit x Taschen und Reissverschlüssen, die es braucht, wenn man auf dem Mond spazieren geht, ausserdem ein knallrotes Hemd, das über die Hose fällt. Das Licht ist grell weiss. Nur ein Kegel Violett ist hinter Bölsterli hingetunkt. He’s in the light und erläutert: «Du bisch designt für Gott.» Für Jesus Christus gemacht. Nicht zum Springreiten, nicht zum Kokainschnupfen und nicht für dich selber. Die Predigt ist schön aufgedröselt in vier Punkte und garniert mit Bibelversen. Bölsterli spricht über ein Sendermikrofon. Das erlaubt es ihm, wie ein Tiger seine Schlaufen zu ziehen. Jedesmal bei den vier Predigten generiert er seine Gedanken neu.

ICF, das ist die Freikirche, für die Homosexualität Sünde ist – nicht wenn man sie empfindet, aber wenn man sie lebt. Die gegen Sex vor der Ehe ist und die der Frau eine traditionelle Rolle zuordnet («Nach dem Willen Gottes untersteht jeder Mann Christus, die Frau ihrem Mann, und Christus untersteht Gott», nach 1. Kor. 11,3). ICF ist die Kirche, für die es Himmel und Hölle gibt. «Gott wird einmal die Menschheit trennen.» (Matthias Bölsterli, 19.11.2000) Wer der Botschaft von ICF nachfolgt, findet einen Platz auf der Arche, wenn es dann einmal zu regnen beginnt. Wer nicht, wird draussen bleiben. ICF ist die Kirche, der die Mitglieder den Zehnten ihres Einkommens bezahlen, unter anderem damit dieses Geld den Bedürftigen zukommt, die die Kirche bestimmt.

Zwei Träger bringen zwei Polsterstühle auf die Bühne. Nun sieht es aus wie bei Schawinski. Sämi kommt auf die Bühne, ein ICF-Mitarbeiter. «Bevor Sämi zum ICF kam, lebte er in einem Wohnwagen», erfahren wir. «Ich war frei», sagt Sämi, «aber ich war auch wie ein einsamer Bär.» – «Er het jetzt au e Fründin», sagt Bölsterli. «Du musst Deinen Egoismus überwinden!»

Noch lange bleiben die Leute im Foyer, bis die zweite Vorstellung beginnt. Im Saal gehen derweil die «Usher», die Platzanweiser, um. Nicht alle von ihnen sind so schön und schlank wie die, die zuvor auf der Bühne standen. Perfekt wie mit dem Lineal richten sie die Stuhlreihen wieder aus. Jedes Fetzchen bücken sie unter den Stühlen hervor. Nichts soll die Ehre Gottes trüben, sei der Kirchenraum auch nur die Alte Börse. Während die «Usher» ihr Werk verrichten, sieht man die Gäste nicht gern im Saal. Nur noch Bölsterli ist drin und zwei weitere Leute. Das ICF geht mir auf den Wecker. Da sind die 68-er und die freie Liebe toter als tot. Und auf der andern Seite setzt eine Freikirche wieder bei der Moral der fünfziger Jahre an, als der Kühlschrank erfunden wurde und sich die Jungen mit Elvis Presley aus den elterlichen Zwängen zu befreien versuchten. Bölsterli streckt mir die Hand zu, und mit einer Offenheit, Wärme und Treuherzigkeit, wie wenn wir uns schon lange kennten und über die man nicht böse sein kann, sagt er: «I bi de Matthias.»

Nach drei Stunden stehe ich wieder draussen. Es ist immer noch saukalt. An der Ecke zur Talackerstrasse sehe ich eine Punkfrau, in der Diktion des ICF eine Person, die ihren Egoismus noch nicht überwunden hat und auf das «hohe Ross des Individualismus» setzt. Zurück im Hauptbahnhof stelle ich fest, dass an diesem Sonntag in Zürich ausser der Alten Börse noch etwas offen hat, das Shopville. Im ICF treten die Kirchenmitglieder ihren Zehnten ab. Auch im Shopville bezahlt man. Aber hier bekommt man nur Ware.

Das Büro des ICF befindet sich in einem Haus von Weinhändler Bindella an der Hönggerstrasse 107. An einem Montag morgen um Viertel vor acht sieht es hier etwa so aus wie am Samstag abend in einem Konflager. Vor allem am Töggelikasten in der Raummitte wird schon hart gerungen. Simon Lämmle ist aus dem Militär zurück. Er schmust mit seiner Freundin. Um acht ist’s aber Zeit zum Singen und Gebet.

Leo Bigger sitzt – er liegt mehr in seinem Stuhl – hinten rechts. Die Beine sind übereinander geschlagen, die Arme im Nacken verschränkt. Er erzählt etwas vom «Grittibenz hani gern». Das Original heisst aber «Zimmetstern hani gern», weshalb alle lachen. Bigger plaudert drauflos und verbreitet gute Laune.

Die Lieder dauern etwa eine halbe Stunde. Mit der Zeit singen fast alle. Jemand kniet zu Boden. Eine Szene wie bei den Urchristen am Strand des Mittelmeers, aber die Unterlage ist hier ein Spannteppich. Gott muss ausserdem durch ziemlich dicke Mauern dringen. Die gelbgestrichene Backsteinwand misst sicher einen halben Meter. Doch Er scheint das zu schaffen. Während der Rest von Downtown Zurich soeben die Computer aufstartet und für eine weitere Woche die Secklerei nach den Zahlungsbelegen beginnt, nehmen sich die 20 Freaks hier aus dem Spiel raus und singen und beten. Vielleicht ist das ja die zeitgemässe Version von Rebellion.

Dann nehmen alle ihre Arbeit auf. Die einen tun sich zu zweit oder zu dritt zusammen und besprechen ihre Projekte. Die andern töggelen noch einmal eine Runde. Es geht zu wie in einem Bienenhaus, dabei hat Chef Bigger keinen einzigen Sachauftrag erteilt.

Der 23-jährige Jazzschulabsolvent Lämmle aus dem thurgauischen Eschlikon lobt das ICF. «Kaum jemand kann in meinem Alter als Profi von der Musik leben.» Drei CDs haben sie dieses Jahr aufgenommen. Lämmle schreibt, arrangiert, singt. In den vier Wochen Abwesenheit, in denen Lämmle einem andern Vater diente, dem Vaterland, ist viel gelaufen. Die Band verzieht sich, um sich zu besprechen, in den Whirlpool. Und mich chauffiert Leo Bigger in seinem VW Golf nach Hause zu Matthias Bölsterli. Es ist ein fröhlicher Morgen, er zwinkert, und der rote Lack von Biggers Kiste ist so matt und abgeschossen, dass er ins Rosa geht.

Wir sind in Bölsterlis Stube. Sie liegt unter dem Dach in einem alten Bauernhaus in der Mitte von Höngg. Die Balken sind weiss, die Wände gelborange übermalt. Teppiche und Polstermöbel sind weich. Es ist gemütlich.

Anwesend sind nebst Bölsterli Susanne Bigger, Michael Sieber und Dani Grando. Susanne ist zuständig für den Bereich der Seelsorge. Sie ist die Frau von Leo Bigger. Michael Sieber ist Sportstudent und organisiert die ICF-Camps und -Sportanlässe. Dani Grando ist Raumplaner und zuständig für die Ehevorbereitungen – in langwierigen Tests werden hier Heiratswillige auf ihre Übereinstimmungen und Verschiedenheiten abgeklopft.

Es geht um Soziales. Wie jede Kirche fühlt sich auch ICF verantwortlich für Gestrandete und Problembeladene. Sie betreibt Seelsorge. Sie unterhält das Projekt «One love», innerhalb dessen zehn Prozent des Geldes, das sie als Zehnten von den Mitgliedern erhält, Bedürftigen zukommt.

Doch es gibt Probleme. Susanne Bigger fehlt eine Person, die weitere Seelsorgerinnen und Seelsorger ausbildet. Für ein Camp mit 60, 70 Personen, das über Neujahr auf der Rigi stattfinden soll, fehlt noch der Koch. Eine Mitarbeiterin der Verwaltung fühlt sich offenkundig nicht wohl an ihrem Platz. Und Dani Grando braucht ein Paar für seine Kurse.

Während die Kirche wächst, stösst ihre Verwaltung an Grenzen. Es ist die Kehrseite des Erfolgs, die hier diskutiert wird. Die Beteiligten legen ihr Problem vor. Dann greift Bölsterli zur Gitarre und schlägt einen Akkord an. «Gott, da sind scho wieder mir vom ICF», sagt er und gähnt. «Ich möchte Dich bitten, dass wir einen Küchenchef mitnehmen können, wenn wir am Freitag auf der Rigi rekognoszieren gehen. Ich möchte Dich bitten, dass wir diese Leute sehen, die wir brauchen. Ich meine, Jesus, dem sind auch ganze Scharen nachgelaufen, und dann stieg er auf den Berg und hat eine ganze Nacht lang gebetet, und dann ging er runter, pflückte zwölf raus, und alle waren Volltreffer, sogar de Judas, wo nen verrote het.» Draussen klappern Teller. Bölsterlis Frau kocht.

«Am Anfang war es schon schwierig», sagt Frau Bölsterli an diesem Nachmittag hinter dem Haus an der Dorfstrasse Höngg und stopft das feuchte, kalte Laub in einen gelben Sack, «als er immer weg war und ich wegen der Kinder, die damals noch klein waren, kaum Erwachsene sah, mit denen ich reden konnte. Das war halt fast, wie wenn jemand ein Geschäft aufbaut. Heute mache ich beim ICF Jugendarbeit. Nun geht es besser.»

«Eine Sekte ist keine Sekte», sagt Sektenspezialist Georg Schmid, «wenn sie die Bücher offenlegt.» Von ICF bekomme ich alles. Juristisch ist ICF ein Verein mit fünf Mitgliedern. Die in der Kirche aktiv Mitwirkenden sind nicht Mitglieder des Vereins. ICF stammt nicht aus den USA. Bigger und Bölsterli sowie Vorläufer haben es in Zürich selber erfunden. Die beiden reisen nur jedes Jahr in die USA oder sonstwohin auf die Welt, um erfolgreiche, innovative Kirchen zu studieren und Anregungen zu beziehen.

Seit dem 24.7.2000 besteht beim Kanton Zürich unter ICF ein Handelsregistereintrag. «Zweck» heisst es in einer Ansammlung von Substantiven: «Verkündigung des Evangeliums, Führung von Menschen in eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus. Ermöglichen und Förderung von Gemeinschaften auf biblischer Basis durch Anbieten einer sinnvollen Freizeitgestaltung für Teenager und Jugendliche, finanzielle Unterstützung sozial benachteiligter Familien und Anbieten von spezifischer Beratung, Anbieten von Hilfe für Randgruppen, Förderung des Kontaktes zwischen Menschen aus verschiedenen Sprachgebieten und Kulturen sowie Förderung und Unterstützung von Sozialwerken.»

Wer beim ICF dabei ist, tut grundsätzlich Folgendes: 1. Er oder sie macht Gott zu einem Teil seines Lebens. 2. Er oder sie gibt der Kirche den Zehnten des Lohns. 3. Er oder sie nimmt wöchentlich an einem Workshop teil. 4. Er oder sie führt eine Liste mit drei V.I.P.s. Dies sind beim ICF nicht diejenigen, die auf dem Flughafen den Hintereingang benützen, sondern «sehr wichtige Leute» im eigentlichen Sinn des Worts: Nichtgläubige aus dem Freundeskreis, die, um errettet zu werden, in eine Beziehung zu Gott geführt werden müssen.

Ich bekomme die Lohnliste und die Tabelle mit den Lohnstufen. Der Praktikumslohn beträgt 2700, ein gewöhnlicher Lohn 3700 Franken. Die sechs Mitglieder des Leitungsteams stehen mit 4200 Franken auf der Lohnliste. Der erste unter ihnen – Matthias Bölsterli – hat 4700 Franken. «Gemeindeleiter», Leo Bigger, der im Organigramm über allen steht, hat gleich viel. Dazu kommen Spesen und Zulagen. Verheiratete, deren Partner nicht erwerbstätig ist, erhalten 600 Franken. ICF entrichtet nebst der staatlichen Kinderzulage von 150 Franken eine eigene, 600-fränkige. Alles in allem kommen Bigger und Bölsterli auf 6000, 7000 Franken. Auf der Lohnliste stehen 20 Personen. Ungefähr die Hälfte der Leistungen, die beim ICF erbracht werden, sind bezahlt. Den Rest tun Volunteers.

Ich erhalte den Jahresabschluss und die Adresse der Revisionsstelle. ICF hat 1999 3,7 Millionen umgesetzt. Eineinhalb Millionen waren es ein Jahr zuvor. Die Zahlen fürs Jahr 2000 werden wieder steigen. 1,7 Millionen 1999 stammten aus Spenden und Kollekten. Hier drin liegen die Zehnten. 4000, 5000 Franken sind es, die wöchentlich in der Alten Börse an Kollekte zusammenkommen. Sie werden von einem der «Usher» noch am Sonntag ins Büro gebracht. Von dort geht’s am Montag auf die Bank. Alles andere wird direkt gebucht.

Wer wie viel als Zehnten bezahlt, wird nicht fichiert. Es gibt ein einziges Adressfile, das auf allen Computern auf dem Server liegt – ein mittleres Datenschutzproblem, wie man beim ICF zugibt. Erfasst wird mit Name, Adresse, Telefonnummer und E-mail, wer einen Workshop besucht und damit verbindlich zum ICF gehört. Die Liste umfasst etwa 500 Personen. Die Adressen derjenigen, die sonst etwas spenden, werden nicht verwaltet. Im Augenblick verbraucht das ICF monatlich etwa 180 000 Franken. Gäbe es einen Spendenstopp, würden die Reserven für genau einen Monat reichen.

Matthias Bölsterli hat mir eine Filmkassette mitgegeben. In «Transformation» führt uns ein rühriger, akkurat gescheitelter amerikanischer Pastor namens George Otis Jr. durch vier Städte – Cali in Kolumbien, Kiambo in Kenia, Hemet in Kalifornien und Almolonga in Guatemala -, in denen durch Bekehrung eines Grossteils der Bevölkerung Alkohol und Aberglaube, Gewalt und Terror eines Drogenkartells, östliche Weisheiten, Scientology und synthetische Drogen oder alles miteinander überwunden wurde. Alle Fälle funktionieren gleich. Es gibt einen charismatischen Prediger, der sich berufen fühlt, der Christengemeinde an diesen gottverlassenen Orten zum Durchbruch zu verhelfen. (Es sind immer Männer, in der Regel begleitet von ihren Ehefrauen.) In nächte- und tagelagen Gebetsessions werden die bösen Mächte gebodigt. Am Ende entscheiden sich 90, 95 Prozent der Bevölkerung für den Glauben und eine moralische Lebensweise, unter ihnen Opinionleaders, zuerst ein Lehrer, dann der Polizeichef, der Fussballtrainer und am Schluss der Stadtpräsident. In Almolonga soll es einen Fall von wundersamer Wundbrandheilung gegeben haben. Für die Christengemeinden in diesen Städten (und für das ICF) ist die Fähigkeit, durch den Glauben heilen zu können, wie es in der Bibel beschrieben ist, Realität. Almolonga hat die Verwandlung Reichtum beschert. Seit die Bevölkerung im Namen Gottes wandelt, wachsen sowohl die Gemüseerträge als auch die Grösse der gewonnenen Früchte. Angereiste Wissenschafter sollen für das «Wunder» keine Erklärung wissen.

In Zürich sind die charismatischen Prediger Matthias Bölsterli und Leo Bigger. Daniela Baumann, die Exfrau von DJ Bobo, Mister Schweiz Claudio Minder und ein paar gutverdienende Leute aus der Wirtschaft sind die Opinionleaders.

Bölsterli sitzt mit einer schwarzen Wollkappe auf dem Sofa seiner Stube. Er trägt einen nicht hochweissen Kapuzenpulli Marke Blend. Die Turnschuhe behält er an. Mit der Zeit rutscht er im Sofa immer tiefer.

Bölsterli wurde 1951 als Sohn eines Methodistenpredigers aus St-Croix geboren und wuchs in Neuchâtel auf. Als er 16 war, kam die Familie nach Zürich. Bölsterli musste erst Deutsch lernen. Die Verpflanzung erfolgte rechtzeitig zur Ablösung von seinen Eltern und zum Globuskrawall. Beim Bob-Marley-Konzert in Oerlikon will er dabei gewesen sein. Bölsterli stand damals der Poch nahe. Hin und wieder gibt er den heutigen ICF- Aktivistinnen und -Aktivisten zum Besten, dass er in jener Zeit Polizisten verprügelt habe – nach den Geschichten über die Vorvergangenheit Joschka Fischers vielleicht keine so schicke Anekdote mehr.

Was bleibt, nachdem die Polizisten zurückgeprügelt haben, ist das Kiffen. Bölsterli weilt nebst Zürich in Rom und Tanger und lernt, wie man Shit verschiebt. Er hat genug, ja er hat viel Geld. Er hängt herum, konsumiert selber, verbraucht Frauen – so muss man sich das vorstellen. Irgendwann folgt eine Reise von Marokko nach Kairo. Die Einsamkeit in der Wüste Libyens tut gut. In Kairo angekommen, beginnt alles von vorn. Bölsterli spürt, dass er sich entscheiden muss. Der Glaube winkt.

Obwohl er in der Schweiz in einem Prozess wegen bewaffneten Raubüberfalls, bei dem er eine Waffe trug, von der er aber nicht Gebrauch machte, eine bedingte Verurteilung erhalten hat, bekommt er das Leumundszeugnis, das es ihm erlaubt, Sekundarschullehrer zu werden. Er studiert auch Psychologie. Das Studium verdient er sich als Kursreporter an der Börse. Sein heutiger Verweil in der Alten Börse ist also bloss eine Wiederkehr. Ab 1990 engagiert er sich in der Limmatgemeinde, dem Vorläufer des ICF. Früher handelte er mit Afghan. Heute bringt er die Ware Gottes unter die Leute.

«Matthias, wie stellst Du Dir eine erweckte Stadt Zürich vor?»

«In einem erweckten Zürich werden 94, 96 Prozent stehen bleiben und sich zu Jesus Christus bekennen. Ein Grossteil der Bevölkerung wird sein Leben auf den Glauben ausrichten und den Egoismus überwinden. Die Menschen rennen dem Materialismus und dem Sex hinterher. Gott spricht von bitteren Quellen. Durch den Glauben an Gott wird man von Dingen wie Sex, Drogen und so weiter frei, für die man einen hohen Preis zahlt und bei denen es ist wie beim Coci trinken: Nachher hast Du noch mehr Durst. Die Schweiz als Ganzes würde segnend, gebend werden.»

«Eine solidarische Schweiz also. Wo stehst Du politisch?»

«Wenn man bei uns eine politische Umfrage machen würde, dann würde man sehen, dass es bei uns von der SP bis zur SVP alles gibt.»

«Was ist Dir sympathischer?»

«Ich suche überall edle Leute. Es gibt sie überall und überall zu wenig.»

«Was hast Du beispielsweise am 26. November 2000 bei der Armeehalbierung gestimmt?»

«Da war ich dagegen.»

«Du gehörtest mal zur Poch und warst hier dagegen. Wie soll das aufgehen?»

«Ich kann Dir sagen, wie ich stimme. Ich stimme immer sozial, also zugunsten der Ausländer oder weiterer Minderheiten. Ich stimme immer für die Familie. Ich stimme immer für die Umwelt. Und ich stimme immer für eine starke Wirtschaft, weil ich der Überzeugung bin, dass wir eine stabile wirtschaftliche Basis brauchen.»

«Du stimmst für die Schwächeren. Du hast ein Herz für die Minderheiten, bei uns und im Süden der Welt. Aber bei den Schwulen musst Du einen anderen Kurs fahren, weil sie Deine Vorstellungen von Familie tangieren.»

«Stimmt.»

«Einfach an Gott glauben» und alles wird gut. Ihr erzählt gerne, dass beim ICF nun auch Prominente aus dem Showbusiness wie Daniela Baumann oder Claudio Minder sowie einige Leute aus der Wirtschaft dabei sind. Die Schönen und Reichen müssen, wenn sie einmal auf dem Zahnfleisch laufen, einfach ein bisschen beim ICF dabei sein, und schon sind sie auch noch glücklich.»

«Nein, das ist nicht so. Jesus beginnt ihr Leben zu ordnen. Sie beginnen mit weniger Geld zu leben.»

«Was sagst Du den Leuten aus der Wirtschaft, die bei Euch dabei sind?»

«Ich sage ihnen, lasst Gott in Euer Leben hinein! Teilt Brot! Werft all den Schrott weg!»

«Das sagst Du ihnen so?»

«Ja. Gott selber spricht von den Bäumen der Gerechtigkeit.»

«Ist die Idee der Gerechtigkeit eine, die Dich trägt?»

«Ja.»

W.B., der Sohn eines niederen Angestellten des Küchenfabrikanten Francke in Aarburg, hat gekämpft. Seine Eltern waren Angehörige der Brüdergemeinschaft. Diese legt das Bibelwort 1:1 aus, wenn es ginge, noch genauer. Nie durfte W.B. etwas Modernes anziehen. Immer wurde er gehänselt. Zuerst machte er das KV. Dann wurde er Broker, zuerst einer Schweizer, dann einer amerikanischen Firma. Er war im Privatkundengeschäft tätig. Er wurde reich. Wirtschaftskräfte in der Schweiz zählen zu seinen Freunden. Nun konnte er sich alles leisten. Er hatte einen Ferrari und eine Vorzeigeloft im Steinfels-Areal.

Der Crash kam 1999. Nach einer beruflichen Pause, in der er in einem Camp für Triathlon-Professionals in den USA trainiert hatte, und nachdem er sich wieder einmal von seiner Freundin getrennt hatte, befielen ihn Angstdepressionen. Nach einem Wochenende fuhr ihn ein Freund in die Poliklinik. Es ist Zeit, dass Sie kommen, sagte man ihm und verschrieb Antidepressiva. Ein halbes Jahr ging er in eine Psychotherapie. Aber auf eine Frage erhielt er keine Antwort: Was kommt nach dem Tod? Sein Bruder, ein Arzt, nahm ihn mit ins ICF. Was Leo Bigger genau predigte, daran erinnert sich W.B. nicht mehr. «Aber er sprach direkt in mein Leben.»

Wir sitzen im «Aroma», der Café-Ausgabe von McDonalds, in Zürich und trinken Kaffee aus dem Halbliterpappbecher. Er sieht gut aus, hat blaue Augen, schön geschnittene Lippen und eine wunderschöne, weisse Zahnreihe. Auf dem Kopf sitzt eine Baseballmütze mit dem Logo des Hawaii-Triathlon «Ironman».

W.B. teilt die Vision von Matthias Bölsterli einer gerechten Welt, jedenfalls die Vorstellung der Nächstenliebe. «In der dritten Welt dem Einen geben ist ungerecht. Der Andere hat dann wieder nichts.» Er unterstützt statt dessen seine Mutter oder seine Schwester, als sie in Scheidung war. «Es gibt auch in der Schweiz genug Not. Wenn jeder seinen Nächsten liebt, ist man irgendwann auch in Afrika.» Es ist sein letzter Tag in Zürich. Morgen fährt er in die Ferien zum Skifahren ins Berner Oberland, in einem Audi A4 Kombi, gegen den er seine beiden Ferrari eingetauscht hat, über eine Zwischenstufe, in Form eines Porsche.

W.B. leitet im ICF den sogenannten «Promi-Workshop». Mit dabei sind: Nadja, Modell. Daniela Baumann, Exfrau von DJ-Bobo. Jeannette Meier, Erotics-Sängerin. Richard, Marketingfachmann. Thomas, Inhaber eines Küchenbauunternehmens. «Diese Personen brauchen gegenüber der Öffentlichkeit einen besonderen Schutz.» Und so bleibt das exakte Tun der ICF-Prominenten der Öffentlichkeit verborgen – wie auch der Name von W.B.

In den Augen Gottes dürften alle Menschen besonders sein, auch kommune, und so besuche ich statt dessen den Workshop von Hasan Baraniq (Namen und Angaben in diesem Abschnitt geändert), Sohn eines Libanesen und einer Aargauerin, 27, Teilzeitverkäufer in einem Musikgeschäft. Die Teilnehmenden sind zu Gast in der Blockwohnung von Bernadette Ganz. Ganz ist 28, Zürcherin, gelernte Damenschneiderin und leitet in der Stadt eine Modeboutique. Sie öffnet die Tür in einem schwarzen Hosenkleid. Das Top ist kurz, der Bauchnabel frei. Um die Hüfte ist eine Kette geschlungen. Sie ist die Freundin von Hasan.

Die meisten weiteren Anwesenden sind Ostschweizer. Es sind Ahmad Baraniq, 26, der Bruder von Hasan, er holt gerade die Berufsmatur nach, Gerhard Meyer, 29, Bauführer, zurzeit in Weiterbildung, und Norbert Affolter, 36, Agronom. Ahmad ist verheiratet mit Sonja, 23, Primarlehrerin im Limmattal, Gerhard mit Anja, 28, Dentalhygienikerin, und Norbert mit Wilma, 33, Buchhalterin des ICF. Der einzige Single ist Christian Wanner, 28, technischer Leiter bei einem Pharmaunternehmen und Hobbyastronom.

Sie ärgern sich darüber, dass in Zusammenhang mit dem ICF immer von Sex vor der Ehe oder dem Zehnten, den sie bezahlen, die Rede ist.

Sex vor der Ehe.

Bernadette: «Man lernt sich kennen und geht dann ins Bett miteinander. So machte ich das früher. Als ich Hasan kennenlernte, wusste ich ja, dass er eine klare Linie hat. Als ich dann die Entscheidung traf, war es kein Thema mehr.»

Hasan: «Ich hatte noch nie eine Freundin vor Bernadette und habe noch nie mit einer Frau geschlafen. Ja, das ist vielleicht krass. Aber ich wollte gar keine Freundin. Ich war gern unabhängig.»

«Was bringt Euch das Warten?»

Bernadette: «Oft wird Oberflächlichkeit mit Sex kompensiert. Sex kostet auch Zeit, die zum Reden über Dinge fehlt, die wir sonst in unsere Gemeinschaft, in unsere Ehe hereinnehmen. Die diskutieren wir jetzt. Das gibt eine andere Qualität. Niemand hat es uns aufgezwungen. Wir machen es nicht wegen Leo und Matthias.»

Ahmad: «Wir haben vorher schon miteinander geschlafen, dann aber bis zur Ehe bewusst noch verzichtet.»

Gerhard: «Auch wir schliefen vorher miteinander. Als man uns sagte, das ist nicht gut, wollten wir wissen, wieso. Die Bibel ist ja nicht eindeutig. Gopfertelli, solang es nicht eindeutig ist, machen wir das, sagten wir. Dann fragten wir Gott selber. Wenn es so ist, dann muss er es uns selber sagen. Danach fühlten wir uns immer dreckig, beschmutzt.»

Christian: «Ich gebe zu, dass ich oft unzufrieden und einsam bin. Aber ich suche nicht in erster Linie Sex, sondern einen Menschen, der zu mir steht und mich in den Arm nimmt. Dies kann ich im Glauben nicht finden. Dazu brauche ich einen Menschen.»

Gerhard: «Wenn in der Zeitung etwas über das ICF steht, ist immer Sex im Vordergrund. Sex ist ihnen wichtig, aber was passiert, wenn sie sterben, ist ihnen scheissegal. Warum reagiert die Gesellschaft so darauf, dass wir gegen den Sex vor der Ehe sind? Weil wir sie dort angreifen, wo sie sich versteckt – hinter dem Sex.»

Die Rolle der Frau.

«Die Familie soll ein Haupt haben. Doch Haupt ist nicht gleich Macht. Ich bin auch Diener von Bernadette. Wir sind gleichwertig.»

Ahmad: «Gott sagt, der Mann ist der Leiter, der Verantwortliche vor ihm. Wenn ein Getto herrscht, muss man wissen, wer entscheidet. Ich sah Ehen, wo man das ausnützt, ohne Liebe. Wir funktionieren partnerschaftlich. Meistens sehen Frauen weiter. Frauen leiten besser. Männer sind häufig skrupellos.»

Gerhard: «Ein weiser Ehemann bezieht seine Frau mit ein. Wie wir uns organisieren, hat mit unserem Charakter zu tun, nicht mit dem Glaubenskontext. Bei Euch ist zum Beispiel Sonja die Entscheidungsfreudigere. Du, Ahmad, entscheidest gar nicht so gern. Bei uns ist es umgekehrt.»

Ahmad: «Wenn ich mal Kinder habe, würde ich gern 50 Prozent zu Hause sein. Sonja würde gern arbeiten.»

Gerhard: «Eine Frau mit Kindern sollte 100 Prozent zu Hause sein.»

Ahmad: «Das seisch jetzt Du.»

Hasan: «Das ist gut. Es ist verschieden. Die Bibel sagt dazu nichts.»

«Der Zehnte.»

Sonja: «Viele von uns geben mehr!»

Gerhard: «Wir geben es gern!»

Sonja: «Wir geben es auch zurück. Beim Kindergottesdienst in der Alten Börse geben wir den Kindern Znüni und brauchen Material zum Spielen. Das kostet.»

Gerhard: «Gott gab mir alles! Dass ich Musik machen kann, dass ich arbeiten kann, dass ich eine Beziehung zu einer Frau habe, das habe ich nicht selber produziert. Da ist es für mich anmassend zu glauben, der Lohn sei mir! Eigentlich gehört ihm ALLES!!!»

Sie beginnen zu spielen. Die Musik tönt nun etwas mehr nach Kirchenjugendgruppe. Gerhard, der knorrige Thurgauer, spielt die Gitarre mit etwas gar hochgezogenen Schultern. Norberts braune Socken schlagen den Takt auf dem Parkett. Hasans Vortrag ist weniger geschliffen als derjenige der Vorbilder in der Alten Börse.

Aber dafür gibt es hier wenigstens auf 15 Quadratmetern Ernst. Hier denken sie wenigstens nach und hören einander zu. Anja oder Sonja haben wenigstens ein Weltbild, und das qualifiziert sie gegenüber der Mehrheit der Gleichaltrigen in diesem Land, die S-Bahn fahren, von 7 bis 23 Uhr am Handy herumdrücken, mit einem Innenleben, das aussieht wie eine Doppelseite aus einem Eschenmoser-Katalog.

«L.+S. Bigger» steht auf dem Briefkasten. Kirchenführer Bigger (und Familie) wohnen bescheiden – in einer Wohnung eines Blocks mit rotem Farbanstrich einer 50er-Jahr-Siedlung in Albisrieden. Als erstes beim Eintreten sieht man das Schlafzimmer. Die Tür steht offen. Darin steht diagonal gestellt das Ehebett. Viel anderes hat nicht darin Platz. Auf dem Balkon steht der Plastictraktor von Sohn Simon. Das Fahrzeug füllt den Balkon in seiner Breite und hat den Aufkleber «Leider ist mein Fahrstil für Fromme nicht geeignet».

In einer ähnlichen Wohnung ist Bigger auch aufgewachsen, am Rande des Zentrums des st. gallischen Buchs. Der Vater ist Rangierarbeiter und am liebsten bei den Küngeln. Die Mutter ist kontaktfreudig und kennt das halbe Dorf. Die Familie ist katholisch. Der Familienzusammenhalt ist gut. An den Wochenenden wird immer etwas unternommen. Nur etwas trübt das Familienleben. Der Vater trinkt. Einmal ist er besoffen, bevor noch der Christbaum brennt. «Der Teufel findet immer einen Ort, wo er hereinkommen kann», predigt Leo am Heiligen Abend.

Der kleine Leo treibt Sport. Er ist unablässig physisch aktiv. Er ist der Rädelsführer der Kinder. Wenn man ihn lässt, muss man ihm fünfmal am Tag die Kleider wechseln. Die Mutter lässt ihn. Das gibt ihm Boden unter den Füssen und die reine innere Sicherheit, die er heute hat. Im Jugendlichenalter organisiert er Discos. Er hat eine Hardrockband: «Blackout».

Bigger ist Offsetdrucker geworden. In Zürich bildete er sich zum Laientheologen aus. Zur selben Zeit wie Matthias Bölsterli schloss er sich dem ICF an, seit Mitte der neunziger Jahre ist er der Leiter. Bigger ist der, der, nachdem er in der Alten Börse Amen gesagt hat, das Handy einstellt und die Fussballresultate abfrägt. Es ist eine kleine Ungereimtheit der Schöpfung, dass während der Fussballmatches ausgerechnet der von Gott verordnete Ruhetag stattfinden muss.

Bruno Bigger, Leos älterer Bruder, hat es, weil er besser stillsitzen konnte, zu einem Technikumabschluss gebracht. Heute ist er für «ICF unlimited» zuständig. Das heisst, er sorgt dafür, dass es binnen einiger Jahre ein ICF in jeder europäischen Stadt geben wird – dies zumindest ist das erklärte Ziel von ICF. Bruno Bigger ordnet sich seinem Bruder unter.

Weihnachten ist da. Ein grosser Tag für die 25-jährige Monique Dungar, die zwei Monate lang einen Kindergottesdienst vorbereitet hat. 60 Kinder stehen auf der Bühne. Die Lichtanlage wirbelt Schneeflocken.

Die restlichen drei Predigten dieses Tags spricht Bigger. Als ihm entfällt, was die heiligen drei König nebst Gold und Myrrhe brachten, und statt Weihrauch Wein sagt, liefert das Publikum das richtige Stichwort und taxiert eben diese Ungeschliffenheit als den Vorsprung, den das ICF der Landeskirche voraus hat. «Niemand von uns schafft es aus eigener Kraft», lautet die hoffnungslose Botschaft an die Ungläubigen. «Daher hat der Ewige Jesus geschickt», heisst es hoffnungsvoll für die Gläubigen. Sänger Simon Lämmle hat die Haare ganz geschnitten. Er singt: «Die Blinden werden sehen. Die Tauben werden hören. Die Toten werden lebendig.» Er singt es mit Sex-Appeal, wie wenn es um Sex gehen würde.

Im Gewühl im Foyer suche ich Willy Oehninger. Oehninger ist der Bauer jenes 20-Hektar-Betriebs, auf den Bigger und Bölsterli sich jede Woche zurückziehen, um ihre Predigt zu schreiben. Er gehört einem Gremium an, welches das ICF als geistlichen Rat bezeichnet. Die jungen, enthusiastischen Kirchenführer Bigger und Bölsterli bezeichnen ihn als Vaterfigur. Oehninger überragt mich um einen Kopf. Er legt mir seine rechte Hand auf die Schulter. Er sagt: «Ich segne Dich im Namen Jesus. Du bist sensibel. Über Dir liegt eine Einsamkeit. Sie wird Dir weggenommen werden. Du wirst Leute zusammenbringen und vernetzen.» Oehninger ist ein warmherziger Mann. Was er sagt, wirkt authentisch.

Es gibt auch Abtrünnige, zum Beispiel M.G., die das ICF schon seit Anfang der neunziger Jahre kennt. «Zuerst ging ich nur ab und zu. Wie wenn man ins Kino geht, gehst Du ins ICF. Es ist ein moderner Sound. Es sind alles Junge. Es ist lässig. Später besuchte sie auch einen Workshop. «Vor allem mit dem V.I.P.-Züg bekam ich mit der Zeit Mühe. Die Liste mit dem V.I.P.s kam mir fast fichenmässig vor. Ich fragte mich, ob wir diese Leute als Freunde haben, weil sie unsere Freunde sind oder weil wir sie reinziehen wollen.»

M.G. drückt sich differenziert aus. Sie will ihre ehemaligen Kolleginnen und Kollegen nicht schlecht machen und möchte aus diesem Grund auch nicht an die Öffentlichkeit. «Es gibt viel derbere Kirchen, bei denen die Leute so durchgeknallt sind, dass sie beten, um zu wissen, welchen Zug sie nehmen sollen.» Das alles sei beim ICF nicht der Fall. «Man lernt extrem viel Leute kennen. Das ist ein Anziehungspunkt.»

Eine gewisse Oberflächlichkeit bleibe trotzdem. «Mir fiel auf, gerade die, die auf der Bühne das Sagen haben, die coolen, die lässigen, hübschen Christen, die nehmen sie als Zugpferde, um die neuen Leute reinzuziehen. Aber es gibt auch beim ICF Leute, zu denen aus christlicher Nächstenliebe alle nett sind, aber man findet sie doch ein wenig schräg. Man ist dann halt verpflichtet, sie doch mitzunehmen.» Vielleicht ist es im ICF also doch wieder ähnlich wie überall sonst auf der Welt. «Es ziehen sich immer wieder einige zurück. Denn immer extrem drauf sein, extrem on fire for Jesus, das schaffen die wenigsten, habe ich das Gefühl.»

Hinter Biggers Pult steht auf einer Kommode ein hölzernes Modell. Es ist das Modell der Mehrfachturnhalle, die das ICF gerne bauen würde. Man hat nachgerechnet, dass man mit den 40000 Franken, die man im Monat für die Miete der Börse bezahlt, ebensogut zehn Millionen verzinsen könnte. Dann zieht Bigger aus der Kommode eine Kiste hervor, die mindestens ebenso gross wie das Modell ist. «Wotsch e Zigarre?» Ich lehne dankend ab. Der Vergleich mit den zigarrenrauchenden Führerfiguren der Geschichte drängt sich auf. Bigger hat damit keine Mühe. Er klopft mir auf die Schulter und sagt: «Ich bin en Leader.»

Am 1. November 2000 hat Leader Bigger die Pfarrer sämtlicher Freikirchen der Stadt Zürich in das Vier-Sterne- und Fifa-Lokal «Sonnenberg» eingeladen. 48 stiegen hinan. «Wir sind verschieden», sagte ihnen Bigger. «Aber wir haben denselben Glauben. Danke. Guten Appetit.» Die Ansprache dauerte drei Minuten. Es gab Champagner, Nüsslisalat, Filet. 9000 Franken kostete die Geste. «Andersch bringsch si nöd us ihrer Hütte», sagt Matthias Bölsterli etwas weniger auf die höfliche Form bedacht. Dann steigen beide in Biggers roten Golf und fahren fort. Die Karosserie glänzt heute. Jemand aus dem Workshop hat sie poliert.

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