Besuch eines eritreisch-orientalisch-orthodoxen Gottesdienstes

Regina Zoller, 2013

Die Eritreisch-Orthodoxe Tewahedo-Kirche ist eine christliche altorientalische Kirche in Eritrea, die sich auf historische Nähe zur Koptischen Kirche bezieht. In Folge der Unabhängigkeit Eritreas im Jahre 1993, nach einem langen und blutigen Bürgerkrieg mit Äthiopien, spaltete sie sich 1998 ab von ihrer Mutterkirche, der Äthiopisch-Orthodoxen Tewahedo-Kirche (von der sie sich jedoch in Liturgie und Lehre nicht unterscheidet) und erhielt die Autokephalie mit der Ernennung eines ersten eigenen Patriarchen durch den koptischen Papst Schenuda III von Alexandrien. In Eritrea hat sie zwei Millionen Mitglieder, das sind etwa 45% der Einwohner. Die im Alltag nicht mehr verwendete Kirchensprache ist Ge’ez. «Tewahedo» bedeutet Einheit, womit die Einheit der göttlichen und menschlichen Natur in der Person Jesu Christi gemeint ist. Die gegenwärtige eritreische Staatsführung setzt die Kirchenführer Repressionen aus und unterstützt Kreise, die den Islam zur Staatsreligion ausrufen möchten.

In der Schweiz besitzt die Eritreisch-Orthodoxe Tewahado-Kirche kein eigenes Gotteshaus. Ihre Mitglieder sind sämtlich Asylsuchende oder bereits anerkannte Flüchtlinge. Die einzelnen Gemeinden haben erst informelle Strukturen. Geleitet werden die Gottesdienste stets von männlichen Priestern, den Frauen fallen Aufgaben im sozialen Bereich zu. Alle Arbeit wird ehrenamtlich geleistet. Die Unkosten werden durch die Kollekte gedeckt. Die Kirche wurde jedoch am 10. März 2010 als 21. Mitglied in die AGCK-Zürich (Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen im Kanton Zürich) aufgenommen.

An einem kalten Novembermorgen finde ich mich um 07.20 mit einer Freundin zusammen bei der reformierten Kirche in Schlieren ein. Wir wurden von einer ihrer Bekannten, einer eritreischen Frau mittleren Alters, eingeladen, dem Gottesdienst beizuwohnen, der ca. alle zwei Wochen stattfindet. Die Eritreisch-Orientalisch-Orthodoxe Kirche hat in dieser Kirche Gastrecht erhalten. Unsere Gewährsfrau findet im Gottesdienst Halt und ein Zugehörigkeitsgefühl und kann so ihre schwierige Lebenssituation fern von Heimat und Familie besser bewältigen.

Sie ist nicht die einzige. Als wir eintreffen, ist der Gottesdienst schon in vollem Gange. Immer mehr Gläubige aus dem ganzen Kanton finden sich ein, und am Ende des Gottesdienstes, um ca. 12.15, schätzen wir ihre Zahl auf ca. 300 Erwachsene. Bis 10 Uhr ist es relativ ruhig, Männer und Frauen sitzen getrennt. Die Männer tragen Alltagskleidung oder Anzug, gelegentlich ein weisses Tuch. Die Frauen sind in der Überzahl, sie sitzen rechts im Raum und tragen alle ein grosses weisses Tuch als Symbol der Reinheit über Kopf und Oberkörper, z.T. mit schöner Bordüre, viele verfügen auch über weisse Jupes. Sie sind eine Augenweide. Junge Mädchen haben sich schön gemacht. Hübsch gekleidete Kinder wandern zwischen Müttern und Ersatz-Tanten und Vätern hin und her und auch Kleinkinder verhalten sich bemerkenswert gesittet. Oft werden sie von grösseren Geschwistern gehütet. Die zahlreichen Babys werden die ganze Zeit gehalten, auch gestillt und schlafen wieder kurz ein. Niemand scheint zu ermüden, auch wenn im Verlaufe des langen Gottesdienstes oft aufgestanden wird und beim Gebet – wer immer diese Möglichkeit hat – kniend mit der Stirn der Boden berührt wird. Die Frauen (jüngere und ältere) wiegen den Körper auch immer wieder hin und her.

Ein Blick in die Kirche zeigt einen vor dem Altarraum aufgespannten dunkelroten Vorhang mit einem Christus-Bild, der die für die orthodoxe Kirche vorgeschriebene Ikonostase herstellt. An den Seitenwänden sind provisorisch Bilder mit biblischen Motiven aufgehängt; ein Christus mit Dornenkrone trägt ein europäisches Gesicht. Der Priester und seine drei Messdiener oder Diakone sind schön gewandet in Weiss und Gold, ein paar Jünglinge fungieren als Ministranten. Weihrauch durchdringt die Kirche, der Kessel wird immer wieder geschwenkt.

Nach 10 Uhr verlässt der Priester für einige Zeit den Kirchenraum, um im Untergeschoss eine Taufe vorzunehmen. Wir dürfen ihm folgen. Der Säugling wird nackt über ein Plastikbecken mit Wasser gehalten und mit Wasser und Öl getauft. Der Priester umrundet das Becken dreimal, dreimal werden die Füsschen ins Wasser getaucht. Ein Kreuz wird dem Täufling auf Stirn und Wange gezeichnet. Die Mutter trägt eine fein gezöpfelte Perücke mit gold-braunem Haar, die jeweils bei festlichen Gelegenheiten aufgesetzt wird. Die Männer der Taufgesellschaft machen Fotos und Video-Aufnahmen.

Wir dürfen auch einen Blick in einen kleinen Nebenraum werfen, wo Kinder dicht gedrängt auf dem Boden sitzen und eine Art Sonntagsschule geniessen. Auch hier findet ein Kommen und Gehen statt.

Oben in der Kirche ist der Gottesdienst, für dessen genaueres Verständnis uns ja leider die Sprachkenntnisse fehlen, indessen weitergegangen. Singsang und Weihrauch hüllen uns wieder ein. Der Ablauf des Gottesdienstes folgt dem Ritus dieser orthodoxen Kirche mit monoton wirkenden Gesängen, Gebeten, Lesungen, Predigt, Katechese, Eucharistie. Die Gemeinde antwortet mit Gemurmel, es tönt wie Responsorien. In ihrer eher oralen Kultur werde alles auswendig gelernt, sagt unsere Gewährs- frau. Mehrmals wird ein mit einem Stoffbild bedecktes Evangeliar durch die Reihen getragen und von den Gläubigen dreifach mit Stirne und Mund berührt. Beim Abendmahl erhalten zuerst die Babys mit einem Löffel geweihtes Wasser in den Mund, anschliessend kriegen die Kinder ein Stücklein Brot. Erst dann sind die Erwachsenen an der Reihe. Der Priester wird dabei von einem grossen, geschmückten Schirm wie von einem Baldachin überdacht. Wie uns unsere Gewährsfrau erläutert, sollen die Mütter die Kinder später zu Hause ruhig halten und ihnen kein Wasser geben, um die Wirkung des Abendmahles nicht zu stören. Der Segen entstammt dem Matthäusevangelium.

Erst gegen Ende des Gottesdienstes werden Trommler aktiv, eine gemischte Gesangsgruppe tanzt, alle klatschen in die Hände, Frauen geben Trillerlaute von sich. Die Geräuschkulisse ist enorm.

Als wir schlussendlich draussen unsere Schuhe wieder anziehen, wird uns Brot gereicht. Wir tauchen wieder auf aus diesem interessanten Gesamterlebnis, das alle Sinne beanspruchte.

Meiner Freundin, die katholisch aufgewachsen ist, kam natürlich Vieles vertrauter vor als mir.

Der eritreischen Gemeinschaft kommt unter den Migrationsgemeinden in der Schweiz eine gewisse Bedeutung zu, da sie seit einiger Zeit die grösste Gruppe von Asylsuchenden stellt, die dann auch meist den Flüchtlingsstatus oder zumindest den Status der vorläufigen Aufnahme erhalten. Dies kann sich allerdings ändern, da mit der letzten Asylgesetzrevision Dienstverweigerung als Asylgrund wegfällt. Ihre Zahl wuchs auch durch den Nachzug der kinderreichen Familien. Der Zwang zu jahrelangem, in der Dauer unbestimmtem Militärdienst, Repression und Perspektivenlosigkeit in der Heimat fördern die Emigration. Der grösste Teil dieser Flüchtlinge sind orientalisch-orthodoxe Christen.

Als MigrantInnengruppe sind die EritreerInnen eher unauffällig und oberflächlich gesehen anpassungsfähig. Die Diaspora ist jedoch zerstritten und gespalten in zwei politische Lager (Regimegegner/Regimeanhänger), sodass es in der Vergangenheit gelegentlich zu internen tätlichen Auseinandersetzungen kam. Das Bundesamt für Polizei hat auch schon wegen Schutzgeld-Überweisungen (aus Furcht um die Sicherheit der zurückgebliebenen Verwandten in Eritrea) ermittelt.

Es wäre spannend zu erfahren, ob die beiden Lager trotzdem in ihrer Kirche zusammenfinden, dass diese also eine Klammerfunktion hätte. Unser Gottesdienstbesuch zeigte uns in eindrücklicher Weise, wie wichtig dieser Anlass für die EritreerInnen in der Schweiz ist. Nicht nur im Kanton Zürich finden solche gut besuchten Gottesdienste statt. Ein meiner Freundin bekannter, jüngerer Eritreer, mit dem wir nach der Taufe im Untergeschoss noch sprachen, äusserte sich dahingehend, dass es für sie alle sehr notwendig sei, zur richtigen Lebensführung angeleitet zu werden, vor allem, da sie ja in der Schweiz noch fremd seien. Auch wenn der noch relativ junge Priester selbst, in unserem Fall, erst vor sechs Monaten in die Schweiz kam und (noch) nicht deutsch spricht, so sehen die Gläubigen in ihm einen Boten aus der Heimat. Dort wurde er ausgebildet, und seine Autorität wird nicht infrage gestellt.

Der Soziologe Georg Elwert hat 1982 den Begriff der «Binnenintegration» formuliert, der besagt, dass die sozialen Beziehungen zu Mitgliedern der eigenen Subkultur, d.h. die Integration in die eigene ethnische Gemeinde, sehr hilfreich sind für die weitere Interaktion mit der Aufnahmegesellschaft. Sie befördern das Alltagswissen, verhelfen zu einem stabileren psychischen Zustand und vermitteln Werte wie Hilfe, Vertrauen und Solidarität. In diesem Sinne können m.E. der Gottesdienstbesuch – neben der religiösen Funktion – und nachfolgende Kontakte zu Landsleuten durchaus eine stabilisierende und integrative Wirkung entfalten.

Und noch ein Aperçu: In einem Bericht in der Limmattalerzeitung vom 5.11.2010 schreibt Franziska Schädel, den Kanton Zürich verbinde mit den EritreerInnen mehr, als man vermuten würde. Die drei Zürcher Stadtheiligen und Märtyrer Felix, Regula und der Diener Exuperantius seien der Legende nach koptische Christen aus Ägypten gewesen und hätten im 3. Jahrhundert in der Thebäischen Legion des römischen Heers gedient. Ihr weiteres Schicksal ist uns bekannt.

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