Besuch bei einem spiritistischen Gottesdienst

Prof. Georg Schmid, 2018

Ein Freund einer meiner Freunde ist Brasilianer, schon als Kind als Spiritist aufgewachsen und auch heute in der Schweiz bei den Spiritisten aktiv. Einen Abend lang diskutiere ich mit ihm über Kardec-Spiritismus. Anschliesssend besuche ich eine der ca. 22 spiritistischen Zentren in der Schweiz (auf der Website der Kardec-Spiritisten sind nur 18 Adressen angegeben.)

Im Kellergeschoss in Zürich Oerlikon sind 30 bis 40 Leute versammelt, zu 90% Frauen. Dies spiegelt das häufigste Modell einer spiritistischen Familie in unserem Land: Er, Schweizer, arbeitete in Brasilien und kommt mit einer brasilianischen Frau zurück in seine Heimat. Unter den vielen Brasilianerinnen in der Schweiz finden sich offensichtlich viele Freundinnen des brasilianischen Spiritismus, was zu der wachsenden Zahl an spiristischen Zentren in der Schweiz führt.

Der Anlass, den ich besuche, war, wie es einmal im Monat geschieht, in Deutsch gehalten, sonst wird immer brasilianisch gesprochen. Eine Schweizerin aus Winterthur, aufgewachsen in Brasilien, hält einen mehr als einstündigen Vortrag über die Talente in uns, die wir uns oft schon in früheren Inkarnationen angeeignet hätten, Talente, die wir aber wecken und pflegen müssten. Eines der wichtigsten Talente ist der Mut: zu sich selber stehen, sich selber sein, seine Identität finden. Die anwesenden jungen Brasilianerinnen, die die Rednerin möglicherweise nur zum Teil verstehen, fühlen sich offensichtlich trotz Sprachbarriere verstanden. Das ist ihr Thema: Identität finden neben einem Schweizer Mann in einer für sie fremden Kultur.

Der Raum ist mit Bildern geschmückt, abgebildet sind vor allem Jesus und Maria Magdalena. Sie ist der hilfreiche Geist des Oerliker Zentrums. Jesus selbst ist fürs spiritistische Verständnis nicht Gott, aber – wenn ich es richtig verstanden habe – das wichtigste Medium.

Im Oerliker Zentrum werden noch keine medialen Durchsagen inszeniert, weil noch zu wenig anerkannte, erprobte Medien zur Gruppe gehören. Medium ist zwar jeder Mensch, aber anerkanntes Medium in den Versammlungen wird nur, wer sich durch seinen Lebenslauf, seine moralischen Qualitäten usw. für diese Rolle lange ausgewiesen hat.

Alle Durchsagen aus der geistigen Welt werden an den 5 Büchern von Allan Kardec (1804-1869) gemessen. In Lyon als Hippolyte Léon Denizard Rivail geboren war Kardec im ersten Teil seiner Laufbahn Pestalozzi-Schüler in Yverdon, dann Pädagoge und Schulleiter in Frankreich. Er änderte seinen Namen, als er spiritistischen Pfaden folgte und mediale Durchsagen in seinen Büchern sammelte.

Warum Kardec so viele Anhänger gerade in Brasilien fand – er war nie dort – können mir meine Gesprächs- partner auch nicht wirklich erklären.

Vor und nach dem Vortrag wird gebetet, jedes mal auch mit einen angefügten Unser Vater.

Wer wollte, konnte beim Eintritt ein Nummernkärtchen mitnehmen. Während des langen Vortrags werden durch Zeichen die Nummern aufgerufen. Wir werden einzeln in einen Nebenraum geführt, wo drei Gruppen von jeweils vier Frauen in einem Kreis sitzen. In der Mitte des Kreises steht ein leerer Stuhl. Ich setze mich auf einen der Stühle. Der Frauenkreis reicht sich die Hände. Eine Frau bewegt ihre Hände über meiner Brust, meinem Rücken und meinem Kopf – offensichtlich eine Art Reinigungs- oder Stärkungsritual. Von Ritualen oder Riten will die Predigerin allerdings nichts wissen. Das gäbe es nicht bei den Spiritisten. Statt von Ritual spricht sie von „Arbeit“.

Ich bedauere am Ende des Abends, dass nie gesungen wurde. Das wäre ein völliger Stilbruch, meint die Predigerin. Lieder kenne ihre Bewegung nicht. Ich begreife sofort, warum die evangelischen Charismatiker in Brasilien doch noch mehr Leute anziehen als die Spiritisten.

Der Freund meines Freundes meint zwar, 50 Millionen Brasilianer seien Spiritisten. Aber diese Zahl halte ich doch für weit übertrieben. Wie immer auch – der brasilianische Spiritismus ist jedenfalls auf recht breiter Front auch in unserem Land angekommen.

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