Die Fäden zog ein Fremder

Ein Tag im Leben der «Familie der Liebe»

Elisabeth Sutter

Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne beleuchten ein zweistöckiges weißes Wohnhaus mit begehbarem Flachdach, das typisch ist für den eher vornehmen Stadtteil, in dem es sich befindet. Das klare Morgenlicht taucht einen kleinen Garten mit einer Rasenfläche, einigen Zierpflanzen und einem kleinen Teich in warme Farben. Auf dem asphaltierten Parkplatz steht kein Auto, doch durch einen Spalt im leicht geöffneten Garagentor schimmert das Gelb und Blau eines Kinder-Dreirades. In einer Seitennische unter einem Mauervorsprung beginnt der Hausdiener auf seinem harten Nachtlager seine Glieder zu strecken. In den fünf Schlafzimmern des Hauses liegen zweiundzwanzig Personen noch in tiefem Schlaf versunken: drei Ehepaare mit zusammen vierzehn Kindern und zwei ledige Männer.

Um sieben Uhr morgens erscheint Gideon, einer der Familienväter, in der großen Wohnhalle, um die herum die Zimmer angeordnet sind, und stimmt auf seiner Gitarre ein sanftes Lied an, um alle Mitbewohner zu wecken und auf einen neuen Tag einzustimmen. Daniel hat Frühstücksdienst: Er bereitet in der Küche Tee, Spiegeleier und Weizenbrei für eine nahrhafte Mahlzeit zu. Die Erwachsenen und einige der Kinder verbringen die erste halbe Stunde des Tages mit dem Lesen der Bibel oder eines anderen erbaulichen Textes aus einer großen Auswahl von Schriften, die „Mo-Letters“ genannt werden. Daneben gilt es, den Kindern beim Anziehen zu helfen, die Babys zu stillen und zu wickeln und die Wäsche für den Diener bereitzustellen.

Bald trifft sich alles zum Essen an den zwei langen Tischen in der zur Halle hin offenen Küche. Nach einem Dankeslied und einem kurzen Gebet wird kräftig zugelangt und dabei über das eine und andere geplaudert. Englisch ist die Sprache, in der sich alle problemlos verständigen, obwohl sieben verschiedene Nationalitäten anwesend sind.

Danach setzen sich Groß und Klein in einem Kreis in den Wohnraum und beginnen die tägliche Andachtszeit mit einigen fröhlichen Liedern, die auf zwei Gitarren begleitet werden. Es folgt ein kurzer Andachtstext, dann ziehen sich die Kinder mit Sara in eines der Zimmer zurück, um ihre eigene Andacht mit einer Bibelgeschichte und weiteren Liedern abzuhalten.

Die Erwachsenen lesen, nachdem sie eindringlich um offene und gehorsame Herzen gebetet haben, abwechselnd aus dem neusten „Brief von Dad“ vor, einer sehr emotionalen und zwischendurch mit Hallelujas, Amens und erotischen Anspielungen gespickten Ermahnung des großen Propheten David an seine weltweite „Familie“. Seine „Jünger“ saugen seine Worte gierig als Offenbarung vom Himmel auf und ducken sich gleichzeitig zerknirscht unter seiner Schelte – sie haben es wieder einmal nicht geschafft, seinen Aufträgen in dem Maß nachzukommen, wie er und sie selbst es von sich erwarten.
In einer Gebetszeit, an der sich jeder gleichberechtigt beteiligen und in seinen eigenen Worten ausdrücken kann, wird um mehr Liebe und Hingabe und um Führung in allen noch so kleinen Dingen zu Jesus gefleht. Dieser Name ist ständig in aller Munde und wird, einem magischen Zauberwort ähnlich, immer und immer wieder angerufen. Einige im Kreis haben im Geist ein prophetisches Wort erhalten, das sie freimütig weitergeben. Dem letzten Amen folgt der praktische Teil, nämlich das Besprechen der Einsatzpläne für den Tag.

Nach dieser intensiven Zeit und einem letzten Lied ist es Zeit für „JJT“, Jesus Job Time. Das bedeutet, dass alle, auch die Kinder ab etwa vier Jahren, die anfallenden Hausarbeiten wie Geschirr abwaschen, Badezimmer putzen, Aufräumen und anderes mehr erledigen. Der indische Hausangestellte reinigt täglich die vom sandigen Klima verschmutzten Böden, schneidet das Gemüse klein, besorgt die Pflege des Gartens und erledigt die Wäsche. (Es gibt keine Waschmaschine!) Zu den Familienräumen hat er keinen Zutritt, und auch das Kochen selbst wird ihm aus hygienischen Gründen nicht anvertraut.

Etwa um zehn Uhr sind alle bereit, ihren vorher vereinbarten Tätigkeiten nachzugehen. Einige Erwachsene, vor allem die stillenden oder schwangeren Frauen, verbringen den Morgen mit den Kindern im hauseigenen Unterricht, da keines zur öffentlichen Schule geht. Die Größeren ab etwa drei Jahren aufwärts lernen Lesen, Schreiben, Rechnen und werden in religiösen Themen unterrichtet. Die Kleineren singen einfache Lieder und verfolgen gespannt biblische Geschichten, die auf einer großen Tafel mit Flanellbildern illustriert werden. Und die Kleinsten werden nebenbei beaufsichtigt und manchmal gleich von der Lehrerin gestillt, während sie erzählt. Jemand erledigt den zeitraubenden Einkauf auf dem Markt und das Abholen der Post, die aus Sicherheitsgründen nur postlagernd empfangen wird. Ein anderes Familienmitglied beginnt schon bald mit der aufwändigen Zubereitung des Mittagessens. (Es gibt keine Fertigmahlzeiten oder Tiefkühlprodukte!)

Wer immer freigestellt werden kann, macht sich auf zum Missionieren oder um finanzielle oder materielle Unterstützung aufzutreiben – das eine ist vom anderen kaum zu trennen. Dazu dienen Besuche bei Geschäftsleuten, denen Musikprodukte oder Schriften gegen eine Spende für die Missionare angeboten werden, das Verteilen von Postern auf der Straße, das Aufsuchen von Studenten auf einem Campus oder individuelle Besuche in Privathäusern.

Ein Zweierteam macht sich gerade auf den Weg in eine fünfzig Kilometer entfernte Stadt und wird erst nach drei Tagen wiederkommen. Das Heimleiter-Ehepaar führt derweil Gespräche mit einem Bewohner, der persönliche Probleme hat, und telefoniert mit dem nächst höheren Gebietsleiter, um ihn in Personalangelegenheiten um Rat zu fragen.

Zum Mittagessen finden sich alle, die zu Hause oder in der Nähe sind, wieder am Tisch ein. Danach ist Ruhezeit, das heißt, die Kleinen legen sich schlafen, und die etwas Größeren und die Erwachsenen ziehen sich mit „Dads“ Schriften in ihr Schlafzimmer zurück und vertiefen sich andächtig in die Lektüre. Für die Kinder, die lesen können, gibt es spezielle Bücher in Comic-Form, in denen ihnen „Grandpa“ David lehrreiche und moralisierende Geschichten erzählt. Inzwischen ist die Hitze so erdrückend, dass der eine oder andere Leser gelegentlich eindöst.

Zum Aufwachen gibt es einen Nachmittagskaffee mit Honig als Süßmittel (zwei Tassen Kaffee pro Tag sind erlaubt, weißer Zucker ist verboten), dann gehen einige Erwachsene mit den Kindern in den Garten oder in einen nahe gelegenen botanischen Garten, der außer den bewässerten Rasenflächen der vornehmeren Privathäuser fast der einzige grüne Fleck in dieser Stadt ist, in der es seit drei Jahren nicht mehr geregnet hat. Einige Kinder gehen mit den Erwachsenen aus, um indische Bekannte für ein missionarisches Gespräch zu besuchen, von Tür zu Tür ihre Produkte anzubieten oder jemandem etwas vorzusingen.
Das Abendessen ist eine einfachere, aber gesunde Mahlzeit: Reis mit selbst gemachtem Joghurt und Mangoschnitzen. Danach ist es schon bald Zeit, die Kinder für die Nacht vorzubereiten, ihnen Geschichten zu erzählen, Windeln zusammenzufalten oder das, was gerade anfällt, zu erledigen. Irgendwann muss noch Zeit gefunden werden, um das intime Tagebuch, den „open heart report“, nachzuführen, in dem jeder seine persönlichen Gefühle, seine geistlichen Siege und Niederlagen, Wünsche und Schwierigkeiten niederzuschreiben und dann dem Heimleiter-Ehepaar zum Lesen vorzulegen hat.

Die Kinder schlafen nun, aber für die Erwachsenen ist noch nicht Feierabend: Es gibt Organisatorisches zu besprechen, persönliche Probleme werden gewälzt, Ermahnungen werden abgegeben, ein Mitglied wegen Ungehorsams gerügt, die knappen finanziellen Verhältnisse geben zu Diskussionen Anlass, zwei Ehepaare geraten sich über Verhaltensregeln für die Kinder in die Haare … Themen gibt es genug! Für den nächsten Videoabend wird ein Titel aus der offiziellen Liste mit empfohlenen Filmen ausgewählt und jemand beauftragt, diesen am nächsten Morgen in der Videothek zu besorgen.

Nun sinken alle erschöpft ins Bett, nicht ohne ein Gebet für eine sichere Nacht zu sprechen. Eine Mutter, im neunten Monat schwanger, legt sich vorsichtig neben ihr einjähriges Mädchen auf die Matratze am Boden. Sie wird „Praise“ genannt und kommt aus der Schweiz, aber ihre Herkunft spielt hier keine Rolle, denn sie ist nun eine Bürgerin des Himmelreiches und führt dieses Leben seit neun Jahren. An einem Sonntag im Mai 1979 hatte sie ihr Schicksal, wie sie meinte, in Gottes Hände gelegt. In Wirklichkeit wurde von nun an ihr Leben von einem alten Mann bestimmt, einem Amerikaner namens David Berg. Sie hielt ihn für den Propheten Gottes für die „letzte Zeit“, in der sie seinen Ausführungen gemäß lebte. Und sie befolgte in blinder Treue jede seiner Anweisungen, obwohl sie ihm noch nie persönlich begegnet war und in fast zehn Jahren Gefolgschaft nie auch nur ein einziges erkennbares Foto von ihm zu sehen bekam. Sie war überzeugt, dass sie, wie die Altväter im Hebräerbrief, nicht mehr zu dieser Welt gehörte, sondern auf der Durchreise war in eine andere Dimension, in eine fantastische, glorreiche Zukunft. Und dafür hatte sie ihr Heimatland, ihre Vergangenheit und alles, was ihr lieb und teuer gewesen war, zurückgelassen. Sie nahm jede noch so große Mühsal auf sich, um blind einer Vision zu folgen, die ein fremder Prophet für sie entworfen und ausgemalt hatte.

Ich war „Praise“.

Heute, vierzehn Jahre nach jenem heißen Juni in Indien, trage ich wieder meinen eigenen Namen, bestimme selbst über meinen Tagesablauf und schaue zurück auf einen Abschnitt meines Lebens, der mir fremd geworden ist und doch für immer unauflöslich zu mir gehört. Wie hatte dies alles geschehen können?

Die radikale Alternative, die ich nun kennen gelernt hatte, lockte mich sehr, und ich begann zu überlegen, ob das vielleicht auch ein Leben für mich sein könnte. Ein paar Tage nach unserem ersten Gespräch fragte ich Urs ganz spontan, ob ich mit ihm nach Asien kommen könne. Er war etwas verdutzt und antwortete schließlich, wenn ich nur seinetwegen kommen wolle, dann werde das nicht funktionieren. Aber wenn ich für Jesus leben wolle, dann sei ich willkommen. Meine erste Reaktion darauf war: Na ja, dann eben nicht, schade! Es war aber nicht in erster Linie so, dass ich seinetwegen mitgehen wollte, sondern ich hatte einfach Lust bekommen auf das Leben, das diese Leute führten, und ich wünschte mir so sehr, alles hinter mir zu lassen, was mir so viel Mühe machte.

Mit diesem Jesus hingegen wusste ich kaum etwas anzufangen. Er war für mich eine Art Märchenfigur, keine reale Person, und mein Verstand konnte ihn in meinem Weltbild nirgends unterbringen. Und doch schien er für diese Gruppe so zentral zu sein, ein Supermann, der auf alles eine Antwort hatte und alle Probleme lösen konnte. Offenbar musste man nur genug daran glauben. Aber ich schaffte das einfach nicht.
Trotzdem schien Urs es für möglich zu halten, dass ich mich ändern könnte. Er erklärte mir alles in einem so nachsichtigen, herzlichen Ton, als wäre es zwar ganz natürlich, dass es schwierig für mich war, aber fast ebenso selbstverständlich, dass ich früher oder später einfach würde einsehen müssen, dass er Recht hatte. Für ihn gab es anscheinend nicht den geringsten Zweifel, und das gab ihm eine so beneidenswerte Ruhe. Er schien keine unlösbaren Probleme oder gar Depressionen zu kennen, wie ich sie täglich zu bewältigen hatte.

In den vergangenen Tagen hatte sich jedoch meine Niedergeschlagenheit weitgehend verflüchtigt. Ich war in einem unglaublich erregten Zustand, fast euphorisch, schwebte wie auf einer Wolke. Einige Vorlesungen besuchte ich noch, aber es waren nicht mehr viele. Angesichts der Dinge, die ich von Urs hörte, erschien mir alles, was an der Uni gesagt wurde, noch fremder und sinnloser als bisher. Ich erinnere mich an eine Strafrechtsvorlesung, in der ein Fall besprochen wurde, ein hypothetischer allerdings: Ein Mann kommt an einem Brunnen vorbei und hört Hilferufe. Jemand ist hineingefallen. Der Mann wirft dem Gestürzten ein Seil hinunter und beginnt, ihn hinaufzuziehen. Als der Verunfallte schon fast den Brunnenrand erreicht hat, merkt der Helfer, dass es sich um seinen ärgsten Feind handelt. Es stellte sich nun die Frage: Macht der Helfer sich strafbar, wenn er seinen Feind wieder fallen lässt? Soweit ich mich erinnere, war die Antwort in diesem Fall Ja. Er wäre aber ungeschoren davongekommen, wenn er sogleich erkannt hätte, dass es sich um seinen Feind handelte, und ihm gar nicht erst geholfen hätte!

Normalerweise war ich solchen intellektuellen Spielen nicht abgeneigt, aber in der Gemütslage, in der ich mich nun befand, ekelten mich diese Diskussionen nur noch an. Nachdem ich in den vorhergehenden Tagen so viel über Liebe und Hingabe für andere gehört hatte, fand ich es einfach nur noch schrecklich, dass man sich solche Fragen überhaupt stellen konnte!

Ich erinnere mich, dass ich nach der letzten trocken-theoretischen Doppelstunde über römisches Recht, während ich mit einem Studienkollegen dem Ausgang zustrebte, plötzlich zu ihm sagte: „Hast du auch schon einmal gedacht, dass all das, was wir hier hören, völliger Unsinn ist?“ Er sah mich nur sprachlos an und fragte sich wohl, was in mich gefahren war. Eine andere Studienkollegin, mit der ich während des ersten Semesters ziemlich viel Zeit verbracht hatte, wunderte sich auch über meinen Zustand. Als ich sie anrief, fragte sie mich, ob ich betrunken sei. Ich hatte zu jenem Zeitpunkt keinen Tropfen Alkohol in mir, aber ich war tatsächlich in einer Art trunkenem Zustand.

Als wir dann mit einem jungen Inder ins Gespräch kamen, meinte der, hier finde man keine Touristenhotels, aber er könne uns bei einem Verwandten ganz in der Nähe ein Zimmer besorgen. Da es schon spät war, nahmen wir für diese Nacht an. Es war ein enges und eher ungemütliches Quartier, aber wir waren froh, ein Dach über dem Kopf zu haben.

Am nächsten Tag zogen wir dann in die Gegend um das Gateway of India, wo es einfache und billige Hotels gab. Mit dem jungen Inder blieben wir in Kontakt, da er offenbar unsere Gesellschaft schätzte und Urs natürlich sofort die Möglichkeit ins Auge fasste, ihm Jesus nahe zu bringen. Auf welche Art er dies vorhatte, begann ich zu ahnen aufgrund der Lektüre, mit der ich inzwischen vertraut gemacht worden war.
Urs besaß vier Bücher, jedes in einer andern Farbe, in denen die bisherigen „Mo-Briefe“ – die Schriften von David Berg an seine „Jünger“, die zuerst nach und nach einzeln gedruckt und verteilt worden waren – nun jeweils zu einem dickeren Band zusammengefügt waren. Das Kürzel Mo, so lernte ich, bedeutete Moses und war abgeleitet von einer Bezeichnung, die amerikanische Journalisten David Berg und seiner Truppe gegeben hatten: „Moses and the Children of God“.

In den ersten drei Büchern waren allerlei Anleitungen zum geistlichen Leben, Texte eher meditativer Art und auch ganz praktische Anweisungen für das tägliche Leben seiner frühen Anhänger zu finden. Das vierte, braune Buch nannte Urs das FFing-Handbook. FFing war wiederum eine Abkürzung für „Flirty Fishing“ und bezeichnete die Methode, Menschen über das Flirten beziehungsweise über die sexuelle Anziehung zwischen den Geschlechtern für Jesus zu „fischen“.

Ich erfuhr nun, dass der Bericht über den Begleitservice in London, von dem ich in den „Family News“ gelesen hatte, nicht einer ausgefallenen Idee der dortigen Gruppenmitglieder entsprungen war, sondern dass David Berg diese Methode seit Jahren mit seiner Partnerin sorgfältig ausprobiert, dazu zahlreiche Theorien entwickelt und diese mit ausgewählten Bibelstellen untermauert hatte. Anschließend hatte er die Methode dann in den Briefen, die ich nun in diesem Buch fand, nach und nach den Mitgliedern nahe gebracht und schließlich ihre Befolgung zur Pflicht erklärt. Da sich zahlreiche Jünger an diesen neuen Lehren gestoßen und daraufhin die Gruppe verlassen hatten, war für die Verbliebenen der „Gehorsam“ gegenüber der ungewöhnlichen Ausrichtung von David Bergs Missionspraktiken zum Maß ihrer Hingabe an Jesus und ihrer Bereitschaft zu revolutionärer Gesinnung geworden.

Die praktischen Anweisungen von Berg ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig und waren auch für ein sexuelle Freiheit gewohntes Kind der 68er-Generation geradezu peinlich detailliert.

Noch viel mehr zu schaffen machten mir aber die Lehren über das Verhältnis von Paaren zueinander, seien sie nun verheiratet oder nicht. Die Gruppe, so David Berg, war in erster Linie mit Gott und miteinander verheiratet. Zur Bestätigung diente hier das Bild der „Braut Christi“ aus der Bibel. Jede Beziehung eines Gruppenmitglieds zu einem andern war also völlig zweitrangig und hatte sich dem Wohl der Gruppe unterzuordnen. Das bedeutete zuallererst, dass für Eifersucht kein Platz war und dass gerade das natürliche Verlangen einer Frau nach einer verbindlichen Beziehung zu einem Mann unrevolutionär und tunlichst zu überwinden war. Sie hatte sich selbst als Opfer auf dem Altar für Jesus darzubringen. Die Illustration eines Briefes zeigte eine nackte Frau, die mit ausgebreiteten Beinen auf ein Kreuz genagelt war.
In Bombay, nachdem ich der Indoktrination durch Urs und durch diese Bücher alternativ- und widerspruchslos einen Monat lang ausgeliefert gewesen war, ließen mich sogar diese Verrücktheiten nicht mehr an eine Umkehr denken. Ich hatte mich diesem Jesus der „Familie“ verpflichtet, und wenn es das war, was er wollte, wer war ich dann, dazu Nein zu sagen?!?

Es schmerzte aber doch sehr, mich mit diesen Gedanken auseinander zu setzen, und ich rang innerlich um die Bereitschaft, mich diesen Anforderungen zu unterwerfen. Aber bewies nicht gerade der Schmerz, dass es ein gottgefälliges Opfer war? Gerade die inneren Kämpfe bestätigten doch, dass der Teufel sich uns entgegenstellte, weil wir auf dem richtigen Weg waren! So willigte ich mit wehem Herzen ein, als Urs mich drängte, die gelernte Theorie mit unserem indischen Bekannten in die Praxis umzusetzen.

Ich kann nicht einmal versuchen zu beschreiben, was dabei in mir vorging. Ich lernte bereits, mich nicht mehr als eigene, einmalige Person mit mir eigenen Gefühlen wahrzunehmen, sondern als Werkzeug einer „größeren Macht“ eine Rolle zu spielen, die mit der Frau von vor einigen Wochen nichts mehr gemeinsam hatte. Ich sollte mit den Jahren noch Meisterschaft darin erringen, für meine echten, innersten Regungen blind und taub zu werden.

Was in Urs vorging, war mir unerklärlich. Aber rückblickend, aus langer Erfahrung, kann ich vermuten, dass ihn der Drang oder schon fast die Sucht antrieb, die uns allen zur Selbstverständlichkeit wurde und unser ganzes Dasein rechtfertigte: uns aufzuopfern und gegenseitig an Hingabe zu überbieten, um das Gefühl zu erlangen, angenommen und wertgeschätzt zu sein.

Die Differenzen zwischen uns und den andern wurden immer größer. Um mich wieder „auf Kurs“ zu bringen, gab mir der Heimleiter die übliche Liste mit Mo-Briefen, die ich lesen und auf die ich „reagieren“ sollte. Zu einem der Briefe, der davon handelte, dass jedes kleinste Wort von „Dad“ Gesetz war, das unbedingt befolgt werden musste, schrieb ich als Kommentar, dass ich davon keineswegs mehr überzeugt sei und David Berg nicht für unfehlbar hielte. Voller Entrüstung sagte er mir, das sei keine „Reaktion“. Ich antwortete ihm, das sei sehr wohl eine Reaktion – zwar nicht die, die er erwartet hatte, aber es waren meine ehrlichen Gedanken und Reflektionen.

Es hatte einiges gebraucht, dass ich überhaupt fähig wurde, eigene Gedanken zu haben und sie auch noch auszusprechen. Ich hatte begonnen, einen Widerwillen gegen die Briefe von „Dad“ zu empfinden und las stattdessen mehr in der Bibel. Je mehr ich das tat, desto deutlicher wurden mir die Unterschiede zwischen dem Geist dessen, was ich in der Bibel las, und den Verlautbarungen von David Berg. Die Bibel sprach von Liebe, Großzügigkeit, Toleranz und Freiheit vom Gesetz, in der „Familie“ erlebte ich täglich das Gegenteil. Die Bibel verzieh den Sündern, Berg verfluchte sie. „Dad“ hatte ja immer darauf bestanden, dass die Bibel die Grundlage seiner Lehren war. Wie konnte es dann sein, dass er sich so weit davon entfernt hatte?
Diese Fragen gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Eigentlich dachte ich nicht wirklich daran, die „Familie“ zu verlassen. So weit war ich noch nicht. Aber ich erinnere mich genau an einen Moment – ich stand gerade in der Waschküche -, da machte es einfach Klick in meinem Kopf, und ich wusste, jetzt hatte eine unwiderrufliche Sinneswandlung stattgefunden, und ich konnte nicht mehr zurück. Ich konnte es mir nicht recht erklären, aber ich wusste einfach, dass alles Lesen und Beten mich nicht in den Zustand zurückversetzen würde, in dem ich ein gehorsames, kritikloses Mitglied war. Es war befreiend und zugleich Furcht erregend.

Für Angst gab es stichhaltige Gründe. Ein Ereignis hatte die „Familie“ gerade besonders bewegt. Eine Frau, die einige Jahre zuvor die „Familie“ und damit Mann und Kinder fluchtartig verlassen hatte, hatte sich inzwischen so weit erholt, dass sie bereit war, um ihre Kinder zu kämpfen. Sie ging nach Thailand und entführte ihre Kinder in einer spektakulären Aktion. Die Medien, die sie zuvor informiert hatte, filmten mit und berichteten darüber. Das versetzte David Berg in unglaubliche Wut. Er schrieb einen bitterbösen Brief und deckte diese Frau mit den übelsten Beschimpfungen ein. Eine der Folgerungen aus diesem Fall, die er an uns weitergab, lautete: „Wenn dein Ehepartner auch nur Anzeichen zeigt, dass er oder sie Zweifel an der ‹Familie› hegt oder sie sogar verlassen möchte, nimm die Kinder, wenn dein Partner nicht zu Hause ist, und mach dich mit ihnen aus dem Staub, an einen Ort, wo ihr nicht gefunden werden könnt!“ Das versetzte mich in große Angst und in einen tiefen Zwiespalt. Wie loyal war Urs? Würde er den Rat befolgen und mit unsern Kindern eines Tages spurlos verschwinden, wenn er merkte, wie es um mich stand? Ich wusste es nicht. Deshalb äußerte ich mich kaum – und wenn, dann nur sehr vorsichtig – zu dem, was mich bewegte. Aber ich spürte, dass auch er sich seine Gedanken machte und unzufrieden war. Und so siegte schließlich das Vertrauen, dass er mich nicht verlassen würde.

Allmählich spitzte sich die Situation zu. Schließlich fand eine Zusammenkunft des Heimes statt, in der man uns mitteilte, wir seien für sie nicht mehr tragbar und wir sollten uns eine andere Bleibe suchen. Nun kam es öfter vor, dass in einem Heim nicht pure Harmonie herrschte und sich die Parteien trennen wollten. Aber das war normalerweise kein Problem, da dann eine Familie einfach in ein anderes Heim umziehen konnte. In unserem Fall allerdings gab es kein Heim in der Nähe, und Urs war an seinen Arbeitsplatz gebunden. Also begannen wir daran zu denken, uns eine Wohnung zu suchen – und zwar nur für uns sieben.
Wir hatten schon einen Vertrag für eine Wohnung unterschrieben, als uns ein plötzliches Ereignis noch einmal verunsicherte. Ich kann mich nicht genau erinnern, was der Anlass war, aber eine angebliche Bedrohung durch Behörden schreckte unser Heim auf. Alle verließen fluchtartig das Haus, außer uns natürlich, die wir ja die offiziellen Mieter waren, und einer andern Familie, die ein neugeborenes Kind hatte und nicht reisen konnte.

Kurz darauf fand ein großes Treffen im Kanton Zürich statt. Zu dieser Zeit war die „Familie“ einmal mehr weltweit ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, initiiert durch die Aktivität verschiedener Aussteiger und Sektengegner. Die Angst, die das bei uns Mitgliedern auslöste, wurde von der Leitung der „Familie“ noch gezielt geschürt, denn damit ließen sich die Mitglieder besser manipulieren. Wir selbst wurden Opfer dieser Taktik, als bei diesem Treffen ein flammender Appell an uns alle gerichtet wurde. Die Lage wurde mit einem drastischen Vergleich dargelegt: „Wenn ihr alle in einem Gebäude wärt und der Feind draußen das Haus umlagert und auf euch schießt, würdet ihr dann nicht zusammenhalten und eure Streitigkeiten beenden?“ Das fragte man uns eindringlich. Beschämt beschlossen Urs und ich, es noch einmal zu versuchen. Vielleicht lag es ja nur an den individuellen Personen, mit denen wir nicht ausgekommen waren, und mit andern würde es besser gehen. Wir sagten der Immobilienverwaltung, wir hätten unsere Meinung geändert und bräuchten die Wohnung doch nicht.

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