«Auf ewig bei dem Herrn!»

Detlef Streich, NAK-Ausstiegshilfen

Wer bin ICH eigentlich?

Diese wesentliche und schwierige Frage begann sich mir zu stellen, seitdem mein Weg aus der Neuapostolischen Kirche heraus begonnen hatte. In vierter Generation neuapostolisch gelang mir nach 100-jähriger Familiengeschichte im Jahr 2001 mit 45 Jahren endlich der wesentliche Schritt zum mühsamen Ausstieg aus der NAK, ein sich nun seit vier Jahren vollziehender und bisweilen mühevoller Erkenntnis- und Lösungsprozess zur Befreiung von der inneren und bis zu diesem Zeitpunkt alles Leben bestimmenden Umklammerung!

Davor standen 30 Jahre hingebungsvolle und aufopfernde Arbeit für das «Werk des Herrn», mit allem Ernst und aus tiefster Überzeugung, obwohl weitestgehend ohne deren dogmatischen Überzeugungen, aber mit solchem Gefühl:

1) Auf ewig bei dem Herrn!
soll meine Losung sein.
Dies Wort sei in der Nacht mein Stern,
es führ‘ zum Himmel ein!
Ich walle durch die Welt
bin nur ein Fremdling hier
und schlage auf mein Pilgerzelt,
o Herr, stets näher dir.
Näher dir, näher dir,
o Herr, stets näher dir!

(NAK Gesangbuch Lied Nr. 252, Text: Montgomery, Jason 1771-1854; Musik: Woodbury, J.B 1819-1858)

Dabei auch 30 Jahre Kampf – und dies sogar relativ erfolgreich – gegen Intoleranz, geistige Engstirnigkeit und machtorientierte, arrogante Amtsträger mit zum Teil dümmster Scheinargumentation, die nur vorstellbar ist. Dazu einen Ap Xxx befragt und Antwort von ihm:

«Es gibt heutzutage viele kleine Hitler!»

Kampf für mehr Hirn gegen polemische Dogmatik, erfolgreicher Kampf sogar seit dem Musikstudium von kleinsten musikalischen Anfängen in der Gemeinde bis hin zu überregionaler Tätigkeit als Dirigent für Chöre und Orchester, auch mit eigener kompositorischer Arbeit (für Orchester, weil ja J.S. Bach in Berlin noch verboten war)!

Nach mühevollem Weg als bekannter NAK-Musikkritiker – zwischendurch auch mal von allen Aufgaben befreit, weil ich es wagte, einen Oberlippenbart zu tragen, obwohl dies von Zürich aus für Chorsänger erlaubt wurde, aber eben nur für die! – später sogar (Bart war wieder ab) Beauftragung zur Durchführung von Dirigentenschulungen innerhalb von ganz Westberlin, der Bock wurde tatsächlich zum Gärtner!

Gleichzeitig (u.a.) eine kybernetisch orientierte Analyse zur musikalischen Situation in der NAK ausgearbeitet und an einige Apostel samt Stammapostel geschickt, mit konkreten Vorschlägen zur Veränderung und Demokratisierung zwecks Besserung der musikalischen Arbeit. Erfolg? Ja, die systemische Struktur meiner Empfehlungen wurde sogar europaweit eingeführt (Musikberatersystem), allerdings ohne dass in diesem Zusammenhang mein Name genannt wurde. Macht auch nichts, es ging ja um die Sache und nicht um Ruhm!

Vor Ort aber immer wieder ungezählte Rückschläge, Widerwärtigkeiten, Diskussionen nach oben und unten und Kleinkriege samt familiärer Konflikte; sie wurden überbrückt zum Beispiel mit Gemeindegesangbuch 300 (Herrnschmidt, Johann Daniel;1675-1723):

1) Gott will machen,
daß die Sachen
gehen, wie es heilsam ist.
Laß die Wellen
höher schwellen,
wenn nur Jesus in dir ist.

4) Wann die Stunden
sich gefunden,
bricht die Hilf mit Macht herein,
und dein Grämen
zu beschämen,
wird es unversehens sein.

Also festhalten an der Utopie, die NAK könne sich wesentlich und von Grund auf verändern (nicht nur teilweise oder sogar nur dem Anschein nach reformieren!), ist doch schließlich Gottes Werk, und das kann doch einfach nicht so bleiben, weil ER der Chef ist!

Zwischendurch auch ein Amt abgelehnt («Der Herr hat ein Auge auf Sie geworfen» – Bezirksevangelist W. in Berlin) mit der Begründung von mir, dass ich wegen meiner umfangreichen musikalischen Arbeit dafür gar keine Zeit habe («Wenn Sie das so sehen …» Antwort von mir: Wie soll ich es denn sonst sehen bei jetzt schon durchschnittlich sechs Tagen kirchlicher Abendarbeit in der Woche?) Hätte bei Zustimmung sogar Dirigent des prestigeträchtigen Schulchores werden sollen, allerdings um den Preis, zuvor die Leitung des Berliner Schallplattenchores abzugeben, der den Mächtigen im Lande ein Dorn im Auge war.

Außerdem wurde mir nahe gelegt, dass ich mich zudem von meinem Freund und musikalischen Partner, dem Diakon Bodo Bischoff, der überall und sogar öffentlich kritisierte, doch deutlich trennen müsste, da er einen schlechten Einfluss ausübt. Das war dann doch die Höhe und ich lehnte dankend ab. Unverständnis und Schweigen – beleidigter Abgang des Bezirksevangelisten.

Und wieder so gefühlt, oder zumindest so ähnlich:

2) Zur Höhe blick‘ ich auf;
dort winkt die Heimat mir,
und oft ist mir’s im Glaubenslauf,
als säh‘ ich sie schon hier.
Dann sehn‘ ich mich hinein;
o daß ich sei bereit,
in dir zu sein voll Himmelsschein,
du Land der Herrlichkeit!
Himmelsschein, Himmelsschein
im Land der Herrlichkeit!

Nach einiger Zeit durfte ich im Auftrag des Apostels Klingler für alle Berliner Dirigenten dann zwar Schulungen betreiben, aber in der eigenen Gemeinde immer noch nichts aktiv tun, nicht einmal vertretungsweise dirigieren (bis endlich der zuständige Bezirksälteste Z. in Rente ging!).

Etwas später, nach ungefragten kritischen Einmischungen, Einberufung zur überregionalen Mitarbeit in Zürich am neuen Lehrwerk für die Sonntagschule als Textautor und Komponist. Ferner wegen der Zögerlichkeiten im Verlag Fr. Bischoff im Selbstverlag Herausgabe eigener Kompositionen, darunter sind besonders neue Kinderlieder zu nennen (natürlich ökumenische Texte), die mittlerweile von der Schweiz bis zur Nordsee in der NAK gesungen werden. In später Folge dann private Fortbildungen speziell für Kinderchorleitung erst in Hannover unter kirchlichem Ap.-Klingler-Segen, und unter cantus e.V. in Hamm, Stuttgart und andernorts …

Auch nach der feindlichen Übernahme des Westberliner Kirchenbezirkes durch die Ostberliner Führungsgarde 1995 habe ich noch vier Jahre musikmissionarisch weiter gekämpft, nun erneut aber gegen den östlichen Amtsschimmel und Filz in einer kleinen Gemeinde als Chorleiter, ebenfalls mit gutem Erfolg an einem Chor, der anfangs nicht einmal geschlossen einen Ton richtig abnehmen konnte, am Ende aber vierstimmige Sätze vom Blatt singen konnte. Dann irgendwann plötzlich psychisch zusammengeklappt – nichts ging mehr, auch kein Dirigieren, Kraft am Ende, wie früher auch schon:

3) Doch oft seh‘ ich’s nicht mehr;
es trübet sich mein Blick.
Ich flieg‘ wie Noahs Taub‘ umher, …

doch jetzt endgültig, denn der Rest der Strophe funktionierte nicht mehr:

… zur Arche geht’s zurück.
Die Wolken teilen sich,
und nach dem Sturm und Schmerz
erfreun die Friedensboten mich
und trösten mir mein Herz.
Friedenslicht, Friedenslicht,
wie tröstest du mein Herz!

Aus und vorbei mit der Vertröstung und eigenen Selbsttäuschung. Mit großem Aufwand damals als Vertretungsdirigent vom Bischof für ein Jahr innerhalb des Gottesdienstes mit Handschlag und Gelöbnis in der Gemeinde eingesetzt (nach der Einsetzung heimlich und leise, immer noch vor der Gemeinde: «Den Bart rasiert er sich aber noch ab!» Ich: „Nein, der Bezirksapostel hat gegen Bärte, auch Vollbärte, keinen Einwand. Das hat er doch bei unserer ersten Zusammenkunft deutlich gesagt!» – also mein Bart blieb diesmal dran!), dann nach vier Jahren sang- und klanglos per Telefon die Erlaubnis vom Bischof, dass ich gehen dürfe (er wohnte zwei Minuten neben dem Vorsteher, einen kurzen Besuch war es ihm aber nicht wert!). Das Unangenehme (oder den «Unangenehmen»?) dem Vorsteher überlassen, der allerdings sehr einfühlsam war.

Die psychosomatischen Folgen der vielen Jahre der Demütigungen und Enttäuschungen forderten ihren seelischen Tribut trotz aller erfolgreichen Arbeit, sogar trotz erfahrener Selbstbestätigung und vieler erlebter schöner Situationen:

4) Wenn einst mein Pulsschlag steht, …

Nein, vorher sollte noch das stattfinden, was wirklich verdient, «erfülltes Leben» genannt zu werden. Nicht erst, wenn

die Seele los sich reißt,
und aus dem Tod ins Leben geht, …

Beziehungsweise doch erst einmal als Voraussetzung zum neuen Leben die eigene Seele losreißen von den verzerrten Gottesvorstellungen dieser Kirche als erster Schritt, um überhaupt in ein eigenes Leben treten zu können!

Aber Leben? Eigenes Leben ohne kirchliche Erlaubnis oder Bestätigung? Was ist das? Ist das, was ich jetzt tue, überhaupt vereinbar mit dem göttlichen Willen, oder gehe ich in den angedrohten «geistlichen Tod»? Eigentlich ist doch dieses Leben nur auf den Tod hin ausgerichtet, danach erst findet doch das wirkliche Leben statt, denn:

dann triumphiert mein Geist.
Dann seh‘ ich alles klar,
was hier mir schien so fern; …

Was erscheint hier wirklich «so fern»? Wohl die freie Entfaltung dessen, was Persönlichkeit und Selbstbestimmung heißt, Findung der eigenen Lebensspur! Entfaltung des ICH ohne Ellbogen und Scheuklappen! Und nicht mehr Todessehnsucht als Lebensinhalt transzendent verbrämt:

dann bin ich – o wie wunderbar! –
auf ewig bei dem Herrn.
Wunderbar, wunderbar!
Auf ewig bei dem Herrn!

Aber immer wieder fallen Lieder in die Gedanken ein, eben das gelernte Metier. Gleichzeitig Produkt und Mittel vollkommenster Gehirnwäsche, übrig gebliebene Bruchstücke der Gehirnwäsche «Ich kann nichts, darf nichts, bin nichts – alles Herr bist du» wie Buch 276:

3) Jesus, richte mein Gesichte
nur auf jenes Ziel!
Lenk die Schritte, stärk die Tritte,
wenn ich Schwachheit fühl‘!
Lockt die Welt, so sprich mir zu!
Schmäht sie mich, so tröste du!
Deine Gnade führ‘ gerade
mich aus ihrem Spiel!

Immer wieder – trotz theologisch mittlerweile befreiter Erkenntnis unter anderem durch Paul Tillich: «Religion ist das, was uns unbedingt angeht!» – diese Einbrüche von Liedern und gehörten Redephrasen ins Bewusstsein und Gefühlsleben; Rückfälle in konditionierte Denkschablonen und dadurch wiederum manipulierte Gefühlsmechanismen.

Immer wieder fällt einem diese NAK ins Wort, in die Gedanken – ungefragt, ungerufen – und damit in den Rücken …

Wie schwer fällt eigenes Gehen, wenn bislang nur an Krücken gelaufen werden durfte, und dies auch nur innerhalb gesetzter Schranken: erlernte Hilflosigkeit!

Und nun: wie ein Kind ganz neu gehen lernen müssen, ohne Geländer und den bisher gewohnten Halt!

Freiheit des Seins! Wie schwer fällt das Denken und Fühlen, wenn Freiheit bislang Gebundenheit im kirchlich sanktioniertem Rahmen bedeutete.

Wer stärkt jetzt die Schritte? Wer führt mich jetzt, obwohl ich den verwünschten «Führer» endlich hinter mir lassen konnte?

Alles Leben umgebrochen, nur blanker Acker übrig. Mal sehen, was einem doch noch blühen wird, blühen kann … Hoffnung, oder die alte Hoffnungslosigkeit?

Nicht selten als Folge, so auch bei mir, Auflösung der Ehe. Bislang eingebunden in die NAK verliert oft auch die Partnerschaft ihren Halt. Zur Kirchentrennung also noch Auflösung des privaten Bezugssystems, am Ende Trennung aller bisher bestehenden sozialen Kontakte.

Und trotzdem dem Führer im eigenen Herzen vertrauen, wie Hesse schreibt? Und endlich wirklich göttliches Einwirken und Seine Kraft verspüren und die tiefe eigene Enttäuschung überwinden? Zum Glück konnte ich das eine Zeitlang sehr hilfreich in der evangelischen Dorfkirche finden! Und damit auch wieder Mut gefunden!

Mut zum eigenen Gefühl, und dazu zu stehen!

Mut zur Trauer und Wut über die erlebten Ent- Täuschungen und den Verlust der geistigen Heimat!

Mut, die Scheinideen zu begraben, die alles Sein bestimmten, und sich auch der eigenen Trauer über den Verlust im tiefsten Inneren zu stellen!

Mut auch zum Abschied, sich von diesem Verein zu lösen, ihn wenn möglich aus den Gedanken zu streichen und sogar den kritischen und um Reform bemühten Gedanken ganz fallen zu lassen! Mut, zu sich selbst zu finden, selbst aktiv zu leben und die eigene Passivität zu überwinden!

Mut zur eigenen Neuorientierung, dem entwurzelten Baum einen neuen Standort geben!

Mut, die eigene Angst zu überwinden und selbst Handelnder zu werden, werden zu dürfen! Lebenserlaubnis! Überhaupt SELBST handeln zu können!

Leichter haben es wohl solche Aussteiger, die schon immer mit einem Bein in der Welt standen, die «am Tag des Herrn ohnehin nicht dabei gewesen wären». Wer es mit sich und der Sache ernst gemeint hatte, der hat nochmals die größeren Schwierigkeiten auch im Lösungsprozess. Hinzukommen die üblicherweise auftretenden psychischen Folgeprobleme nach dem Ausstieg:

  • Aggressivität und Feindseligkeit
  • Kommunikations- und Konzentrationsunfähigkeit
  • Sexstau
  • Bewusstseinsveränderung, Verlust des Realitätsgefühls
  • Rückschritte in der Gesamtentwicklung
  • Unfähigkeit, mit der Realität fertig zu werden (Anzeichen des «Hospitalismus»)
  • immense Schuldgefühle (bedingt durch das Gefühl, die «Geschwister» verraten zu haben)
  • Angst

Quelle: http://www.ilsehruby.at/Sektenbroschuere.html

Die NAK ist ein Labyrinth: wer meint, es mit dem Ausscheiden allein geschafft zu haben, irrt sich. Denn hinter jedem neuen Lächeln, das einem begegnet, hinter jedem guten Gefühl, das sich einstellt, hinter jeder positiven Entwicklung, die sich einleitet, kann sie innerlich wie ein graues Monster unvermittelt aufstehen und einem immer wieder sagen, wie wenig doch man selbst und die Freuden dieser Welt wert sind. Depressive Schübe sind das mindeste und können sich steigern bis hin zur grundlos anhaltenden Freudlosigkeit. Die erfahrenen Konditionierungen und deren Folgen lassen sich aber nicht ignorieren, sondern nur mit Hilfe des Lebenspartners – wenn dies geht – und/oder durch zielgerichtete therapeutische Begleitung überwinden, wenn diese Kirche nicht auch noch weiterhin nachträglich binden und immer noch Zeit und Lebensenergie stehlen soll!

Die Suche nach Gott war unmerklich zur Sucht geworden, Sucht nach institutioneller Anerkennung mit der Droge NAK, Abhängigkeit dem System gegenüber! Also Entzug, sich dem Einfluss entziehen und endlich Schluss damit! Auch Schluss mit dem oft verbleibenden letzten Punkt: der immer noch wohlmeinenden Kritik an der NAK!

Aufbruch in ein nochmals neues Leben ganz ohne diese emotional verarmende Kirche! Je früher, desto besser, auch wenn es große Überwindung und Ungewissheit bedeutet, und dadurch tatsächlich «zum Leben dringen, für welches Gott mich schuf»!

Wem die eigene menschliche Existenz ohne die Neuapostolische Kirche nichts wert scheint, dem – so wage ich heute zu sagen – bedeutet das Leben in all seiner offenen Vielseitigkeit als einmaliges «Gottesgeschenk» wohl auch mit der Neuapostolischen Kirche nicht wirklich viel!

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