Das Leben neu begreifen

Gott ist die Liebe – so heisst es in einem Lied der Neuapostolischen Kirche (NAK).

Diese Liebe habe ich immer gesucht und nie gefunden. Mein Leben war geprägt von Angst vor Strafe, wenn ich den Geboten Gottes nicht folge; bis zu jenem Zeitpunkt, als ich von der Selbsthilfegruppe „Wenn Glaube krank macht“ hörte und die Gruppentreffen besuchte.

Ich bin 45 Jahre alt, von Geburt an streng im neuapostolischen Glauben erzogen und seit etwa eineinhalb Jahren dabei, innerlich gesund zu werden.

Das Glaubensziel der neuapostolischen Christen ist es, mit Jesus auf ewig in seinem Friedensreich vereint zu sein. Diese Auserwählten holt er von der Erde zu sich, doch dazu ist es erforderlich, seine Gebote und den Willen Gottes zu erfüllen. In meiner Kindheit und Jugend war ich stolz darauf von Gott auserwählt und dazu bestimmt zu sein, auf ewig in der göttlichen Gemeinschaft zu leben. Ich hatte das Gefühl, etwas „Anderes, Besseres“ zu sein als meine Mitmenschen, mein Leben hatte einen tieferen Sinn und ich wollte alles dafür tun, um nicht alleine zurückzubleiben, wenn Jesus den Seinen erscheint. Also lauschte ich ganz ernsthaft den Worten Gottes, die vom Heiligen Geist erweckt und zum Seelenheil der Gläubigen aus dem Mund der Segensträger verkündet wurden. Heute weiss ich, dass es Menschenworte waren und dazu bestimmt, durch Regeln und Gebote suchende und unsichere Menschen, vor allem Kinder und heranwachsende Jugendliche zu manipulieren und unter dem Deckmantel der Liebe und Geborgenheit krankmachende Zwänge aufzuerlegen. Angst – das war lange Zeit das bestimmende Moment in meinem Leben; in der Kindheit und Jugend vor allem präsent durch die schwarzgekleideten und autoritären sogenannten Segensträger, die das Wort und den Willen Gottes verkündeten. Jeder Bereich des Lebens war darauf ausgerichtet, ein gottwohlgefälliges Leben zu führen – sei es in der Schule, bei Freizeitaktivitäten (sofern es welche gab), bei der Berufs- und Partnerwahl; ja selbst die Kleidung musste der Kirche angepasst sein.

Irgendwann kamen mir jedoch Zweifel – tief im Inneren und eher unbewusst – die ich jedoch lange Zeit erfolgreich verdrängt habe. Ich wollte meinen Gott und meine Glaubensgemeinschaft nicht verraten oder gar öffentlich anprangern und kritisieren und habe dann einfach keine Gottesdienste mehr besucht. Damit waren meine Probleme aber weder gelöst noch bearbeitet.

Es fällt mir bis heute schwer, eigene Entscheidungen zu treffen und konsequent meine Wünsche zu äussern. Ich habe immer noch Angst, bestraft zu werden, weil ich mich von meinem Glauben abgewandt habe, muss mühsam lernen, was Lebensfreude ist und was meinem Leben einen Sinn gibt.

Die Erfahrung, dass es viele Aussteiger gerade aus der NAK gibt, die das Gleiche oder Ähnliches erlebt haben, gibt mir immer wieder Kraft und Mut, Stück für Stück vorwärts zu gehen, die alten Ängste zu besiegen, Gefühle und auch mal Wut zu zeigen und das Leben neu zu begreifen und zu gestalten.

Es ist schon etwas paradox – aber manchmal danke ich Gott dafür, dass ich auf die Gruppe aufmerksam wurde, denn dort habe ich zum ersten Mal Menschen getroffen, die meine Gefühle und auch meine Tränen verstanden.

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