Meine Geschichte mit Scientology

Mein Name ist Ruth Josianne Dridi. Ich war 4 ½ Jahre lang in Scientology. Sicher denken viele: „Ich wäre nie in Scientology eingetreten. Ich würde da nie mitmachen“. Das habe ich auch gesagt.

Doch dann lernte ich meinen Freund kennen, der damals schon Scientologe war. Schon bald wollte er mir Scientology näher bringen. Er wusste, dass unsere Beziehung nur eine Chance hätte, wenn auch ich Scientologin werden würde. Irgendwann gab ich seinem Drängen nach und ich ging mit ihm zu einem Vortrag über „Reinkarnation“ also „Wiedergeburt“ in die Zürich Org. Org. bedeutet Organisation.

Nachdem ich dann auch noch einen 200-Frage-Test gemacht hatte, wurde ich dazu überredet, einen Kurs zu machen, der mich die Grundlagen der Scientology lehrte.

Die Kursleiterin empfahl mir in diesem Kurs, in einer Woche 12 ½ Stunden zu studieren, d.h. praktisch gesehen, drei bis vier Abende pro Woche in der Org. zu verbringen. Die Kursleiterinnen waren überhaupt sehr nett.

Auf diesem Kurs lernte ich:

  • wie man studiert
  • wie man mit anderen gut kommuniziert sowie die entsprechenden Regeln dazu
  • Hilfen, die man geben kann, wenn jemand krank, verletzt oder betrunken ist
  • sowie alles über die Philosophie von Ron Hubbard, dem Gründer von Scientology.

Ebenso erfuhr ich, dass in Scientology Drogenentzüge vorgenommen werden. Mein Freund kam durch Scientology von Drogen los (mehrere Joints täglich). In einem Teil des Kurses lernte ich, wie der Verstand funktioniert. Gemäss Ron Hubbard hat der Mensch, wie er in seinem Buch Dianetik schrieb, einen analytischen und einen reaktiven Verstand. Mit dem analytischen Verstand kann man logisch denken. Der reaktive Verstand hingegen ist in etwa das, was die Psychologen das Unterbewusstsein nennen. Ron Hubbard war der Ansicht, dass der Mensch, wenn er körperlichen oder seelischen Schmerz erleidet, eine Art Bewusstlosigkeit hat. D.h. der analytische Verstand wird mehr oder weniger ausgeschaltet und der reaktive Verstand übernimmt. Dies bedeutet, dass z.B. alles, was gesagt wird bzw. wurde, währenddem ein Mensch Schmerzen erleidet, direkt ins Unterbewusstsein geht beziehungsweise in den reaktiven Verstand. Solche Sätze, die gesprochen werden, während jemand Schmerzen hat, würden dann wirken, als ob jemand hypnotisiert worden wäre. Dies erklärt dann auch, weshalb jemand unvernünftige Handlungen begeht.

Viele meiner Fragen über das Leben wurden auf dem Kurs beantwortet. Das Ziel von Dianetik ist der Zustand „clear“. Clear ist jemand, wenn er seinen reaktiven Verstand abgebaut hat. Für einen Scientologen sind Menschen, die nicht clear sind, eine Art Reizreaktionsmechanismus. D.h. diese Menschen werden nicht ernst genommen. Im Klartext: Für einen Scientologen sind alle, die nicht clear sind, verrückt. Deshalb versuchen Scientologen möglichst viele Leute unter ihre Kontrolle zu bringen. In Scientology nennt man dies positive Kontrolle. Es wird quasi versucht, die Verrückten vor sich selbst zu schützen.

Haben Sie nicht auch schon gedacht, dass es viele Verrückte gibt auf dieser Welt? Hat nicht jeder von Ihnen Ängste, Depressionen, Liebeskummer? Oder trauern Sie um jemanden?

Wenn nun jemand käme und sagen würde: „Ich kann Sie davon befreien? – Würden Sie es nicht versuchen?

Mein Vater ist sehr früh und überraschend verstorben. Da ich ein sehr inniges Verhältnis zu ihm hatte, kam ich über seinen Tod nicht hinweg. Ich hoffte, den Schmerz über seinen Verlust durch die Dianetiktherapie – genannt Auditing – zu überwinden.

Mehr und mehr faszinierte mich das neu gewonnene Wissen. Ein anderer Punkt war, dass ich für meine Ideale leben wollte. Ich hatte den Wunsch, etwas Sinnvolles zu tun. Ich wollte nicht ein normales, spiessbürgerliches Leben führen und nur zu arbeiten, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Nein, ich wollte etwas beitragen zum Wohle anderer.

Nun hatte ich also das Patentrezept in den Händen, um den Planeten vor dem Untergang zu retten. Die freundlichen beiden Kursleiterinnen machten mir den Job als Kursleiter schmackhaft. Mir wurde geschildert, wie schön es doch sei, für seine Ideale zu kämpfen und nicht einfach für den schnöden Mammon zu arbeiten.

Wie schön war es doch, in einer Gruppe zu sein, mit lauter idealistischen, netten Menschen, die sich gegenseitig halten und unterstützen. Ich unterschrieb einen 5-Jahresvertrag. Dadurch verpflichtete ich mich, jede Woche 40 Stunden als Kursleiter in der Org zu arbeiten. Dafür durfte ich in der Woche 12 ½ Stunden studieren oder Auditing beziehen. Unter Studieren versteht man in Scientology, dass man Kurse besucht, um sich als Auditor ausbilden zu lassen. Der Lohn richtete sich nach den Einnahmen der Organisation. Da die Org jede Woche zu kämpfen hatte, fiel auch der Lohn dementsprechend gering aus. Manchmal gab es gar nichts, manchmal Fr. 5.­­ oder vielleicht Fr. 10.­­ die Woche.

Würde ich den 5-Jahresvertrag brechen, müsste ich alle Kurskosten von den Kursen, die ich in dieser Zeit als Mitarbeiter belegt hatte, zurück erstatten.

Um überhaupt über die Runden zu kommen, musste nebenbei noch gearbeitet werden. Ich suchte mir also einen Job. So arbeite ich morgens von 6.00 – 12.00 Uhr in einem Laden und nachmittags von 14.00 – nachts um 24.00 oder 1.00 Uhr war ich Kursleiterin in der Org.

Meine Woche bestand nur noch aus Arbeitstagen. Auch am Wochenende arbeitete ich täglich 12 Stunden in der Org. Ferien machen war out. Es war unethisch sich an einem Strand unter der Sonne zu aalen, während der Planet unterzugehen drohte. Man konnte ja nie wissen, ob die Wahnsinnigen ausserhalb der Org nicht plötzlich den Planeten in die Luft jagten.

Als stolzer Mitarbeiter Zürich Org fand ich bald heraus, dass es vor allem darum ging, etwas zu leisten. Mein Lebensinhalt bestand nun darin, gute Statistiken zu haben. Jeder Mitarbeiter hatte seine eigenen Statistiken. Ich als Kursleiterin bekam jede Woche Ziele vorgegeben, die ich erreichen musste. Ich wusste, wie viele meiner Studenten ihren Kurs abzuschliessen hatten, damit sie auf einen weiteren Kurs gesetzt werden konnten. Ich wusste, wie viele Studenten bei mir einen Kurs zu starten hatten.

Ich gab alles, um die oft unrealistischen Ziele zu erreichen. Der Witz an den Statistiken war, dass wir jede Woche mehr leisten mussten.

Gelang es mir die Statistik hoch zu bringen, wurde ich von allen geliebt. Ging es schief, kümmerte sich die Ethik-Abteilung um mich. Die Leute in der Ethik-Abteilung wachen darüber, dass jeder Scientologe ein ethisches Leben führt. Gemäss den Aussagen Hubbard’s ging eine Statistik nur runter, wenn man sogenannte Overts hatte. Overts sind Vergehen oder Sünden.

Indem man all seine Vergehen genau aufschrieb, konnte man sein Gewissen reinwaschen und die Ethik-Abteilung hatte wieder etwas mehr Kontrolle.

Nach etwa einem Jahr wurde mir die Ehre zuteil, nach Amerika geschickt zu werden, um an einem neuen Training für Kursleiter teilzunehmen.

Ich flog also nach Florida zu dem Ort, den die Scientologen Flag nennen. Flag ist das Mekka der Scientologen. Es liefert die höchsten Kurse und das höchste Auditing. Das heisst, es liefert Auditing, das ein geistiges Wesen fähiger macht. Es macht aus Menschen – Götter. So versprechen es die Hochglanz-Prospekte der Scientologen.

Nachdem ich 12 Stunden Flug hinter mir hatte, kam ich abends um 22.00 Uhr ca. in Clearwater Florida an. Ich erreichte Flag, das aus einem Hotel und einem Kurszentrum bestand. Ausserhalb des Zentrums hatte Scientology einige Häuser gekauft, die als Unterkünfte für die sogenannten Sea Org Mitglieder dienten. Sea Org Mitglieder sind Leute, die in einer Art Orden leben. Sie verpflichten sich vertraglich für 1 Millionen Jahre in Scientology zu arbeiten. Zu Beginn lebten die Sea Org Mitglieder auf Schiffen. Sie tragen deshalb auch Uniformen und es gibt eine strenge Hierarchie. Gegen Mitternacht wurde ich zu den Unterkünften gebracht. Der Leiter der Unterkünfte war nicht sehr erfreut, noch einen Trainee unterbringen zu müssen. Inzwischen waren etwa 500 Leute für ein solches Training hierher gekommen. Die Leute waren aus der ganzen Welt zusammengetrommelt worden, um als Kursleiter oder Auditor ausgebildet zu werden. Der Leiter der Unterkünfte versuchte, irgendwo noch eine Matratze aufzutreiben. Er führte mich zu meiner Unterkunft. Als er anklopfte, öffnete eine junge Französin. Sie war nicht sehr erfreut, als sie erfuhr, dass noch eine weitere Person hier wohnen würde. Ihr Einwand, dass sie bereits 8 Personen in dieser 3-Zimmer-Appartement seien, nutzte nichts. Der Leiter schmiss die Matratze auf den Boden des Wohnzimmers. Als ich die Matratze ansah, wurde mir klar, dass ich nicht die erste war, die sie benützte.

Mein nächstes halbes Jahr war von einem straffen Stundenplan ausgefüllt:
Morgens um 7.00 Uhr begann der Tag mit Frühsport. Dann gab es Frühstück und von 9.00 Uhr bis abends um 22.00 Uhr oder 23.00 Uhr wurde studiert. Das Studieren wurde nur noch durch 2 Mahlzeiten unterbrochen. Natürlich gab es keine freien Wochenenden oder so. Am Samstagmorgen konnten wir unsere Wäsche waschen und die Wohnung putzen. Ansonsten waren wir immer auf Kurs. Unsere kleine 3-Zimmer-Wohnung wurde immer mehr mit Leben erfüllt. Des öfteren kamen neue Leute an in der Nacht. So machte man morgens im Badezimmer beim Zähneputzen immer mal wieder nette Bekanntschaften. Mittlerweile hatte sich die Zahl meiner Mitbewohnerinnen in der süssen kleinen 3-Zimmer-Wohnung auf 16 eingependelt. Das hat auch seine Vorteile, man lernt rationell zu duschen. Auch gab es nicht mehr diese einsamen Stunden im Badezimmer. Man hatte immer Gesellschaft beim Duschen oder Zähneputzen. Und das Klopfen der Mitbewohnerinnen an der Badezimmertüre spornte einen zu immer neuen Bestzeiten im Schnellduschen an.

Überall schneller zu werden war überhaupt ein Ziel. Schnell duschen, schnell kaufen und schnell Kurse abschliessen, das war das Optimum.

Wir wurden immer wieder von unseren Vorgesetzten aus der Sea Org angespornt, Höchstleistungen zu vollbringen. Unsere Vorgesetzte, wir durften sie Captain nennen, setzte grossen Druck auf, damit wir die Kurse in der von oben vorgegebenen Zeit abschlossen. Wer im Rückstand war, wurde regelmässig angeschrien.

Auch mein Englischvokabular vergrösserte sich. Sehr schnell lernte ich die Lieblingsausdrücke unserer Vorgesetzten. : „Fuck you“ bedeutet in etwa „fick dich“; „kick in the as“ – „ich geb dir einen Tritt in den Allerwertesten“; „Bullshit“ – „Scheisse“; „Arsehole“ – „Arschloch“.

Mich erstaunte immer wieder, mit wie wenig Worten die Amerikaner auszukommen scheinen. Die meisten ihrer Sätze bestand aus einem dieser Worte. Nachdem ich ½ Jahr lang Bett, Tisch und Klo mit 700 anderen Trainees aus der ganzen Welt geteilt hatte, schloss ich mein Training ab und ging zurück in meine Zürich Org.

Da ich ja jetzt trainiert war, herrschte ein neuer Wind. Fortan sollte ich nicht bloss die vertraglich festgelegten mickrigen 40 Stunden in der Org arbeiten. Nein, es war nötig, voll da zu sein. Dies bedeutete 60, 70 oder auch mal 80 Stunden pro Woche. Meine Vorgesetzten in der Org entschieden, dass mein Freund für meinen Lebensunterhalt aufkommen sollte, damit ich mich voll höheren Zielen widmen konnte. Mein Freund war davon natürlich nicht begeistert. Ich war zwischen die Fronten geraten. Der Druck seitens der Org wurde immer grösser. Immer länger wurden die Tage, die ich in der Org verbrachte. Zuletzt durften wir nicht mehr nach Hause, bevor wir nicht unsere vorgegebenen Tagesziele erreicht hatten.

Mein Freund drängte mich, mir einen Job zu besorgen, damit er mich nicht mehr unterstützen müsse. Ich konnte aber nicht arbeiten, da ich jetzt auch morgens Kurs geben musste. Die anfangs so nette Kursleiterin von mir war jetzt meine Vorgesetzte. Sie gab den Druck, den sie von oben erhielt, ungefiltert an uns weiter. Drohungen und Beschimpfungen waren an der Tagesordnung.

Zu allem Überfluss erfuhr ich, dass mein 5-Jahres-Vertrag automatisch wieder von vorne beginnen würde, ab dem Datum, ab dem ich von Amerika zurückgekehrt war.

Inzwischen war ich fast 4 Jahre Mitarbeiter. In dieser Zeit hatte ich kaum Geld, um mir Kleider zu kaufen. Manchmal hungerte ich, weil ich kein Geld hatte, um mir etwas zu Essen zu kaufen.

Ich war körperlich am Ende. Dazu kam der nervliche Stress. Erreichte ich meine vorgegebenen Ziele nicht, wurde ich morgens um 3.00 Uhr durch Telefonanrufe terrorisiert. Ich hatte das Gefühl, dass ich der Org jetzt vollkommen ausgeliefert war. Wollte ich aufhören in der Org zu arbeiten, wurde ich vertragsbrüchig.

Dies bedeutete, dass ich all die Kurse, die ich in Zürich und in Amerika gemacht habe, hätte zurückerstatten müssen. Dies wären so an die Fr. 100’000.—gewesen.

Nun möchte ich schildern, wie ich ausgestiegen bin: Nachdem ich noch ein zweites Mal in Amerika war, wurde mir immer mehr bewusst, dass ich in einem totalitären System gelandet war:

  • Ich erkannte, was es bedeuten würde, eine scientologische Welt zu haben. Menschen wurden nur geliebt, wenn sie upstat waren. D.h., gute Statistiken haben. Wenn jemand upstat ist, kann er ziemlich tun und lassen was er will, aber wehe, die Statistiken gehen runter.
  • Scientology ist militärisch und hierarchisch strukturiert. Menschen werden nach sehr oberflächlichen Gesichtspunkten taxiert, nach ihrer Schönheit oder nach der Leistung, die sie erbringen.
  • Scientology verspricht zwar die totale Freiheit, aber auf dem Weg dahin ist man ziemlich unfrei. Mitglieder werden dazu gebracht, immer mehr Zeit in und mit Scientology zu verbringen. Hat ein Scientologe nichts mehr zu bieten wie Geld, Arbeitskraft etc. wird er weggeworfen wie ein alter Turnschuh.
  • Mitglieder sind unter ständiger Beobachtung. Jeder Scientologe muss einen sogenannten Wissenbericht über einen anderen Scientologen schreiben, wenn er etwas sieht, was am anderen unethisch ist.
  • Personen werden abhängig gemacht, sei es durch Mitarbeiter-Verträge oder durch Versprechungen, irgendwelche übernatürlichen Fähigkeiten zu erhalten.
  • Der Idealismus von Menschen wird gnadenlos ausgenutzt. Aus jedem Scientologen wird alles rausgeholt, was er zu bieten hat.
  • Scientology will die Mitglieder vollständig kontrollieren. Wenden sich Familienmitglieder von Scientologen gegen Scientology, wird der Scientologe dazu gebracht, die Verbindung zur Familie abzubrechen. In Scientology werden selbst Kinder ausgebeutet: In der Sea Org müssen schon 13-jährige wie die Erwachsenen arbeiten ( 14-16 Stunden am Tag).
  • Der Einzelne zählt nicht. Nur die Gruppe zählt. Es gibt nur ein polarisiertes Denken in Scientology. Das heisst, es gibt nur schwarz oder weiss. Ein Mensch ist entweder gut oder schlecht.
  • Kritik darf man keine üben über Scientology. Scientology verfügt über ein gutes Geheimdienstnetz. Gegner werden mundtot gemacht.
  • Scientologen werden belogen z.B. über die Biographie von Hubbard. Anhänger der Scientology verlieren den Bezug zur Realität.

Ich könnte diese Liste noch länger weiterführen.

Wie bin ich ausgestiegen?

Etwa ein halbes Jahr lang ging es mir immer schlechter. Irgendwann realisierte ich, dass ich in einer Art Gefängnis war. Allerdings bestand das Gefängnis aus Ängsten, moralischen Verpflichtungen und Drohungen seitens der Organisation. Als ich realisierte, dass auch die Org von mir als Kursleiterin abhängig war, begann ich mich stark zu fühlen. Ich wusste, dass ich mich immer schlecht fühlte, wenn ich hinging. Also beschloss ich, einfach nicht mehr hinzugehen.

Ich rief meine beste Freundin an. Sie holte mich ab und ich versteckte mich bei ihr, bis die Scientologen herausfanden, dass ich mich bei ihr befand. Ich floh dann zu einer anderen Freundin und nach ein paar Wochen fand ich eine Arbeitsstelle und eine Wohnung. Wieder spürten mich die Scientologen auf. Mein Exfreund erschien an meinem Arbeitsplatz. Er wollte unbedingt einen Termin mit mir vereinbaren, um alles zu regeln. Ich ging aber nicht hin. Es wäre ohnehin eine Falle gewesen, da er nicht alleine kam. Es waren noch zwei Leute von der Ethik-Abteilung dort. Zwei Jahre lang versuchte ich, wieder im normalen Leben Fuss zu fassen.

Ein Aussteiger zu sein kann genauso schlimm sein, wie wenn man noch in einer destruktiven Gruppe ist.

Es beginnt mit den Vorwürfen der Angehörigen: „Hab ich dich nicht immer schon davor gewarnt?“

Dann die quälenden Alpträume, sowie das schlechte Gewissen gegenüber der Gruppe, die man verlassen hat. Der Verlust von Freunden, die man in der Gruppe hatte. Das Gefühl zwischen zwei Welten zu leben und nirgends dazuzugehören.

Das Nichtverstandenwerden.

Erlebnisse, die man hatte in dem Kult, über die man nicht sprechen kann, weil andere das nicht nachvollziehen können.

Zu spüren, dass andere über einen lachen, tratschen oder Abstand nehmen.

Das Misstrauen, das einem entgegenspringt.

Das Wiedereingliedern in das normale Leben und vor allem in den Beruf.

Der Verlust von Idealen und das Gefühl, betrogen worden zu sein.

Jemand sandte mir ein Gedicht, das ein Aussteiger geschrieben hat. Das Gedicht ist in Englisch. Hier einige Passagen, die ich übersetzt habe. Das Gedicht heisst „It hurt’s“ (es schmerzt) von Jan Groenveld:.

Es schmerzt, wenn du feststellst, dass du fehlgeleitet wurdest und an eine wahre Religion glaubtest.

Es schmerzt, wenn du feststellst, dass jene Menschen, denen du vertrautest, den Wollknäuel vor deinen Augen gestrickt haben.

Es schmerzt, wenn du feststellst, dass du den Kontakt zur Realität verloren hast.

Es schmerzt, wenn du vor deiner Familie stehst und sie dir vorwerfen
“Ich hab’s dir doch gesagt.“

Es schmerzt, wenn du feststellst, dass du alles aufgegeben hast für den Kult.

Es schmerzt alleine zu sein und zu sehen, dass dich niemand versteht.

Und all diese vergeudete Zeit. So erscheint es dir – vergeudete Zeit.

Bei Gesprächen mit anderen Aussteigern stellte ich fest, dass alle dieselben Probleme haben. Deshalb glaube ich, dass es Zeit ist, eine Selbsthilfegruppe zu bilden.

Menschen, die selber nie in einer destruktiven Gruppe waren, denken vermutlich, dass der Sektenangehörige nur auszusteigen braucht und das Problem ist gelöst. Ich erfuhr, dass jetzt die Probleme erst anfangen. Eine solche Gruppe war für die Person auch eine Schutzmauer gegenüber der bösen Umwelt. Auf einmal steht man alleine da, zwischen den Fronten, die einem auch noch feindlich gesinnt sind.

Es gibt auch Aussteiger, die Familienmitglieder in der Sekte zurücklassen.

Ich habe viel gelernt über Macht und Manipulation. Das Thema Religion, Religionsfreiheit und Manipulation ist ein heikles Thema.

Vermutlich erwarten Sie jetzt von mir, dass ich radikal gegen alle Sekten vorgehe. Es ist nicht mein Ziel, eine Hexenjagd zu veranstalten. Ich denke, dass dies nichts bringt. Denn dies können die Sekten wieder positiv für sich verwerten. Sie können sich als Opfer einer rassistischen Kampagne darstellen. Ich will einfach solchen Gruppen Grenzen setzen, damit sie wissen, dass sie nicht alles machen können. Religionen eignen sich sehr gut zur Manipulation. Meine Aufgabe sehe ich eher in der Aufklärung. Die Menschen müssen lernen, dass Glück nicht von aussen, sondern von innen kommt. Schon junge Menschen sollten die Mechanismen der Manipulation kennen. Auch der Gruppendruck spielt eine wichtige Rolle.

Meiner Meinung nach sollten folgende Punkte beachtet werden:

Kritisieren Sie weder den Glauben noch das Mitglied. Denn jeder Mensch will Recht haben. Wenn Sie jemanden ins Unrecht setzen, stossen sie ihn nur tiefer hinein.

Informieren Sie sich über die Gruppe, ihr Glaubenssystem. Geben Sie sich interessiert, um Informationen zu erhalten. Halten Sie Kontakt zum Mitglied der Sekte. Die Sekte wird versuchen, das Mitglied zu vereinnahmen.

Sektenmitglieder geben oft alles auf und sie zahlen oft keine Versicherungen mehr ein. Für Eltern eines Sektenopfers wäre es ratsam, für das Kind einen Notgroschen anzulegen, damit es bei einem allfälligen Ausstieg ein Startkapital hat.

Wenden Sie sich nicht unbedingt öffentlich gegen diese Gruppe. Das Mitglied wird sonst gezwungen, sich von Ihnen abzuwenden.

Geben Sie der Person nicht das Gefühl, dass Sie sie jetzt nicht mehr akzeptieren, weil sie nicht so lebt, wie Sie das gerne hätten.

A usserdem bin ich eine Verfechterin der Wahlfreiheit. Wir haben immer die Wahl und daraus ergibt sich automatisch, dass wir vielleicht eine vermeintlich schlechte Wahl treffen.

Ich glaube, dass das Ziel des Lebens ist, bestimmte Dinge zu erfahren. Wir sollten auch Fehler machen dürfen. Die Frage ist auch, ob es so etwas wie Fehler überhaupt gibt.

Wenn mich jemand fragt, ob ich meine Zeit in Scientology bereue, antworte ich mit „Nein“. Ich bin der Meinung, dass Bereuen etwas Destruktives ist. Ich darf sagen, dass ich Erfahrungen gesammelt und dabei viel gelernt habe. Nur dadurch bin ich zu dem Menschen geworden, der ich heute bin.

Jenen unter den Lesern, die ein Familienmitglied in einer destruktiven Gruppierung haben, möchte ich sagen, dass sie auch stolz sein können auf diese Menschen. Es müssen idealistische und mutige Menschen ein – und von denen gibt es nicht mehr viele.

Seien Sie sich bewusst, dass Ihr Sohn oder Ihre Tochter durch einen Prozess geht und dass sich alles noch ändern kann. Seien sie einfach da und reichen Sie ihm/ihr die Hände. Irgendwann wird ihr Kind danach greifen.

Mein Ziel ist es eine Brücke zu schlagen zwischen Sektenmitgliedern und deren Angehörigen. Ich glaube auch, dass man viel mehr Aufklärung betreiben sollte.

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