Uriella

Kaum eine Leitungsperson einer spirituellen Gemeinschaft in der Schweiz hat die Öffentlichkeit derart bewegt wie Erika Bertschinger alias Uriella. Ihr Wiedererkennungswert war enorm, in den Neunzigerjahren kannte sprichwörtlich jedes Kind die Leiterin des Ordens Fiat Lux. Ihre Fernsehauftritte hatten Kultcharakter und bescherten den TV-Sendern Traum-Einschaltquoten. Während der Grossteil der Zuschauerschaft belustigt beobachtete, wie sich eine schrullige selbsternannte Heilige vermeintlich selbst demontierte, nahm Uriellas Zielpublikum – konservativ geprägte Menschen mit der Sehnsucht nach einer idealen Welt – ihre Medienpräsenz anders wahr: Uriella galt ihnen als Botin des Lichts im Dunkel des sich breit machenden Materialismus, die es nicht scheut, ins Zentrum der widergöttlichen Mächte, der Medien, hinabzusteigen, und die Häme und Spott der unerleuchteten Welt mit Duldermiene trägt. Nicht umsonst erreichten uns nach fast jedem Medienauftritt Uriellas Anfragen von Menschen, welche die Kontaktdaten des Ordens Fiat Lux suchten.

Uriella wurde am 20. Februar 1929 als Erika Hedwig Gessler in Zürich geboren und wuchs in einem konservativ-katholischen Elternhaus auf. Ihre Ausbildung als Fremdsprachenkorrespondentin führte sie nach England und in die USA, wo sie mit spritistischen Medien in Kontakt kam. In der Schweiz schloss sich Erika Gessler für ein paar Jahre der Geistigen Loge Zürich an und heiratete nach einer ersten Ehe, über welche wenig bekannt ist, als zweiten Ehemann den Unternehmer Max Bertschinger. Durch einen Reitunfall im Jahr 1973 soll sie selbst zum Channeling befähigt worden sein und nahm den Geistnamen Uriella an. Nach dem Tod ihres Mannes gründete Uriella im Jahr 1980 dessen Haus in Egg ZH den Orden Fiat Lux.

Für den Orden prägend wurde der ehemalige katholische Priester Kurt Warter, der sich im Jahr 1983 dem Orden Fiat Lux anschloss und 1984 als Uriello zu Uriellas drittem Ehemann wurde. Uriello prägte die Lehrentwicklung des Ordens entscheidend mit und veranlasste dessen Umzug in den Schwarzwald mit Zentren in Strittmatt und Ibach. Nach Kurt Warters Tod bei einem Autounfall im Jahr 1988 heiratete Uriella im Jahr 1991 ihren letzten Ehemann, Eberhard Eicke alias Icordo.

In den Achtzigerjahren warb Uriella intensiv im Rahmen der damals trendigen Esoterik-Welle, etwa durch Stände an Esoterik-Messen, ab 1982 auch durch öffentliche Gottesdienste im Kasino Zürichhorn in Zürich. Der Orden wuchs bis zu seinem zahlenmässigen Höhepunkt ums Jahr 1990 herum auf gegen 1’000 Mitglieder an.

Im Jahr 1988 prognostizierte Uriella apokalyptische Ereignisse, die Reinigung dieser Erde und deren Verwandlung ins Paradies Amora, innerhalb von drei Jahren. Als sich 1991 zeigte, dass sich diese Erwartungen nicht erfüllen, führte dies zu Abgängen beim Orden. Weitere Endzeittermine in den Neunzigerjahren folgten, wiederum mit Rückzügen enttäuschter Mitglieder. Dazu kamen Verfahren um Uriellas Heilmittel und Heilpraktiker-Zulassungen. Teilweise konnte Uriella die Abgänge mit ihren Medienauftritten kompensieren, für welche sie in den Neunzigerjahren bekannt war.

Seit dem Jahr 2010 litt Uriella an einer Krankheit, die zunehmende Lähmungen verursachte, und an welcher sie am 24. Februar 2019, vier Tage nach ihrem 90. Geburtstag, starb.

Berichte von Menschen, welche Uriella eine Zeitlang näher standen, weisen unisono darauf hin, dass Uriella je nach Kontext ganz unterschiedliche Gesichter zeigen konnte. Bezeichnenderweise werden diejenigen Rollen, welche Uriella am häufigsten einnahm, in der Rotkäppchenpuppe repräsentiert, welche sie selbst vertrieb. Die Puppe zeigt drei Personen: Rotkäppchen, Grossmutter und Wolf.

Mädchen war Uriella in ihrer ostentativen Jungfräulichkeit und ihrer geradezu zelebrierten Naivität. Wer Uriella argumentatorisch in die Zange nehmen wollte, prallte an kindlichem Lächeln und bewusst unbedarften Ausflüchten ab. Auch Uriellas Ordensmitglieder lebten das Kind in der Frau resp. im Manne reichlich aus. Ehen bewegten sich auf Schulschatz-Niveau, wenn überhaupt. Angesprochen hat man sich mit „Liebe“ und „Lieber“, wobei Uriella jeweils die „Innigstgeliebteste“ war. Die Produktionen des Ordens, etwa im Bereich Musik, hatten mehr mit kindlicher Freude an der Sache als mit Professionalität zu tun. Wenn Erwachsene sich zusammentun, um gemeinsam in einer Art Kindergarten zu leben, dann bleibt für echte Kinder kein Raum. Deshalb kann es nicht erstaunen, dass die Kinder, die von ihren Eltern in den Orden mitgebracht wurden, diesen mitunter als sehr unangenehm erlebten.

Uriellas offizieller Titel als Leiterin des Ordens Fiat Lux war nicht Ordenshaupt, auch nicht Ordensgeneralin, sondern Ordensmutti. Die Ordensbeziehung war als Mutter-Kind-Beziehung gedacht: Jede wesentliche Entscheidung wurde, so berichten es Ehemalige, mit der Ordensmutti diskutiert. Kein Wunder deshalb, dass Uriellas Mutterrolle auch ins Heilsgeschichtliche hinein verlängert wurde: als Reinkarnation der Eva liess sich Uriella als „unsere Urmutti“ ansprechen. Als gütige Grossmutter ihrer Schützlinge stellte sie sich auch gern in der Öffentlichkeit dar.

Ehemalige berichten aber davon, dass Uriella dann, wenn sie im Orden auf Widerspruch stiess, weder mädchenhaft-naiv noch grossmütterlich-fürsorgend reagierte, sondern bellend und bissig. Uriella konnte Mitglieder mit einer Schärfe disziplinieren, die durch den Wolf der Rotkäppchenpuppe sehr gut wiedergegeben ist. Spürbar wurde diese Wolfsnatur etwa dann, wenn Uriella in angeblicher Volltrance Jesus channelte. „Jesus“ konnte, wenn Uriella mit der Beachtung der Regeln oder dem Engagement der Mitglieder nicht zufrieden war, sehr aufbrausend werden und einzenle Ordensangehörige massivst abkanzeln. Und wie eine Leitwölfin hat Uriella, so berichten es Ehemalige, in der Geschichte des Ordens immer wieder Personen, welche sich nicht mehr unterordnen wollten, aus der Gemeinschaft vertrieben.

Schon zu Zeiten von Uriellas Rückzug aus der Öffentlichkeit wurde gelegentlich die Frage gestellt, wer in einem ähnlichen Sinn wie Uriella wirken und damit als „neue Uriella“ gewissermassen ihre Nachfolge antreten könnte.

Wegen ihres hohen Bekanntheitsgrades war Uriella für weite Teile der Schweizer Bevölkerung der Inbegriff einer spirituell tätigen Frau mit radikalen Positionen. So wurden umstrittenere Esoterikerinnen gerne als „die Uriella vom Ort XY“ bezeichnet. Ein Beispiel aus den letzten Jahren ist die aus dem Glarnerland stammende esoterische Lehrerin und Heilerin Maria Magdalena Hefti alias M. M. Mara, die in den Medien als „Uriella von Braunwald“ betitelt wurde. Tatsächlich zeigten sich zwischen der Uriella aus dem Schwarzwald und der Uriella von Braunwald einige Parallelen: Beide empfahlen die Einhaltung strikter Ernährungsregeln, allerdings nicht genau derselben (der Rohkost im Schwarzwald stand in Braunwald Veganismus gegenüber). Beide empfingen ihre Berufung durch einen Unfall, Uriella zu Pferd, Mara mit dem Auto, beide waren von weiss gekleideten Personen umgeben, beide traten als Heilerinnen auf und beide wurden massiv verehrt. Andererseits waren die Unterschiede ebenfalls offensichtlich: Uriella leitete einen Orden, M. M. Mara eine Schule, deren Absolventen wechselten, Uriella empfand sich als Sprachrohr Gottes, M. M. Mara wurde als Botschafterin der Grossen Göttin gesehen, Uriella liess sich von ihren diversen Ehemännern unterstützen, M.M. Mara kam ohne männlichen Support aus. Inzwischen ist es um M. M. Mara wieder ruhiger geworden.

Aus Sicht des Ordens Fiat Lux kann es keine Volltrance-Sprachrohre mehr geben. Doch nicht alle Personen auf der spirituellen Szene halten sich an diese Einschränkung. Zu nennen wäre hier etwa Bahar Yilmaz, die Expartnerin des bekannten Jenseits-Mediums Pascal Voggenhuber, die als „Tieftrance-Medium“ auftritt und verschiedene Wesenheiten channelt. Wenig davon überzeugt zeigt sich pikanterweise ihr Expartner Voggenhuber, der in seinem neuesten Buch „Nachricht aus dem Jenseits 2.0“ meint: „Wenn ein Medium denkt, Jesus, Erzengel Michael, Mohammed oder sonst wer spricht durch ihn – wer ist das in Wirklichkeit? Natürlich sein Hauptgeistführer, der zeigt sich ihm einfach so, wie derjenige es annehmen kann (s.123)“.

Wenn wir das Publikum entscheiden lassen und beobachten, wohin diejenigen Personen, welche eine Zeitlang zum Orden Fiat Lux oder dessen Umfeld gehörten, sich heute orientieren, dann stellen wir fest, dass eine rechte Zahl ehemaliger Fiat-Lux-Träger sich zurzeit für die inzwischen 18jährige Christina Meier alias Christina von Dreien interessiert. Angesichts der deutlichen inhaltlichen Parallelen in den Vorstellungswelten von Christina von Dreien und des Ordens Fiat Lux ist dies kein Zufall. Ebenso wie der Orden Fiat Lux verkündigt Christina von Dreien die baldige Wende zu einer paradiesischen Welt, welche bis in manche Einzelheiten hinein an Uriellas Paradies „Amora“ erinnert: Kein Fleischkonsum mehr, Fortpflanzung ohne Sex, allgemeine Friedlichkeit, auch von Raubtieren, kollektivistische Tendenzen. Die Medienpräsenz von Christina von Dreien stand in den vergangenen Monaten derjenigen von Uriella zu ihren besten Zeiten in nichts nach, und die bei Uriella zunehmend zutage getretene Neigung zu Verschwörungstheorien wird von Christina von Dreien eher noch überboten. Eine Parallele zeigt sich auch in der Sprache: Christina von Dreiens Hochdeutsch ist mindestens ebenso dialektal geprägt und helvetismenreich („Die einten sehen das anderst“) wie dasjenige von Uriella.

Deutlich sind aber auch die Unterschiede: Uriella trat als Heilerin auf, die mit ihrer „Apotheke Gottes“, Kochsalz-Ampullen, welche sie nach eigener Aussage energetisch bestrahlt hat, viel Geld einnahm. Christina von Dreien heilt nicht. Uriella machte Channeling, indem angeblich Jesus und Maria mit jeweils veränderter Stimme durch sie sprachen. Christina von Dreien channelt nicht, sie behauptet, selbst eine hohe Seele zu sein, die aus lichten Sphären herniedergestiegen ist und ihr eigenes, hohes Wissen weitergibt. Uriella war Ordensmutti, Christina von Dreien hat bisher keine Gemeinschaft gegründet. Allerdings, dies muss auch gesagt werden, stiftete Uriella ihren Orden nach sieben Jahren Sprachrohr-Tätigkeit im Alter von 51 Jahren. Christina von Dreien ist eben erst erwachsen geworden.

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