Buddhismus – Religion oder Philosophie?

In der «Internationalen Buddhistischen Akademie» am Fuss des burmesischen Klosterbergs Sagain erklärt uns der Vizerektor die Grundlagen buddhistischer Philosophie und Meditation. Er analysiert mit Akribie die Funktionsweise des menschlichen Geistes, erklärt, was ihn antreibt, was ihn aufbaut, was ihn verwandelt und was ihn wieder auflöst. Von einem Glauben an irgendwelche göttlichen Mächte ist nirgends die Rede, selbstverständlich auch nicht von einem Glauben an Buddha. Denn was der Buddha erlebte und lehrte, soll nicht geglaubt, sondern in eigner Erwägung geprüft und nachempfunden werden. Wenn Religion Glaube an einen Gott oder an irgendwen oder irgendwas ist, so hat diese Analyse des menschlichen Geistes mit Religion und Glauben nur soviel gemeinsam, dass unser Gesprächspartner selbstverständlich glaubt, dass es sich auch für seine Zuhörer lohnt, sich auf die Erfahrungen und die Lehre des Buddha einzulassen.

In der an unsere Gespräche anschliessenden Meditaton steht unser Lehrer eine halbe Stunde lang in lächelnder Gelassenheit völlig unbeweglich neben der Statue seines Meisters, des Begründers der Akademie. Die buddhistische Analyse des menschlichen Geistes ist kein Selbstzweck, sondern ein Erfahrungsweg. Das mediative Loslassen erahnt von ferne die Sphäre des reinen Nicht-Ich, das eigene Entwerden, die unendliche Gelassenheit. Unterwegs aber, bevor diese Sphäre des Entwerdens sich am Horizont abzeichnet, erschliesst das meditative Loslassen jene lächelnde Gelassenheit, die aus jedem Buddhabild spricht und den buddhistischen Völkern Südostasiens auch über weite Strecken ihres schwierigen Alltags ihr sprichwörtliches Lächeln schenkt. Südostasien lächelt auch dort noch, wo wir Mitteleuropäer schon verbissen ankämpfen oder uns grimmig abwenden würden.

Der Mahamuni-Buddha in Mandalay, nach der Swe Dagon Pagode in Yangon das heiligste Objekt Burmas, wird seid Generationen Tag für Tag von frommen Verehrern mit Goldfolien beklebt. Fotos an den Wänden des Tempels zeigen die im Verlauf der Jahrzehnte eingetretene Deformation seiner Gestalt. Anfangs noch eine sitzende Buddhastatue in üblicher Burmamanier, quellen sein Rumpf und seine Glieder mit der Zeit derart auf, dass er im Verlauf der Zeit zum riesigen Goldklumpen verkommt, eine Gestalt, voller Goldgeschwüre, erkennbar als Buddha fast nur noch im Gesicht, das nicht beklebt werden darf. Doch nicht nur die Schönheit der Statue hat unter der Last der Verehrung gelitten. Man erklärt uns, dass die Last der Goldfolien die darunter verborgenene Statue stellenweise auch schon zu erdrücken drohte, so dass mit «Notoperationen» die unter den Goldschichten verborgene Bronzestatue verstärkt werden musste. Unter dem Gold der Verehrer zerbricht der Verehrte. Was geschah mit dem spirituellen Philosophen, der den menschlichen Geist als Prozess erkannte, der meditativ in seine eigene Auflösung gleitet, und der nun hier vor überbordender Verehrung verunstaltet als Goldungetüm vor uns sitzt? Hat der Philosoph den schlichten Verstand vieler Verehrer überfordert? Will die Masse der Verehrenden Buddha lieber mit Gold überhäufen als seiner Philosophie folgen? Die Philosophie des Meisters ist anspruchsvoll. Die Liebe der Verehrer ist schlicht. Ist dies vielleicht sogar ein in der Geschichte der Religionen allseits wirksames tragisches Gesetz, wonach Verehrung zuerst die anspruchsvolle Meisterlehre durch religiöse Liebe zum Meister ersetzt und dann mit ihrer Liebe den Meister erdrückt? Immerhin ist kaum zu verkennen, dass z. B. unter dem Glanz der späteren Christusverehrung auch der Meister von Nazaret in seinen zentralen Anliegen fast völlig verblasste. Verehrung will nur das Beste für den Verehrten. Aber ihr Bestes trifft selten das Beste des Verehrten. Wie immer auch, die spirituelle Philosophie Gautamas, des Buddha, wurde im Kreis seiner Adepten schon bald von religiöser Verehrung derart umrankt, dass nur noch spirituelle Eliten das zentrale Anliegen des Meisters wahrnahmen.

Die buddhistischen Höhlen Phowin bei Monywa (vier Stunden nordwestlich von Mandalay) sind echte Schmuckstücke buddhistischer Kunst. Jede Höhle ist ein buddhistisches Universum «en miniature». Aber die ganze Anlage war bereits schon damals ein Versuch, Hunderte oder Tausende Buddhastatuen in einem einzigen Bergrücken zu vereinen. Was soll – fragt sich der kritische Besucher – diese endlose Wiederholung des beinah Gleichen? Wird der Buddha in seinem Wert und seinem Anliegen verständlicher, wenn er hundertfach oder tausendfach vor uns sitzt?

Ein paar Kilometer vor den Höhlen von Phowin, in Monywa, in einer im 14. Jahrhunderten errichteten, im letzten Jahrhundert möglichst bunt renovierten Tempelanlage soll der Buddha 500 000 Mal dargestellt sein. Wer die Anlage umrundet und ihre Innenräume durchwandert, ist geneigt, dieser Schätzung zuzustimmen. Endlose Reihen von Mini-Buddha-Bildern schmücken die bunten Hallen und Fassaden des Tempels «Thambuddhei Paya». Etwas weiter südlich davon begrüsst der weltweit grösste Buddha den Besucher. Samt Podest 128 m hoch steht der neue Riesenbuddha auf einem Hügel und überblickt die Landschaft. Man kann in ihm aufsteigen (wie in der Freiheitsstatue in New York) und durch Fensterchen in seinem Mönchskleid hinausschauen. Er ist im Innern noch nicht ganz fertig gebaut. Auch der Lift in seinem Rücken funktioniert noch nicht richtig. Der Lift stürzte schon einmal ab und wird seither möglichst gemieden. Aber der Buddha selbst steht riesengross und weithin sichtbar unbeirrbar auf seinem Podest. In seiner Umgebung finden sich andere Riesenbuddhas, zum Teil vollendet, zum Teil noch im Bau. Ein 95 m langer liegender Buddha liegt vor dem stehenden Buddha lässig hingestreckt. Gärten mit Tausenden von identischen Buddhas in Reih und Glied schmücken die nähere Umgebung. Offenbar handelte der Initiator der ganzen Anlage, ein für sein Kloster besonders engagierter Abt, nach dem Motto: Je zahlreicher, desto besser, und je grösser, desto eindrücklicher. Jedenfalls geben ihm die vielen einheimischen Besucher recht. Von überall kommen sie, um dieses neue «Buddha-Wunderland» zu erleben. Namen aus der ganzen buddhistischen Welt schmücken die Tafeln der zahllosen Spender.

Der Riesenbuddha erinnert mich an die Riesenchristusgestalten oder an die Monsterkreuze in anderen christlichen Weltgegenden, manche auch jüngeren Datums, andere noch im Bau. Ist Religion eine besondere Form des Grössenwahns? Manchmal sind Religionen derart an fixe, tradierte Bilder gebunden, dass sie inhaltlich (qualitativ) nichts mehr zu modifizieren wagen. Religiöse Verehrung bewegt sich – ähnlich einer Eisenbahn – auf klar vorgegebenem Gleisen. Zuviel individuelle Gestaltung der eigenen Liebe zum Verehrten weckt den Verdacht auf Häresie und bedroht den Verehrenden. So erklärt sich mindestens teilweise die weltweit beobachtbare grosse formale Konstanz religiöser Verehrung. Das Buddhabild z. B. variert während Jahrhunderten nur minimal. Oder die Christusehrentitel wiederholen sich in der Geschichte des Christentums mit grösster Treue zur Tradition. Wie kann sich in einen formal derart engen Rahmen gebunden die Liebe zum Meister noch individuell gestalten? Liebe, auch religiöse Liebe, will sich artikulieren. In der Buddhaverehrung steigert sich die fromme Leidenschaft quantitativ. Immer grösser wird das grundsätzlich vorgegebene Bild, immer mehr Buddhastatuen füllen die Pagoden und Parkanlagen, aber die Verehrung erschafft immer mehr vom grundsätzlich Gleichen. Oder sie weitet das Vorgegebene ins Immense aus. Je grösser die Statue, desto grösser versteht sich vielleicht auch die Liebe zum Dargestellten. Auch quantitative Steigerung fasziniert. Ob sie aber auch inspiriert?

Der neue 128m hohe Buddha bei Monywa (im Nordwesten von Mandalay) ist nicht nur, wie erwähnt, innen begehbar. Auf allen unteren Etagen des Buddha sind in einmaliger Ausführlichkeit Höllenszenen dargestellt. «Höllenkunst» hat zwar im Theravada-Buddhismus Tradition. Sogar die Höhlen von Alu Vihare im Bergland von Sri Lanka, in denen zum ersten Mal der Pali-Kanon schriftlich fixiert wurde, sind mit wilden Höllenszenen geschmückt. Auch den neuen Thai-Tempel in Gretzenbach SO in der Schweiz zieren vorne links Höllenszenen. Noch nie habe ich aber in der christlichen oder in der buddhistischen Welt eine derartige Orgie von Höllenbildern gesehen wie im Bauch des Buddha bei Monywa. Da werden zum Beispiel Fischer, die berufsmässig Fische ausnehmen und zum Trocknen in Hälften zerlegen, in der Hölle selber ausgeweidet, in Hälften zerlegt und getrocknet. Oder wer hier Familienmitglieder verprügelt, der wird später im dämonischen Familienverband mit infernalischer Vehemenz verprügelt. Wer hier Hähnchen grilliert, der wird in der Hölle grilliert usw. Nach Durchsicht aller Höllenszenen kann kaum jemand mehr erwarten, dass er nach diesem Leben ungeschoren davon kommt. Ein Höllenaufenthalt drängt sich für jede und jeden auf. Wie erklärt sich diese traditionelle und hochmoderne Höllenkunst? Die Antwort findet sich z.B. bei George Orwell, in seinem Buch ‹Tage in Burma›: Schreckliches Karma – dies zeigt Orwell in eindrücklichster Weise – versucht der fromme Geist mit Stiftungen aufzuwiegen oder gar aufzuheben. Dazu findet sich im Areal des grössten Buddhas der Welt bei Monywa reichlich Gelegenheit: Die weiten Haine voller Buddhas laden zum Spenden ein. Wer einen neuen Buddha spendet, kann vielleicht der Hölle entrinnen. Es wird bei Monywa noch und noch gestiftet aus allen Bereichen der buddhistischen Welt. Das Christentum kannte und kennt – wie wir nur allzu gut wissen – z.T. ähnliche Höllenvermeidungsstrategien oder Fegefeuerverkürzungen. (Weil die buddhistische Hölle nur eine Phase im Reinkarnationsprozess ist, gleicht sie grundsätzlich eher dem katholischen Fegefeuer als der christlichen Hölle. Allerdings – derart detaillierten Schrecken wie im Riesenbuddha bei Monywa bin ich in der katholischen Fegefeuerkunst nie begegnet). Während aber in einem modernen christlichen Bauwerk derartige Höllenszenen mehr amüsieren als erschrecken würden, werden die Burmesen der Gegenwart im Bauch des Buddha sehr nachdenklich. Niemand lacht oder scherzt. In Burma ist die Hölle offensichtlich noch nicht zum blossen Kinderschreck verkommen. Was würde wohl Gautama, der Buddha, sagen, wenn er seine eigene Riesenstatue durchwandern könnte? Oder was würde ein Jungianer sagen? «Selbst ein Buddha trägt noch seine Schatten in sich»? In jedem Fall könnte in der Optik des westlichen Beobachters die Verwandlung kaum grösser sein: Gautama, der spirituelle Philosoph, der den menschlichen Geist bis in dessen Auflösung hinein analysiert, wird zur Riesenstatue, die Dutzende von Höllenszenen in sich trägt, die den Besucher dazu animieren, durch Spenden sein mögliches schlechtes Karma aufzuwiegen. Aus luzider Philosophie wird volkstümlicher, von Höllenfurcht begleiteter Buddhakult.

Wenn zwischen der Philosophie des Meisters und der Religion seiner späteren Verehrer in der Optik des modernen Betrachters ein Graben aufbricht, so fragt sich, ob dieser Graben nur die alte Schule, den Theravada-Buddhismus kennzeichnet. Das grosse Fahrzeug, der Mahayana-Buddhismus, hat diesen Graben zwischen spirituell elitärer mystischer Philosophie und Laienbuddhismus in den Jahrhunderten nach Buddha in der Tat ein Stück weit auf mannigfache und hie und da auch originelle Weise zugeschüttet. Der Buddhismus, ursprünglich die spirituelle Philosophie Gautamas, wandelte sich im Mahayana zur philosophisch zwar geläuterten, aber trotzdem zeremonienreichen und nicht selten beinahe metaphysiktrunkenen Religion. Jede religiöse Vorstellung und Praxis, die im vorbuddhistischen Asien Menschen bewegte, findet in diesem grossen – oder «riesengrossen» – Fahrzeug irdgendwo ihren neuen Raum. Die eingängige Deutung des Buddha als das innerste Wesen aller Dinge macht jede Form religiösen Verhaltens letztlich zur Buddhaspiritualität. Aber ob Gautama, der Buddha, diese Wende zur pantheistisch verstandenen Welt, selbst gerne mitvollzogen hätte? Wer sich am Meister selbst orientieren will, greift mit Vorteil noch immer zum Pali-Kanon, zu den Schriften des Theravada, auch wenn in dieser alten Schule der Gegensatz zwischen elitärer spiritueller Philosophie und schlichter Volksreligion an keiner Stelle überzeugend aufgehoben wird.

Der erwähnte Gegensatz kann den christlichen Beobachter vielleicht immer wieder neu irritieren. Aber erschrecken kann er ihn nicht. Denn zu oft drängt sich auch uns Christen die Vermutung auf, dass vieles, was sich im späteren Christentum und in dessen Christusverehrung findet, sich kaum mit den Anliegen des Meisters von Nazaret deckt. Verehrung droht überall den Verehrten zu erdrücken. Ob hier im Christentum und dort im Buddhismus der Meister kongenial und unverwechselbar in seinen eigenen Anliegen wirklich wahrgenommen wurde und wird, bleibt hier und drüben eine offene Frage.

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