ANFANG UND ENDE DES GLAUBENS AN REINKARNATION

aus: Grenzgebiete der Wissenschaft, Resch, Innsbruck 1988

 

I. DER GLAUBE AN REINKARNATlON IN DER RELlGIÖSEN SITUATION DER GEGENWART

 

Daß unsere Gegenwart sich für Reinkarnation interessiert, verwundert uns nicht. Zu keiner Zeit haben sich alle spirituellen Traditionen der ganzen Welt gegenseitig derart durchdrungen wie in unserer Zeit. Die Selbstverständlichkeit, mit der die aus Indien stammenden östlichen Traditionen mit Reinkarnation rechnen, ist für jeden Menschen der westlichen Zivilisation heute eine echte Herausforderung. Zudem waren und sind sogenannte Rückerinnerungen an frühere Leben, seit die Menschheit solche Rückerinnerungen kennt, Früchte eines mystischen Weges. Nie war der Glaube an Wiedergeburt das eigentliche Woraufhin einer Mystik. Rückerinnerungen waren immer nur Siddhis (besondere Fähigkeiten), d.h. jene Beigaben auf dem Weg der Meditation, die sich fast unwillkürlich und sicher unbeabsichtigt einstellten, die aber den Meditierenden nur allzu gerne vom eigentlichen Ziel des Weges, von der Erleuchtung oder der unio mit Gott abhielten. Unsere Gegenwart, die sich nicht ohne Grund in vielfältigster Weise um Innerlichkeit und Meditation bemüht, wird an unzähligen Stellen auch zu diesen Siddhis finden.

 

1. Christlicher Glaube

Zudem stellt der christliche Glaube dem sich ausbreitenden Rein karnationsglauben kein ernsthaftes Hindernis mehr in den Weg. Natürlich kennt das biblische Zeugnis den Glauben an Reinkarnation nicht. Der Hinweis, daß Elia in Johannes dem Täufer wiedergekommen sei, läßt sich in keiner Weise als Beleg für einen allgemeinen Reinkarnationsglauben verwenden. Das biblische Zeugnis war auch nie vom Reinkarnationsglauben durchtränkt und wurde auch nicht erst später auf Konzilien davon gereinigt. Alle Spekulationen von einer angeblichen nachträglichen, antireinkarnatorischen Überarbeitung der Schrift sind reine Spekulationen. Die Bibel äußert sich weder positiv noch negativ zur Frage nach der Reinkarnation. Biblisch besehen ist der Glaube an Reinkarnation deshalb weder falsch noch richtig, sondern einfach unnötig. Wir brauchen nicht mit Reinkarnation zu rechnen. Wir müssen diesen Reinkarnationsglauben aber auch nicht bekämpfen. Der christliche Glaube kennt andere Orientierungsmuster fürs menschliche Dasein. Dieser biblische Glaube, der den Reinkarnationsglauben nicht stutzt, ist aber nur noch für eine Minderheit eine Orientierungshilfe fürs eigene Leben. Kann es uns verwundern, daß zahlreiche Zeitgenossen andere Orientierungsmuster suchen? Der Glaube an Reinkarnation ist sicher nicht die schönste Frucht am Baum der Mystik. Aber dieser Glaube gibt doch dem eigenen Leben einen sichtbaren Rahmen. Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wer bin ich? Der Glaube an Reinkarnation schenkt Orientierung einer weitgehend orientierungslosen Zeit.

 

2. Ewigkeitswert

Wenn wir uns fragen, wie denn der Glaube an Reinkarnation im einzelnen Zeitgenossen durchbricht, so stoßen wir immer auf ein eigenartiges Miteinander von Unendlichkeitsphilosophie und bestätigter persönlicher Ahnung. Kaum ein Mensch hält es aus, ein winziges, vergängliches Wesen in einem unendlichen Kosmos zu sein. Jede traditionelle Religion schenkte diesem winzigen Wesen Mensch Ewigkeitswerte: "Gott liebt dich. Er kennt dich. Er sorgt sich um dich." Diese Antwort des traditionellen Christentums bleibt heute vielfach ungehört oder unverstanden. Aber eine ähnliche Botschaft gibt heute dem Unbedeutenden Bedeutung, dem Kleinen Größe und dem Vergänglichen Ewigkeit: "Es gab nie eine Zeit, in der du nicht warst. Du trägst eine ganze Menschheitsgeschichte in dir. Und es wird nie eine Zeit geben, in der du nicht sein wirst. In deinem kleinen Leben treffen sich zwei Unendlichkeiten, eine unendliche Vergangenheit und eine unendliche Zukunft. Du bist in deinem kleinen vergänglichen Körper inkarnierte Unendlichkeit." Wenn kein traditioneller Glaube mehr dem einzelnen Menschen Bedeutung zuspricht, verwundert es uns nicht, wenn der Zeitgenosse im Glauben an Reinkarnation wieder sich selbst zu schätzen und über sich selbst zu staunen lernt.

 

3. Persönliche Erlebnisse

Diese Bereitschaft, sich selbst als inkarnierte Unendlichkeit zu sehen, verwandelt sich aber erst in wirklichen Glauben an Reinkarnation, wenn der einzelne irgendwo die Wahrheit der Wiedergeburten "erschaut". Déjà-vu Erlebnisse, sogenannte Rückführungen, spontane Bilder, die auftauchen, verhelfen dem Glauben an Wiedergeburt zum Durchbruch im einzelnen Leben. Diese Bestätigung der eigenen Ahnungen hat zwar für Außenstehende nie Beweiskraft. Auch eine sogenannte Rückführung in frühere Existenzen, die zu unwahrscheinlichen Beobachtungen führt, beweist nur, daß Erlebnisse und Gedanken früherer Generationen nicht einfach verloren sind, sondern daß sie im meditativen Erleben in einer Art Hellsichtigkeit wieder aufgegriffen werden können. Der Meditierende kann in einer Art Hellsichtigkeit vergangenes und zukünftiges Geschehen erschauen, wobei es kurzsichtig wäre zu behaupten, daß der, der erschaut, identisch ist mit dem, der früher erlebte. Wir behaupten auch nicht, daß derjenige, der prophetisch, prospektiv zukünftiges Erleben vorwegnimmt, sicher auch im 24. Jahrhundert leben wird. Der Reinkarnationsglaube ist ein Deutungsmuster für paranormal gewonnene Einsichten. Aber andere Deutungsmuster, zum Beispiel Hellsichtigkeit in die Vergangenheit, sind mindestens so naheliegend.

 

4. Orientierungshilfe

Der Glaube an Reinkarnation schenkt dem einzelnen Menschen nicht nur die Bedeutung, die ihm früher ein traditioneller Glaube zusprach. Der Glaube an Reinkarnation bestätigt sich im Leben des Einzelnen dort, wo paranormale Einsichten oder persönliche Ahnungen im Glauben an Reinkarnation ihr Deutungsmuster finden. Diese Bestätigung gilt aber nur für den, der seine eigene Ahnung bestätigt findet. Beweiskraft hat keine einzige Rückführung in frühere Existenzen. Jedes Experiment in dieser Richtung steht auch anderen Deutungen offen.

Daß sich der Glaube an Reinkarnation ausbreitet, verwundert uns nicht. Irgendwoher muß jeder Mensch Orientierungshilfen finden. Der Reinkarnationsglaube zeigt dem Einzelnen, daß sich ihm zwei Unendlichkeiten verbinden. Jeder Einzelne ist inkarnierte Unendlichkeit. Diese Botschaft ist Balsam für jeden Menschen, der sich selbst manchmal wie ein Nichts im Meer der Vergänglichkeit fühlt.

 

II. DER ANFANG DES REINKARNATIONSGLAUBENS

Nach diesen Bemerkungen zum Glauben an Reinkarnation in unserer Gegenwart möchte ich mich dem Anfang des Reinkarnationsglaubens zuwenden. Diese Anfänge sind nicht nur religionshistorisch interessant. Sie zeigen uns Aspekte des Reinkarnationsglaubens, die noch heute sichtbar sind und ihre Bedeutung haben. Der Glaube an Reinkarnation bricht zum erstenmal auf in der Philosophie der frühen Upanishaden. In noch früheren Kulturen, z. B. in den Stammeskulturen, konnte der Mensch - wie wir noch sehen werden - höchstens mit Weitergeburt, aber nicht mit Wiedergeburt rechnen. In dieser Philosophie der frühen Upanishaden verbindet sich der Glaube an Reinkarnation eng mit den drei Fragen:

1. Wer bin ich?

2. Wer ist Gott?

3. Was geschieht in der Meditation?

Unsere Zeit fügt zu diesen drei Grundfragen aller Reinkarnationsphilosophie noch die vierte, in den heutigen Reinkarnationsdebatten zentralste Frage:

4. Was ist Zeit?

hinzu. Wir wollen diesen einzelnen Fragen im Folgenden nachgehen.

 

1. Wer bin ich?

Wer mit Wiedergeburt rechnet, interessiert sich für sich selbst in einem Maß und in einer Weise, wie es dem Menschen nicht seit jeher möglich war. Erst in der Zeit der frühen Philosophie, in der einzelne Denker nicht mehr bloß tradierter Wahrheit folgen, sondern im eigenen Fragen und Forschen zu Wahrheit finden möchten, ist Wiedergeburt überhaupt eine Denkmöglichkeit. Die frühe Philosophie Indiens (und in viel weniger ausgeprägter Weise auch die frühe Philosophie des Abendlandes) sind sozusagen der Boden, auf dem der Wiedergeburtsgedanke wie eine Pflanze wächst. Natürlich ist dieser Wiedergeburtsgedanke der frühen Philosophie nicht radikal neu. Wo wäre jemals in der Geschichte das radikal Neue Wirklichkeit? Die Vorform der Wiedergeburt ist die Weitergeburt, d. h. die Überzeugung des archaischen Menschen, daß der Sterbende zu den Vätern eingeht, wie er auch sein Leben dem Stamm verdankt. Das Kollektiv wird wiedergeboren. Der einzelne Mensch sorgt sich noch fast ausschließlich für dieses Leben und Weiterleben der ganzen Gruppe. Seine weitere Existenz als einzelner beschäftigt den Menschen noch kaum. Wie könnte er an eine eigene Wiedergeburt ernsthaft denken, wenn er sich selbst schon in diesem Leben kaum als einzelner erfährt?

Es ist kein Zufall, daß die ersten Wiedergeburtsahnungen in Indien und im Abendland noch als unerhörte, vor der Allgemeinheit zu schützende Einsicht verstanden werden. YAJNAVALKYA, vielleicht der eindrücklichste Meister der frühen Upanishadenzeit, nimmt seinen Schüler noch beiseite, wenn er mit ihm über Wiedergeburt spricht (1). Nur als Durchbruch durch ein älteres, noch weniger individuell empfindendes Denken wurde es den Menschen überhaupt möglich, an Wiedergeburt zu denken. Noch deutlicher esoterisch sind die Wiedergeburtsahnungen und Erfahrungen des PYTHAGORAS. Sie werden von seiner Umwelt und Nachwelt auf weiten Strecken belächelt und verkannt, falls sie diese Umwelt überhaupt zur Kenntnis nimmt. Der philosophische Einzelgänger fand in Indien und im Abendland als erster zum Glauben an Wiedergeburt, weil er als erster zum Bewußtsein der eigenen Individualität findet, das in diesem Glauben vorausgesetzt wird.

 

2. Wer ist Gott?

Die Denker der frühen Upanishadenzeit, der Buddha und die frühen griechischen Philosophen , tun sich alle schwer mit dem tradierten Gottesglauben. Die altvedischen Götter werden zwar nie von ihrem Thron gestoßen und sogar der Buddha läßt den Göttern als geheimnisvollen Wesen noch Raum im Ganzen der Wirklichkeit. Aber die Götter verblassen schon vorbuddhistisch, in den frühen Upanishaden, bis fast zur völligen Bedeutungslosigkeit.

Das Selbst ist das Thema der vorbuddhistischen Philosophie (genauso wie das Nicht-Selbst das große Thema des frühen Buddhismus ist). Dieses Selbst als Urwirklichkeit in allen Wesen kann nicht getrennt werden von dem Brahman, dem göttlichen Urgrund in aller Wirklichkeit. Die Götter verlieren ihre lebensbestimmende Kraft. Sie gestalten nicht mehr das Schicksal der Menschen. Sie schaffen nicht mehr seine Erlösung. Wer möchte sich im Ernst noch den Launen und den Skurrilitäten dieser Götter ausliefern? Das Göttliche im Eigenen und in allen Wesen gilt es zu entdecken. Wer sich mit ihm eins weiß, der ist befreit. Nicht mehr die Götter richten und bestimmen. Jeder einzelne gestaltet sein eigenes Schicksal. Die Karmalehre ist die Antwort einer frühen Philosophie auf die Absurditäten eines überholten Gottesglaubens, eine Antwort, die erst dadurch möglich wird, daß der einzelne in sich Göttlichkeit entdeckt. Der einzelne wird sich selbst zur Schicksalsmacht. Er spielt für sich selber Gott. Kein launischer Herr auf irgendeinem Weltenberg fügt sein Geschick. Der frühe Mystiker glaubt dem inneren Gott mehr als irgendeinem seltsamen Himmelsherrscher. Die frühe Karmalehre läßt die Denker glauben, ohne daß sie an ihre alten Götter glauben müßten. Sie schenkt zweifelnden Geistern Perspektive und Lebenssinn dort, wo der alte Gottesglaube nicht mehr zu überzeugen vermag. Vielleicht ist deshalb die Reinkarnationslehre auch in unserer Gegenwart derart attraktiv, weil sie Glauben ermöglicht, ohne einen Gottesglauben zu verlangen, weil sie Göttlichkeit erahnen läßt, ohne Gottesvorstellungen vorauszusetzen.

Umgekehrt gilt aber auch: In einem alten, noch ungebrochenen Gottesglauben, in einer Welt, in der noch ein göttlicher Wille Leben bestimmt, ist und war kein Anlaß, mit Karma und Reinkarnation zu rechnen.

 

3. Was geschieht in der Meditation?

Die Ansätze zum Reinkarnationsglauben in der Philosophie der frühen Upanishaden entwickelten sich überraschend schnell zu einem fast allgemein akzeptierten Deutungsrahmen für jedes Leben. Anders verlief die Entwicklung im Abendland. Der Reinkarnationsglaube blieb über Jahrhunderte, was er im Grunde bei PYTHAGORAS war, ein Wissen einer Randgruppe, eine Ueberzeugung, die sich nur mit alternativer Religiosität verband. Erst in unserer Zeit scheint sich - wie erwähnt - das Abendland in weiten Bevölkerungskreisen dem Reinkarnationsglauben zu öffnen.

Warum verlief die Entwicklung derart verschieden? Die indische Philosophie war und ist in ihrer Mitte immer Mystik, d. h. sie sucht Erkenntnis in erster Linie auf dem Weg des Innewerdens, der Meditation. Der Weise, der zur Ruhe seines Geistes findet, wird zum Leitbild des Erkennenden. Gleicht der Geist dem spiegelglatten See, dann kann man bis auf den Grund des Sees schauen. So auch der Meditierende, der zur völligen inneren Ruhe fand: Er erkennt und verbindet sich mit dem, was der sichtbaren Welt zugrunde liegt. Er erkennt auf dem Weg des Vedanta sein Einssein mit dem Urgrund der Welt. Alles was ist, ist dieses Eine. Der Meditierende selbst ist dieses Eine. Im Meditierenden selbst ist dieses Eine und der Meditierende ist als das Eine auch in allem. Der Meditierende ist in allen Wesen. Das Bewußtsein, das zu seinem Grund und zu seiner Mitte fand, weitet sich ins Unendliche aus. Nichts ist ihm fremd. Von allem, was ist, erkennt der Meditierende:

Das bin ich.

 

a) Zwischenstufen

Auf diesem Weg der Meditation werden selbstverständlich auch Zwischenstufen erlebt. Bevor der Meditierende sich mit allem eins weiß, erkennt er sich oft als ein Dies oder Das. Er unternimmt Geistreisen. Er disloziert an weit entfernte Orte. Er reist in die Zukunft oder in die Vergangenheit. Er vermag - aus der Meditation aufgewacht - später eintretende Ereignisse vorauszusagen und vergangene Geschehnisse aufzugreifen. Er vermag sich auch an frühere Existenzen zu erinnern.

D.h. er sieht sich selbst während der Meditation in Situationen, in denen frühere Menschen und Wesen standen. Alle diese Einsichten werden als Siddhis, als Zauberkräfte oder als Vollkommenheiten dem Meditierenden zuteil. Ausdrücklich wird aber immer darauf hingewiesen, daß sich der Meditierende nicht bei diesen Siddhis aufhalten soll. Sie sind ein oft lästiges Nebenprodukt der Meditation. Entscheidende Bedeutung kommt ihnen nicht zu.

 

b) Erleuchtung

Am Ziel des Weges weiß sich der Meditierende nicht mehr nur eins mit diesem oder jenem Wesen der Vergangenheit oder der Zukunft oder mit diesem oder jenem Hier und Dort. Er weiß sich eins mit allen vergangenen und zukünftigen Wesen. Er ist in allen. Auf den Reinkarnationsglauben angewandt heißt dies: Unterwegs auf dem Weg der Meditation findet der Meditierende in diese oder jene vergangene oder zukünftige Existenz. Die Türen beginnen sich zu öffnen. Der Meditierende ist nicht nur ein begrenztes Ich. Aber am Ziel der Meditation angelangt hat der Meditierende auch jedes Verständnis seines Selbst als eine Kette von zahlenmässig beschränkten Geburten überwunden. Er ist alles, was sein Geist anschaut. Er ist in allen Wesen, die ihm begegnen. Am Ziel der Meditation angelangt erübrigt sich alles Reden vo Reinkarnation. Denn natürlich gilt für den Erleuchteten, daß er schon war. Aber es gilt nicht mehr, daß es irgend etwas gibt oder gab, was er nicht war. Der Glaube an Reinkarnation, unterwegs als Befreiung aus dem zu engen Verständnis des eigenen Ichs empfunden, entpuppt sich am Ziel als letzte Fessel, die der Erleuchtete zerreißt, wenn ihm Erleuchtung zuteil wird. Der Glaube an Wiedergeburt ist, so verstanden, eine provisorische Wahrheit, hilfreich für den Meditierenden auf dem Weg zur Befreiung, hilflos und unzureichend für den, zu dem die Erleuchtung fand.

Es ist kein Zufall, daß zum Beispiel im Dhamma des Buddha die Reinkarnationsidee nicht mehr zu jenem Bild paßt, das wie kein anderes das Ziel andeutet. Anatta (Unpersönlichkeit) und Reinkarnation sind zwei Bilder, die sich nur notdürftig einander angleichen lassen. Alle buddhistische Scholastik kann nicht überdecken, daß Reinkarnation nur so lange als Erkenntnis angenommen werden kann, als Anatta noch nicht eintrat. Wiedergeburt ist eine Wahrheit für Unerlöste. Aehnliches gilt für das Rechnen mit Reinkarnation in der Bhagavadgita. Die grandiose Gottesvision im 11. Gesang transzendiert im Grunde alles Reden von Reinkarnation im 2. Gesang. Und das Wissen um den einen und einzigen Atman relativiert noch einmal das Rechnen mit dieser oder jener Wiedergeburt.

Natürlich kann Indien zusammenfügen, was sich im Bewußtsein des Abendländers widerspricht. Die Kraft zur Synthese übertrifft alles, was sich das Abendland vorstellen kann. Aber angesichts der vollendeten Wahrheit entpuppt sich alles Rechnen mit Wiedergeburt als vorläufige Wahrheit. Erleuchtete glauben nicht mehr an Wiedergeburt. Sie erleben sich selbst in allem oder sich selber leer von allem. Sie waren und sind alles, was ist und war. Und sie waren all dies nicht. Sie waren in Wahrheit nicht ein mal diese eine Existenz. Wie sollten sie wiedergeboren werden?

Meditation ist ein Erkenntnisweg, auf dem die vollkommene Wahrheit alle vorläufige Wahrheit korrigiert. Natürlich ist die vorläufige Wahrheit nicht aufgehoben. Natürlich dürfen die Anfänger auf dem Weg der Meditation mit Reinkarnation rechnen. Sie werden sich auch in sog. frühere Existenzen zurückversetzt fühlen. Aber später werden sie sich in alles, was ist, versetzt fühlen. Am Ziel verzichten sie auf ihr Reden von Reinkarnation.

Die abendländische Philosophie suchte Erkenntnis in weit geringerem Maß auf dem Weg der Meditation. Sie konnte deshalb auch nicht, wie die indische, zu den Siddhis finden.(2) (Bezeichnenderweise werden PYTHAGORAS viele Siddhis von der Tradition zugeschrieben. Das läßt darauf schließen, daß PYTHAGORAS meditierte und wahrscheinlich auf dem Weg der Meditation zum Glauben an Reinkarnation fand).

 

c) Mystik

Wenn nun aber heute Mystik und Mystizismus sich größter Popularität erfreuen, wenn sich zahllose Zeitgenossen auf irgendwelche Meditationswege begeben, dann verstehen wir auch, warum sich der Glaube an Reinkarnation gerade heute derart ausbreitet. Der Glaube an Wiedergeburt schenkt sich den Anfängern auf dem Weg der Meditation, den Schülern der Mystik. Wer sich um Einsicht und Mystik nicht kümmert, der findet nie in frühere Existenzen. Wer zur Erleuchtung fand, der fand darüber hinaus. Unterwegs mag der Wanderer auf seinem Meditationsweg an Reinkarnation glauben. Am Ziel kann ihn dieser wie jeder andere Glaube nur stören.

Daß die christliche Mystik trotz ihrer engagierten Meditationspraxis kaum je zum Glauben an Reinkarnation fand (und dies im Unterschied etwa zur jüdischen Mystik), wird verständlich, wenn wir erkennen, mit welcher Leidenschaft christliche Mystik Liebe zu Gott war. Diesem liebenden Gott konnte der Mystiker gar kein Karma zuordnen. Kein Mensch kann Gott so bedingungslos wie christliche Mystiker lieben und gleichzeitig Schicksal aus einem Karma heraus erklären. Wenn christliche Mystiker sogenannte Rückerinnerungen an frühere Leben hatten, so hätten sie diese sicher als eine Art Prophetie nach rückwärts verstanden. Christliche Mystiker brauchten andere Siddhis. Sie brauchten vor allem die Siddhis Vergebung und erlebte Gnade, Überwindung des eigenen Schuldbewußtseins. Karma und Reinkarnation, für an ihren Göttern irregewordene Upanishadenlehrer hilfreiche und notwendige Einsichten, wären für christliche Mystiker nur Hindernisse, nicht Erkenntnisse, auf dem Weg zur großen Freiheit. Siddhis sind nur wirkliche Siddhis, wenn sie zur Erleuchtung gleiten. Der Glaube an Karma und Reinkarnation konnte die indischen Meister führen. (Die großen Bhaktas der späteren Jahrhunderte brauchten bereits wieder andere Begleitung). Die christlichen Mystiker hätte ein Glaube an Karma und Reinkarnation nur ins eigene unerlöste Ich zurückgebunden.

 

4. Was ist Zeit?

Die wichtigste und schwierigste Frage im Zusammenhang mit Karma und Reinkarnation lautet: Was ist Zeit? Ist Zeit auch im nachtodlichen Bewußtsein und im vorgeburtlichen Geist, was sie in unserem Wachbewußtsein ist? Der Träumende, der Schlafende, der Meditierende erkennt, daß Zeit nicht nur dies ist, was sie im Wachbewußtsein zu sein scheint: Ein Nacheinander von einzelnen Momenten, eine Reihe von Augenblicken, von denen der eine den anderen ablöst. Im Schlaf und im Traum verkürzt und verlängert sich die Zeit. In der Meditation sind Zeitreisen möglich. Meditation mündet aber zum Teil auch in ein ewiges Jetzt, in jene Gegenwart, die von keiner Vergangenheit und Zukunft mehr getrennt ist. Die religiöse Zeichensprache benutzt für dieses ewige Jetzt das Symbol des Kreises: Krishna tanzt im Reigen mit den Gopis auf dein Sandstrand. Christus sitzt im Kreis bei seinen Jüngern beim ewigen Abendmahl.

Wenn aber Zeit nicht einfach ein Nacheinander von Momenten sein muß, welche Zeit soll gelten, wenn wir das Ganze unseres Lebens anschauen? Gehen wir aus von der linearen Zeit, die die Vergangenheit und Zukunft vom Hier und Jetzt scheidet? Oder wählen wir als Deutungsraster eher eine Traumzeit oder den mystischen ewigen Augenblick? Kein Zeitmodell ist geeignet, das Ganze unseres Menschseins zu deuten. Wenn nun die Siddhis der sog. Rückerinnerung in die Zeit des Wachbewußtseins übertragen werden und wenn sich daraus eine Lehre von der Reinkarnation entwickelt, so haben wir Erkenntnisse aus einer anderen Zeit, aus einer Art Traumzeit, ins Wachbewußtsein übertragen. Wir deuten Meditationserlehnisse im Raster unserer linearen Zeit. Wir verändern damit auch die Erlebnisse. Jede Wiedergeburtslehre verformt die Siddhis, die dem Meditierenden zuteil wurden. Kurz, nur wenn die lineare Zeitvorstellung auch für alle in der Meditation gewonnenen Erkenntnisse gelten soll, gelangen wir zu einer Lehre von der Wiedergeburt. Nichts zwingt uns, meditativ Erschautes im Raster unserer linearen Zeit zu deuten. Vorsichtigerweise unterwerfen wir in der Meditation gewonnene Wahrheit nicht dem Diktat unseres Wachbewußtseins. Wenn wir uns einer Lehre von der Reinkarnation verschreiben, verallgemeinern wir, was sich gegen Verallgemeinerung sträubt. Wir zerren ins Licht unseres Wachbewußtseins, was eigentlich mit einem linearen Zeitbegriff gar nicht erfaßt werden kann.

Vielleicht können wir die Quelle für alle in der Meditation gewonnenen Erkenntnisse das überzeitliche Selbst nennen. Im überzeitlichen Selbst sind Vergangenheit und Zukunft Gegenwart. Im überzeitlichen Selbst durchdringen sich aber nicht nur Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart. Im überzeitlichen Selbst ist alles Dort und Drüben, als Oben und Unten, als Jenseits und Diesseits ein Hier und Jetzt. Der Meditierende findet ins überzeitliche Selbst. Gerade deshalb findet er auch in Erlebnisse vegangener Zeiten. Mit Reinkarnation hat dies nur dann etwas zu tun, wenn es uns beliebt, dies als Reinkarnation zu deuten. Wenn wir bloß vom überzeitlichen Selbst sprechen, bleiben wir näher bei dem, was wirklich geschieht. Wir deuten mystische Zeit mit mystischen Bildern.

 

 

III. ZUSAMMENFASSUNG IN ZEHN THESEN

1. Der Glaube an Reinkarnation schenkt dem Menschen Bedeutung, der diese Bedeutung nicht mehr im traditionellen Glauben findet. Jeder einzelne ist inkarnierte Unendlichkeit.

2. Zum Glauben an Reinkarnation findet der einzelne, wo er eigene Ahnungen bestätigt sieht. Für alle paranormal gewonnenen Einsichten finden sich aber auch andere Deutungsmuster. Sogenannte Rückerinnerungen können auch vergangenheitsorientierte Hellsichtigkeit sein.

3. Das biblische Zeugnis äußert sich weder positiv noch negativ zum Glauben an Reinkarnation. Für den christlichen Glauben ist der Glaube an Reinkarnation unnötig oder überflüssig.

4. Der Glaube an Reinkarnation entwächst der Meditation oder der mystischen Philosophie der frühen Upanishaden. Er verbindet sich dort mit den Grundfragen: Wer bin ich? Wer ist Gott? Was geschieht in der Meditation?

5. Die Kernfrage in allen Reinkarnationsdebatten in unserer Gegenwart lautet: Was ist Zeit?

6. Wer sich nur als Teil einer Gruppe versteht, rechnet vielleicht mit Weitergeburt, mit einer Fortsetzung des Lebens des Stammes Die Seele des Stammes inst unsterblich. Erst die frühe Philosophie mit ihrem Verständnis des Menschen als Individuum konnte zum Glauben an Reinkarnation finden.

7. Rückerinnerungen an frühere Leben sind "Siddhis" auf dem Weg der Meditation. Siddhis können den Wanderer aufhalten. Am Ziel der Meditation haben alle Siddliis ihren Wert verloren. Für den Erleuchteten ist die Reinkarnationslehre so überflüssig wie für den christlichen Glauben.

8. Je mehr wir uns für Reinkarnation an sich interessieren, desto nebensächlicher wird das eigentliche Ziel eines jeden mystischen Weges. Reinkarnationslehrer sind verhinderte Mystiker, Mystiker, die "auf der Strecke blieben", verunglückte Wahrheitssucher.

9. Wer eine Reinkarnationslehre entwickelt, der deutet Erkenntnisse, die er in der Meditation gewann, mit dem Zeitbegriff des Wachbewußtseins. Er spricht und lehrt uneigentlich. Er deutet unsachgemäß. Reinkarnationslehre bindet mystisches Erleben in die alltägliche Zeit.

10. Der Meditierende findet ins überzeitliche Selbst. Deshalb findet er auch in Erlebnisse vergangener Zeiten. Von Reinkarnation sprechen wir nur dort, wo wir näherliegende Deutungsmuster übersehen.

 

Anmerkungen:

1 Brihad Avanyaka Upanishad III, 2, 11ff. (A. HILLEBRAND (Hrsg.) Upanishaden 1964, 63)

2 Vgl. W. BURKERT : Weisheit und Wissenschaft, 1962, II 118ff.

 

Georg Schmid, 1988


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