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Sogyal Rinpoches Belehrung "Das Herz des erleuchteten Geistes erwecken. Der Weg des Bodhisattva."

Kunsthaus Zürich, 25. April 2001

 

 

Als ich um 19 Uhr das Kunsthaus betrete, um mir eine Belehrung von Sogyal Rinpoche (1) anzuhören, haben sich schon wartende Menschenschlangen vor dem Vortragssaal gebildet. Sogyal Rinpoche, ein tibetisch buddhistischer Meditationsmeister, ist der Autor des in westlich buddhistischen Kreisen sehr berühmten Buches "Das Tibetische Buch vom Leben und vom Sterben." In der Eingangshalle stehen überall Verkaufsstände, welche Bücher über Buddhismus, Postkarten mit buddhistischen Motiven, CDs, Videos mit Belehrungen von Sogyal Rinpoche, Malas (2), Butterlampen, Anstecker mit der Tibetflagge und noch vieles mehr zum Kauf anbieten.

Endlich gelange ich in den Vortragssaal, wo Sogyal Rinpoche seine Belehrung geben wird. Beinahe alle Stühle sind schon besetzt, obwohl der Vortrag erst um 19:30 Uhr beginnen soll. Vier Tibeterinnen, die vor mir den Saal betreten haben, sind soeben von der Platzanweiserin in die vordersten Stuhlreihen gewiesen worden, für sie sind extra Plätze reserviert -Tibeterin müsste man sein... In der fünfhintersten Reihe finde ich einen freien Stuhl.

 

Gehobener Mittelstand

Ich sehe mich um, wo bin ich hier gelandet?

Das Publikum im Raum besteht vorwiegend aus "mittelalterlichen" Personen, Durchschnittsalter 40 Jahre, Männer wie Frauen gleichermassen vertreten. Auffallend ist, wie gepflegt und gutgekleidet die meisten sind, wohl gehobener Mittelstand.

Ganz vorne im Saal, ein wenig erhöht, steht ein Stuhl für Sogyal Rinpoche, schlichter Blumenschmuck beidseitig des Stuhles. Hinten an der Wand hängen zwei Tankas - farbenfrohe Stoffbilder, welche je einen sitzenden Buddha zum Motiv haben.

Ich beobachte, wie den Tibetern und Tibeterinnen in den vorderen Reihen ein Getränk in robusten roten Tassen serviert wird - tibetischer Buttertee?

Inzwischen ist es 19:30 Uhr. Aber die Belehrung kann noch nicht beginnen weil ständig neue Leute in den bereits überfüllten Raum strömen - die Trennwände zur Eingangshalle werden auf die Seite geschoben, der Saal muss vergrössert werden. Endlich, um 20:00 Uhr tritt ein junger Mann in hellem Leinenanzug vor das wartende Publikum, er stellt sich als Andreas Brunner vor. Etwas vom ersten, das er uns erklärt ist:

"Sogyal Rinpoche erhält kein Honorar für seine Belehrungen, weil es die tibetische Tradition einem Lehrer nicht erlaubt, Geld anzunehmen. Mit den sFr. 20.- Eintrittsgeld, das Sie bezahlt haben, werden die Unkosten gedeckt und das Projekt 'Rigpa' (3) von Sogyal Rinpoche unterstützt."

Andreas Brunner vermittelt uns einen kurzen biographischen Überblick: Sogyal Rinpoche wurde in der Provinz Kham in West Tibet geboren. Aufgezogen wurde er von Khyentse Chökyi Lodrö, einem tibetischen Meister. Später wurde er von verschiedenen Rinpoches in tibetischem Buddhismus unterwiesen. Als er ins Exil ging, setzte er seine Studien in Delhi und Cambridge fort. Seit 1974 lehrt Sogyal Rinpoche im Westen, wo er Zentren unter dem Namen "Rigpa" gegründet hat. Sogyal Rinpoche hat ein Studien- und Praxisprogramm zusammengestellt, in dem er versucht, uns Westlern die tibetisch-buddhistischen Lehren näher zu bringen. Er hält Vorträge, gibt Seminare und organisiert Klausurtagungen (im Fachjargon "Retreats" genannt).

Schliesslich streift Andreas Brunner noch kurz die politische Situation Tibets. Er meint, so ungerecht die Situation in Tibet auch sei, so werde uns im Westen durch die vielen im Exil lebenden TibeterInnen doch ein grosses Geschenk gemacht weil wir nun an ihren alten Lehren teilhaben dürften. Diese Bemerkung hat meiner Meinung nach auch einen problematischen Aspekt: Politische Unterdrückung eines Volkes wird nicht weniger verwerflich, weil daraus auch Gutes erwächst.

 

Was ist das Bodhichitta?

20:00 Uhr, endlich betritt Sogyal Rinpoche den Vortragssaal. Er ist ein sehr kleiner, rundlicher Mann, in ein senfgelbes Mönchsgewand gehüllt, mit einem ausgesprochen breiten Gesicht und einer runden Brille. Sogyal nimmt Platz auf dem erhöhten Stuhl vorne in der Mitte und beginnt die Belehrung in englischer Sprache. Bereits sein erster Satz verblüfft die ZuhörerInnen: "Der Titel des Vortrages heute ist falsch!" Er kichert, dann fügt er hinzu: "Ich mache nie nur einen Vortrag, sondern meine Belehrungen sind stets Zyklen, die bis zu einem Jahr dauern können. Daher werde ich heute zwar versuchen etwas über 'Die Erweckung des Herzens des erleuchteten Geistes' zu erzählen - eine einzige Belehrung genügt allerdings nicht für dieses Thema. 'Bodhichitta' (4) ist der zentrale Begriff. 'Bodhichitta', so lehrt uns der Dalai Lama, ist die höchste Form des Altruismus, es bedeutet, dass man sich danach sehnt, respektive danach strebt, zum Wohle aller Lebewesen Erleuchtung zu erlangen - Mitgefühl und Weisheit greifen ineinander. Das Mittel, um das höchste Bodhichitta zu erreichen, ist die Meditation. Der endgültige Erleuchtungsgeist erhält schliesslich Einsicht in das wahre Wesen der Realität, welches 'Shunjata' (5) ist."

Die Übersetzerin, Karin Beeren, eine langjährige Schülerin des Sogyal Rinpoche, ist bemüht, die ziemlich schnell gesprochenen Sätze ihres Lehrers möglichst simultan zu übersetzen, da unterbricht sie der Rinpoche mit einem Witz: "Don't speak that fast we're in Switzerland!" Karin Beeren übersetzt lediglich: "Wir sind hier in der Schweiz." Witze ähnlicher Art macht Sogyal Rinpoche im Laufe des Abends immer wieder, was einerseits entspannend wirkt, denn er hat ein sehr ansteckendes, lustiges Kichern, andererseits kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er sich zeitweise beinahe lustig macht über die so todernst dasitzenden Schweizer-Buddhisten und Buddhistinnen (was ich ihm wiederum auch nicht verübeln kann).

Nachdem Sogyal Rinpoche seine theoretische Kurzerklärung von "Bodhichitta" gegeben hat, blickt er belustigt ins Publikum und fragt: "Können Sie dem folgen?" Das Publikum schweigt, alle sitzen stumm und ernst da (einige sogar mit gefalteten Händen) - wie in der Kirche, denke ich... Rinpoche fährt fort: "Es existiert ein Gedicht, das die gesamte Lehre des 'Bodhichitta' beinhaltet:

"O erhabenes, kostbares Bodhichitta
möge es erwachen in jenen, in denen es noch nicht geboren worden ist
möge es nie versagen, wenn es entstanden ist, sondern weiterwachsen."

Nun beginnt Sogyal Rinpoche anhand dieses Gedichtes den genauen Weg zum "Bodhichitta" zu erklären und endet schliesslich mit der Bemerkung: "Ich habe den Eindruck, Sie fühlen sich verloren - ich auch!" Lacht und fügt hinzu: "Ich werde jetzt etwas grundsätzliches tun, nämlich Ihnen die Belehrung des Dalai Lama 'vom Erwachen des Herzens des erleuchteten Geistes' geben..."

Es ist auffallend, wie oft sich Sogyal Rinpoche im Verlaufe des Abends immer wieder auf den Dalai Lama bezieht, so als ob er ihn als das Oberhaupt des geistlichen Tibets akzeptieren würde, obwohl er selbst doch zu den Rot- und nicht den Gelbmützen (6) gehört.

Sogyal Rinpoche fährt fort: "Zuerst die 'good news': Egal, wer wir sind, wir alle besitzen das Potential der Erleuchtung!" Zum ersten mal seit der Vortrag begonnen hat, lacht das Publikum erleichtert auf. Sogyal: "Und jetzt die 'bad news': Obwohl jetzt doch eigentlich Frühling wäre und wir wissen, dass oberhalb der Wolken die Sonne scheint und ein blauer, klarer Himmel leuchtet, ist es hier unten grau. Die Sonne steht für die Erleuchtung und das Mitgefühl. Weil wir jedoch keinen Bezug dazu haben, sehen wir die Sonne nicht. Buddha bedeutet ja der Erwachte, Erblühte, jemand, der alles abgelegt hat und erwacht ist von der Unwissenheit. Was uns davon abhält, die Sonne wahrzunehmen, sind unsere negativen Emotionen. Sie provozieren negative Handlungen was wiederum Leid verursacht. So bleiben wir im Samsara (7), im Kreislauf von Tod und Wiedergeburt, gefangen. Die Wolken sind also die intellektuelle, emotionale, karmische, sowie die auf Gewohnheit beruhende Verblendung. Buddha erlangte Erleuchtung, er erkannte die wahre Natur des Menschen. Deshalb entwickelte er Mitgefühl, denn wir sind alle miteinander durch viele Leben verbunden."

Ganz unverhofft platziert Sogyal Rinpoche einen weiteren Witz. Das Publikum reagiert in keiner Weise. Lakonisch kommentiert er: "I must remember that I'm in Switzerland, jokes don't work!" Jetzt lacht das Publikum. Ironisch fügt Sogyal hinzu: "Wir brauchen nicht zu ernst zu sein, wir können lachen und trotzdem steif bleiben."

Sogyal Rinpoche erzählt, dass Buddha auf 84' 000 verschiedene Arten gelehrt habe, um alle Menschen zu erreichen. Das Wort Buddhismus werde Buddhas Lehre eigentlich nicht gerecht, denn er habe keine Doktrin (d.h. keinen "-ismus") gelehrt. Die Essenz seiner Lehre sei, einfach ausgedrückt:

"Begehe keine einzige unheilsame Tat! Kultiviere einen Schatz an Tugend! Was soviel heisst wie: Tue so viel Gutes wie möglich."

Und jetzt kommt Sogyal auf den einfachen Schluss: "Wenn wir andern helfen, helfen wir im Endeffekt uns selbst am meisten. Wenn wir verletzen, verletzen wir im Endeffekt uns selbst. Das Problem des modernen Menschen besteht jedoch darin, dass er, obwohl sehr clever, nicht einmal sich selbst helfen kann, er ist 'nutzlos' geworden."

Der Rinpoche beschreibt, wie irritiert der Dalai Lama gewesen sei, als er zum ersten Mal einen Westler über Selbsthass sprechen hörte. Der Dalai Lama konnte die Idee des Selbsthasses gar nicht verstehen, denn man sollte doch sein eigener Freund, nicht sein eigener Feind sein! "Schliesslich", weist uns Sogyal darauf hin, " heisst es in eurer Religion ja auch: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst! Wir alle sind miteinander verbunden, daher steht auch das eigene Glück mit andern in Verbindung. Hier liegt die Logik des Mitgefühls, 'we're all interdependent'! Dies ist die universelle Botschaft des Dalai Lama: 'try not to harm'!"

 

Just loving...

Sogyal Rinpoche wirft die Frage in den Raum: "Was ist denn ein Buddhist?" und beantwortet sie gleich selber: "Ein Buddhist ist jemand, der Zuflucht bei Buddha, 'Dharma' (8) und 'Sangha' (9) sucht. Ein Buddhist möchte andern nützen. Dies kann er aber nur, wenn er keinen Groll in seinem Herzen behält. Ein Buddhist zeichnet sich aus indem er Grösse im Verzeihen zeigt. Niemand ist perfekt, wir alle werden verletzt und verletzen selber, wichtig ist allein, dass man die Wut, den Groll loslässt. Selbst Jesus sagte am Kreuz: 'Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!' Das wichtigste ist: Füllt euer Herz mit Liebe. Just loving. Just loving. Just loving."

Diese beiden Sätze "Just love!" und "Let go!" scheinen mir die Quintessenz der gesamten Belehrung dieses Abends zu sein und offensichtlich entspricht diese Botschaft genau dem Bedürfnis all dieser suchenden Menschen im Saal. Sogyal kommentiert, wir hätten sehr viel "mitgenommen", wenn wir Zuhörenden diese beiden zwar einfach klingenden aber schwierig umzusetzenden Aufforderungen des heutigen Abends begriffen hätten. Als Beispiel fügt er eine Geschichte über den Dalai Lama an, welcher einen Einsiedler besuchte und diesen fragte, was er in der Einsamkeit tue. Der Einsiedler antwortete: "Ich meditiere über die Liebe Gottes." Sogyals Fazit: "Meditation about love can change your mind!"

 

Werbung in eigener Sache

Nahtlos geht Sogyal von der Belehrung zur "Werbung" für seine Audio- und Videokassetten über. Er empfiehlt, wir sollten uns seine Belehrungen immer wieder anhören, dann würden wir uns auch in schwierigen Zeiten daran erinnern. Weiter empfiehlt er uns, Kapitel 12 in seinem Buch "Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben" zu lesen (dieses Kapitel handelt von Mitgefühl).

Es scheint mir, als würde er nun aus taktischen Gründen, für alle, denen dieser "Werbeblock" doch vielleicht ein wenig seltsam vorkam, darüber zu sprechen beginnen, wie tief dankbar er selbst seinen Meistern sei, die ihn belehrt hätten. Indirekt teilt er dadurch mit: es ist absolut normal, wahrscheinlich sogar notwendig, einen Meister zu haben und diesen als solchen anzuerkennen.

Mir stellt sich trotzdem die Frage, weshalb so viele westliche Menschen, die in der Regel gegenüber "Führern" jedwelcher Art sehr skeptisch eingestellt sind, sich so bereitwillig der spirituellen Führung eines tibetischen Meisters unterwerfen. Warum gelten für östliche Meister nicht die gleichen Masstäbe wie für westliche Führer? Fehlt uns die religiöse "Selbstsicherheit", dass wir spirituelle Autoriäten östlicher Provenienz so dringend brauchen? Gehören wir zu den spirituellen "Entwicklungsländern"?

Inzwischen ist es 21:30 Uhr. Sogyal Rinpoche fragt das Publikum, ob er aufhören soll mit der Belehrung. "Nein!" klingt es unisono aus der andächtig zuhörenden Menschenmenge - das Publikum will noch mehr!

Rinpoche: "Gut, dann werde ich, respektive Karin Beeren, euch noch vorlesen, was der Dalai Lama über 'Bodhichitta' sagt." Offensichtlich ist Sogyal der Belehrung müde, er lässt seine Übersetzerin einen sehr langen Text des Dalai Lama vorlesen. Darin geht es hauptsächlich darum, dass man Mitgefühl entwickeln soll und den Wunsch, andere Wesen vom Leid zu befreien. Andere wichtiger nehmen als sich selbst sei aber nicht gleichzusetzen mit Selbsthass. Man müsse zuerst sich selbst lieben, erst dann sei man fähig, wahre Zärtlichkeit für andere zu empfinden. Der tragende Gedanke des Bodhichitta sei also, die Zuneigung und Wertschätzung sich selbst gegenüber auszudehnen auf andere. Das "Bodhichitta" gestatte uns, die vollständige Erleuchtung und Allwissenheit zu erlangen.

Es ist ganz klar fühl- und sichtbar, dass das Publikum unruhig und langsam müde wird. Es ist eben nicht dasselbe, ob der Rinpoche selbst spricht, oder ob er seine Übersetzerin einen Text des Dalai Lama vorlesen lässt. Immer mehr Leute stehen auf und verlassen den Raum. Endlich unterbricht Sogyal Rinpoche Karin Beerens Vor-lesung und meint nun zusammenfassend: "Dies ist die Basis für den Zyklus, den ich hier in Zürich begonnen habe. Ich werde morgen in Brüssel damit weiterfahren, wer interessiert ist, kann ja mitkommen."

Sogyal liest das ganze Programm vor: Morgen Brüssel, dann Paris, Berlin, New York... Was für ein vielbeschäftigter weitgereister Mann(!), geht mir durch den Sinn. Und weiter denke ich, meine Einschätzung des Publikums zu Beginn des Vortrages müsse wohl richtig gewesen sein. Denn wer sonst kann es sich schon leisten, seinem Meister einfach "nachzujeten", wenn nicht SchülerInnen aus einer sehr gehobenen Mittelklasse?!

Nach der "globalen" Programmvorschau des Rinpoche, wo er wann überall sein wird, meint er: "Jetzt werde ich mich nach der Belehrung noch mit meiner 'Sangha' hier in Zürich treffen. Ich weiss oft nicht, wo ich überall Zentren habe, ich wusste z.B. nicht, dass ich in Basel ein Zentrum habe... Aber das ist auch nicht so wichtig, denn es geht ja nicht um mich, es geht um die Lehren! Mein Job ist es, die Lehren, welche mich meine Meister gelehrt haben, weiterzugeben. Mein Ziel ist es, ein Programm für Laien zu entwickeln, welches die Essenz der Lehre und die Essenz der Praxis enthält."

Dieses Hin-und-Herpendeln zwischen: "Hört euch meine Belehrungen mittels Audiokassetten immer wieder an!" und: "Ich bin nicht wichtig, alleine die Lehre zählt!", vermittelt mir den Eindruck, dass sich der Rinpoche einerseits "unersetzlich" fühlt in seiner Funktion als Meister, andererseits scheint er gleichzeitig vermeiden zu wollen, dass um seine Person ein "Kult" betrieben wird. Kritiker des Meisters werfen ihm jedoch vor, er erwarte von seinen Schülerinnen und Schülern absolute Treue, mit andern Worten: seine AnhängerInnen dürften nicht gleichzeitig zu Belehrungen von andern Lamas gehen. Wenn Sogyal Rinpoche mittels Exklusivistätsanspruch SchülerInnen an sich bindet, dann wirft dies einen dunkeln Schatten auf seine Lehrtätigkeit als buddhistischen Meister.

 

Freedom for Tibet

Während des ganzen Abends hat mich immer wieder das Gefühl beschlichen, Sogyal Rinpoche sei dieser westlichen Buddhisten und Buddhistinnen ein wenig müde und erst als er sein Wort ganz zum Schluss der Veranstaltung an seine Landsleute richtet, wird seine Stimme plötzlich sehr lebendig. Mindestens die Hälfte des Publikums hat den Raum bereits verlassen als Rinpoche erklärt: " Ich möchte meine tibetischen Schwestern und Brüder, vor allem auch die jüngere Generation, dazu ermutigen, weiterzumachen - auch seine Heiligkeit (der Dalai Lama) hat mich ermutigt, das zu tun... 'Freedom for Tibet!' - aber wenn wir unsere Kultur verloren haben, was bleibt uns dann? Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Kultur und religiösen Lehren anwenden und weitergeben. Dann könnten wir zu einem Beispiel für die Welt werden, wenn wir, sollte Tibet endlich frei werden, den Weg der Versöhnung einschlagen würden!" Das Publikum applaudiert. Eine mittelalterliche Schweizerin mit glänzend weissen luftigen Tüchern in der Hand, tritt in demütig gebeugter Haltung vor ihren Meister, kniet nieder und spricht: "Im Namen des Schweizer Sangha - Danke!" Sogyal Rinpoche nimmt seiner Schülerin die Tücher aus der Hand und legt sie ihr um den Hals.

Hiermit endet die offizielle Veranstaltung. Jene Leute, welche sich zur "Sangha" zählen, werden aufgefordert, im Saal zu bleiben. Ich beobachte wie der Meister jedem einzelnen seiner SchülerInnen die Hände schüttelt und ihnen über seine Tätigkeit erzählt mit der Bemerkung, dass er an alle denke, auch an seine SchülerInnen in der Schweiz...

 

Sogyal - ein Star?

Sogyal - so scheint mir - schart eine eigentliche Fangemeinde um sich. Wo Fans sich versammeln, wird aber jeder spirituelle Meister zum Star. Die Frage stellt sich, wie dies zusammenpasst: buddhistischer spiritueller Meister und Star? Vielleicht gelingt Sogyal Rinpoche (wie vielen andern östlichen Meistern) die Kommerzialisierung und Verwestlichung seiner Botschaft nur zu gut. Wenn aber der buddhistische Meister zum Star wird, umschwärmt von westlichen Fans, dann frage ich mich, wie weit dieser Buddhismus noch Buddhismus im Sinne des Buddha ist. Ich kann mir den Buddha als Star, der eine Fangemeinde braucht, schwerlich vorstellen. Wie sehr der Starkult einen buddhistischen Meister bis zur Unkenntlichkeit entstellen kann, zeigt meines Erachtens das Beispiel von Chögyam Trungpa (10). Generell fällt auf, dass aus östlichen Meistern, welche im Westen eine gewisse Berühmtheit erlangen eine Art Stars gemacht werden. Gewiss ist Sogyal noch nicht wie Trungpa zum Star "verkommen". Ist er sich aber bewusst und weiss seine Gemeinde, wieviel Starkult sich schon eingeschlichen hat?

 

Sterbehilfe

Ich verlasse den Vortragssaal des Kunsthauses um 22:20 Uhr und begegne in der Eingangshalle noch einmal den Menschen hinter den Verkaufsständen. Diesmal nehme ich mir Zeit, um die angebotene Literatur genauer zu studieren. Besonders ein Stand fesselt meine Aufmerksamkeit, hier werden Kurse angeboten zum Thema "Sterbehilfe". Dies war zwar nicht das Thema des Abends. Sein 'Totenbuch' hat aber den Ruf von Sogyal Rinpoche im Westen wesentlich mitbegründet. Das berührt mich sehr - liegt das Geheimnis seines Erfolges wohl in der Bereitschaft sich einer Thematik anzunehmen, der in unserer marktwirtschaftlich orientierten, vom Machbarkeits- und Jugendwahn befallenen Gesellschaft keinen Platz eingeräumt wird? Obwohl sie doch Wirklichkeit ist für jeden Menschen(!)- schliesslich müssen wir alle sterben.

Nach meiner Meinung liegt der positive Aspekt von Sogyal Rinpoches Tätigkeit exakt darin, dass er die Menschen einlädt über den Sinn des Lebens und Sterbens nachzudenken. Dies entspricht offensichtlich dem Bedürfnis vieler westlicher Menschen - das Verdrängte sucht sich seinen Weg an die Oberfläche. Sogyal Rinpoches "Totenbuch" ist daher in ein Vakuum gestossen. Dies verdeutlicht auch ein Gespräch, das ich vor einiger Zeit mit einem tibetisch buddhistischen Gelehrten über das "Tibetische Totenbuch" führte (nicht mit dem Buch von Sogyal Rinpoche zu verwechseln). Er meinte: "Hier im Westen sprechen alle vom "tibetischen Totenbuch", so als ob es das wichtigste Schriftstück Tibets sei. In Tibet jedoch ist es ein Buch unter vielen anderen. Es hat nicht diesen erhöhten Stellenwert, wie bei euch im Westen."

Der Kreis schliesst sich: Unser Interesse am Buddhismus &endash; sowohl drinnen im Saal wie draussen in der Eingangshalle &endash; ist offenbar wesentlich von den Defiziten unserer heutigen Zivilisation westlicher Prägung mitbestimmt. Es ist wenig verwunderlich, dass dabei die Schwerpunkte des Interesses in den Herkunftsländern des Ostens nicht mit denen bei uns im Westen zusammenfallen.

 

Anmerkungen

1. Rinpoche: Bezeichnung für einen religiösen Meister im tibet. Buddhismus, es ist ein Ehrentitel und bedeutet wörtlich: "Ausserordentlicher Kostbarer."
2. Mala: Sanskrit, wörtl.: "Kranz, Rose", ist eine Gebetskette mit 108 "Perlen", die beim rezitieren von Mantras verwendet wird. (Ein Mantra ist eine kraftgeladene Silbe oder eine Folge von Silben.)
3. Rigpa: Verein für tibetischen Buddhismus. Laut Sogyal Rinpoche bedeutet Rigpa auf tibetisch: "Die grundlegende Natur des Geistes."
4. Sanskrit, wörtlich: "Erleuchtungsgeist"
5. Skrt., wörtl.: "Leere, Leerheit"
6. Rotmützen: Nyingmapa, tibet. wörtl.: "Die Schule der Alten"; älteste der tibetisch-buddhistischen Schulen. Sie berufen sich auf buddhist. Ueberlieferungen, die im 8. Jh. von Indien nach Tibet gebracht wurden.
Gelbmützen: Gelugpa, tibet. wörtl. "Schule der Tugendhaften". Letzte der vier Hauptschulen des tibet. Buddh., von Tsongkhapa gegründet. Sozusagen die "reformierten". Politisch vom Dalai Lama geführt.
7. Samsara: Skrt., wörtl.: "Wanderung"
8. Dharma: Skrt., wörtl.: "tragen, halten" - die Lehre des Buddha.
9. Sangah: Skrt., wörtl.: "Menge, Schar"- die buddhist. Gemeinde.
10. Chögyam Trungpa, 1939-87, Reinkarnation des 19. Trungpa Tulku, wurde im Tibet als Abt inthronisiert. 1959 Flucht aus Tibet nach Indien, dann England. Zuletzt lebte er in den USA, wo er eine grosse Anhängerschaft westlicher Schüler hatte. Trungpa lehrte eine neue Art nicht religiöser Meditationstechnik, verbunden mit Betonung von Lebensgenuss in jeder Hinsicht (Drogenkonsum, sexuelle Freizügigkeit). Seine neo-tantristische Manier Dharma zu lehren und die damit verbundenen Skandale, brachte ihn bei seinen Kritikern in Verruf.

 

 

Salome Kesselring, 2001


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