Evangelische Informationsstelle: Kirchen - Sekten - Religionen

Deprogramming

Methoden und Probleme moderner lnquisition

Aus: Informationsblatt Nr. 3/1993

 

Eine bald alltägliche Geschichte?

Ein junger Mensch kehrt aus den Ferien nicht mehr in sein Elternhaus und an seinen Studienplatz zurück. Nachfragen ergeben, dass er in einer christlichen Jugendgruppe noch eine Art Bibelkurs besucht. Die Eltern, etwas überrascht über die ihnen bisher nicht bekannten religiösen Interessen ihres Sohnes, hoffen auf seine baldige Heimkehr. Die familiären Realitäten und der Studienalltag werden ihn aus seinen eigenartig plötzlich auftretenden religiösen Träumen zurückholen.

 

Der Sohn hinter Glas

Doch der Sohn kehrt nicht mehr zu seinen Eltern zurück. Sein Studium bricht er ab. Begeisterte Briefe erzählen von seiner Ausbildung zum Missionar und seiner neugefundenen Wahrheit. Die Eltern erkundigen sich nach dem Namen dieser offenbar so begeisternden Religion und erkennen mit Schrecken, dass ihr Sohn einem totalitären Kult, einer radikalen Sekte auf den Leim gekrochen ist. Kritische Literatur und Erfahrungen anderer Eltern, schon seit Jahren mit diesem Problem konfrontiert, treiben die Eltern zur Tat.

Der Vater reist ins Camp, meldet sich dort, erfährt aber, dass der Sohn im Moment unabkömmlich sei. Man beruhigt den besorgten Vater, belächelt seine Sektenhorrorvisionen, bedauert, dass er von Antikultgruppen Fehlinformationen erhalten habe. Sie seien, meinen alle jungen Leute, die der Vater im Camp trifft, keine Zombies, nicht programmiert und alle völlig freiwillig hier. Auf weiteres Drängen hin erscheint dann auch der Sohn, friedlicher und freundlicher als je zuvor, aber auch für jedes Argument und jedes echte Gefühl unerreichbar. Es ist, wie wenn der Vater durch eine Glaswand hindurch mit seinem Sohn sprechen würde. Die beim Gespräch immer mitanwesenden neuen Glaubensgeschwister des Sohnes sorgen dafür, dass der Vater die Glaswand nicht zerbricht.

 

Suggestive Religiosität braucht keine Argumente

Eine Rückkehr nach Hause kommt für den Sohn nicht in Frage. Gott will ihn jetzt in diesem neuen Dienst. Materielle Sorgen macht sich der Sohn nicht. Die neue Familie sorgt für ihn. Auf akademische Ehren kann er auch verzichten. Die neuentdeckte Wahrheit zählt mehr als jede Wissenschaft. All diese Überlegungen sind für den Vater keine Argumente. Aber die neue Religiosität des jungen Menschen braucht keine Argumente. Sie gleicht einer Hypnose. Der Sohn ist - dies erkennt der Vater - der suggestiven Kraft einer radikalen religiösen Gemeinschaft erlegen.

 

Religiöser Wahn aus der Sicht der Angehörigen

Deprimiert fliegt der Vater heim. Gleich nach Ankunft wird ein Familienrat einberufen. Die Geschwister raten zur Geduld. Sie kennen den Bruder. Er hatte doch immer wieder zu extremem Verhalten geneigt. Der Wahn wird von selbst verfliegen, wenn der Bruder erkennt, dass die frommen Leiter der frommen Gemeinschaft irgendwo auch nur Menschen sind. Die Mutter - ahnungsvoll - ist sich dessen nicht so sicher. Die Sekte hat ihr ihren Sohn gestohlen, das weiss sie. Verzweiflung mischt sich mit vagen Hoffnungen. Am Ende seiner Beratungen beschliesst der Familienrat, gleichzeitig Rat vom Ortspfarrer und von der Antikultgruppe einzuholen. Wenn die Meinung beider vorliegt, will man nochmals zusammensitzen.

 

Der Weg der Geduld

Wochen später sitzen wieder alle zusammen. Der Pfarrer empfiehlt, die Kontakte mit dem fanatisierten Sohn nicht abbrechen zu lassen, ihn zu regelmässigen Besuchen zu Hause einzuladen, ihn wenn möglich auch in seiner neuen religiösen Umgebung aufzusuchen und darauf zu vertrauen, dass die suggestive Kraft der neuen Wahrheit allmählich verblasst und dass das kritische Denken wieder erwacht.

 

Deprogramming - der Weg der dosierten Gewalt

Die Antikultbewegung, nach dem Gespräch mit dem Pfarrer konsultiert, weist darauf hin, dass die Sekte selber alles unternimmt, um sich ihren hypnotischen Einfluss ungestört zu erhalten. Kontakte nach aussen würden systematisch unterbunden. Wie könne man auf junge Sektenmitgileder vernunftfördernd einwirken, wenn jede Begegnung abgeblockt werde? Als einzige Lösung empfiehlt die Antikultbewegung das sogenannte Deprogramming, die Befreiung aus der Sekte mit Einsatz von Befreiungsspezialisten. Diese Spezialisten seien alles ehemalige Angehörige einer Sekte. Sie kennten alle Sektentricks. Sie könnten deshalb auch mit dem jungen Sektierer auf seiner Gefühlsebene und in seinen Denkmustern kommunizieren. Dass sich ein junges Sektenmitglied nicht freiwillig auf ein Gespräch mit professionellen Befreiern einlasse, sei selbstverständlich und ihm nicht zu verargen. Aber man kenne Mittel und Wege, den jungen Menschen zu diesem Gespräch zu zwingen. Im übrigen werde beim Deprogrammieren immer nur das absolute Minimum an Gewalt angewandt. Allerdings, das Deprogramming könne nur anlaufen, wenn sich Gelegenheit biete, den Sohn mit List in die Falle zu locken oder mit dosierter Gewalt seiner habhaft zu werden.

 

Mit kalkuliertem Risiko zum Erfolg

Die Gage der Deprogrammierer ist horrend. Alle laufen Gefahr, wegen Kidnapping und Freiheitsentzug bestraft zu werden, wenn die Sache auffliegt, bevor das Opfer seinem Sektenglauben abschwört. Dieses Risiko erhöht die Kosten. Der Familienrat beschliesst mehrheitlich, den Weg der dosierten Gewalt, das sogenannte Deprogramming zu wählen. Alles andere verspricht keinen sicheren ErfoIg. Man beschliesst absolutes Stillschweigen über die anvisierte Aktion und versucht den Sohn und Bruder irgendwo isoliert, ohne Schutz durch Sektenbrüder, und ohne unbeteiligte Beobachter, anzutreffen. Diese Gele genheit ergibt sich manchmal erst nach Jahren. Auch der Weg der dosierten Gewalt ist vorerst ein Weg der Geduld.

Dann aber, wenn die Falle zuschnappt, läuft alles wie am Schnürchen. Das einsame Ferienhaus steht bereit. Deprogrammierer sind eingeflogen. Das Opfer wird von seinen "Befreiern" festgehalten und eingeschlossen. Seine wilden Protestrufe verhallen ungehört.

 

Aus Glaube wird Zweifel und aus Zweifel Verzweiflung

Während einer Woche dringen nun Tag und Nacht Antisektenargumente auf das Opfer ein. Seine Weigerung, sich die Argumente seiner Feinde anzuhören, weicht nach zwei Tagen dem wilden Entschluss, sich seinen Feinden zu stellen und deren Argumente zu zerreissen. Ihre diffamierenden Angaben zur Person des Sektengründers werden zuerst als teuflische Phantasien zurückgewiesen. Die schriftlich vorliegenden sogenannten "Beweise" zu der düsteren Biographie und den seltsamen Geschäftsmethoden des Meisters und die Tag-und-Nacht-Gespräche mit desillusionierten Ehemaligen führen nach einer halben Woche zum ersten Zusammenbruch. Das Opfer beginnt am eigenen und an jedem Glauben zu zweifeln und möchte sich am liebsten umbringen. Die wachsamen Deprogrammierer wissen dies zu verhindern.

 

Deprogramming wird zum Befreiungsgespräch

Die Sekte hat inzwischen die Polizei organisiert und auf die vermutete Entführung hingewiesen. Weder das Opfer noch seine Deprogrammierer sind auffindbar. Die Eltern mimen Ahnungslosigkeit. Nach einer Woche erscheint der Vater mit dem Sohn vor dem Richter. Der Sohn hat nun innerlich mit seinem Sektenglauben völlig gebrochen. Er will mit seinen ehemaligen Glaubensgeschwistern nichts mehr zu tun haben. Um die Eltern und die Deprogrammierer vor Strafe zu verschonen, gibt er zu Protokoll, er habe sich während der letzten Woche immer völlig frei gefühlt. Die Methode der dosierten Gewalt wird nachträglich zum strafrechtlich völlig unverdächtigen "Befreiungsgespräch".

 

Verstehen, was zum Sekteneintritt führte

Mit seinem Deprogramming hat das ehemalige Sektenmitglied noch nicht wirklich ins alte Leben zurückgefunden. Ein monatelanger Aufenthalt ohne Sektenkontakte bei ehemaligen Sektenmitgiledern hilft ihm zu verstehen, weshalb er seinerzeit in die Sekte eintrat. Erst wenn er dies erkennt, hat er die Sekte auch innerlich verlassen und ist - in der Sprache der Antikultgruppen - völlig befreit.

 

Inquisition ist Kapitulation

Deprogramming ist moderne lnquisition. Schon der Anlass, der die lnquisition des Mittelalters ins Leben rief, entspricht dem Anlass, der den Beruf des Deprogrammierers heute schuf. Damals stand die Kirche verzweifelt machtlos vor der radikalen Sekte der Katharer ("Ketzer") in Frankreich. Heute stehen manche Eltern verzweifelt machtlos vor dem suggestiven Einfluss radikaler religiöser Gruppierungen auf ihre jungen Leute. Damals wie heute ist Gewaltanwendung im Kampf gegen Sektenangehörige eine geistige Kapitulation der Sektenkritiker. Sie trauen ihren Argumenten nichts mehr zu. Sie wissen überhaupt nichts mehr von der befreienden Kraft christlicher Liebe. Dem Christen verspricht das biblische Wort in mancherlei Geschichten, dass Glaube und Liebe jedes Gefängnistor aufsprengen kann (z.B. Apg. 12, 6ff. und 16, 16ff.). Inquisition - mittelalterliche und moderne - hat diesen Glauben an die befreiende Kraft des Glaubens und der Lebe völlig verloren. Man vertraut nur noch der dosierten oder ungezügelten Gewalt. Mit der Einrichtung der lnquisition und des Deprogramming kapituliert der christliche Glaube als geistige Kraft. Geistige Kraft verwandelt sich zuerst in Geduld und Beharrlichkeit.

Gewiss - der Weg der Geduld ist beschwerlich. Viele Eltern denken in verzweifelten Momenten an den Einsatz dosierter Gewalt. Aber die meisten Eltern verwerfen den Gedanken wieder, kaum dass er sich einstellte.

 

Filtrierte Realität und die Kraft der Begegnung

Wahn kann nur durch Realität überwunden werden. Die Sekte zensiert Realität. Nur erlaubte Zeitungen werden gelesen. Nur ausgewählte Fernsehprogramme angeschaut. Nur gefahrlose Kontakte mit kritiklosen Aussenstehenden werden geduldet. Kurz - das Sektenmitglied erlebt filtrierte Realität. In dieser Sektenwelt mit filtrierten Aussenbeziehungen gewinnt jeder Aussenkontakt einzigartige Bedeutung. Blosse Kritik von aussen bestätigt das Bild der Welt, das die Sekte sich einredet. Blosse Bewunderung für die Sekte bestätigt nur das Gefühl eigener Überlegenheit. Aber die rechte Mischung von Verständnis für den Idealismus der jungen Sektenmitglieder und von Kritik für ihre wahnhafte Isolation und Autoritätshörigkeit wirkt mit unabsehbaren Folgen. Sie verändert das Bild des Sektierers von der Welt und von sich selbst. Diese Veränderung geschieht nicht abrupt. Aber jede nicht nur der Sekte flattierende Begegnung wirkt. Gerade weil die Sekte Aussenbeziehungen filtriert, gewinnen offene Begegnungen einzigartige Bedeutung.

Deprogrammierer glauben an die Methoden dosierter Gewalt. Ich glaube an die Methode beharrlicher Begegnung. Begegnung schenkt Realität. Und nur Realität kann Wahn überwinden. Aber wann dies geschieht und wie dies geschieht, bestimmen wir nicht. Wir greifen nicht zu dosierter Gewalt. Wir glauben und wir begegnen. Wir deprogrammieren nicht.

Georg Schmid, 1993


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