Evangelische Informationsstelle: Kirchen - Sekten - Religionen

Warum sind Sektenmitglieder zu völliger Hingabe an den Guru bereit?

aus: Leben & Glauben 1997

 

Warum sind an sich vernünftige Leute bereit, einem Sektenguru ihr ganzes Vermögen, ihre Familie, ihren bisherigen Freundeskreis und - wenn es sein muss - sogar ihr Leben zu opfern?

S.W. in U.

Wahrscheinlich steckt in der uralten und hochaktuellen grenzenlosen Opferbereitschaft des Menschen mehr Logik oder Psychologik, als sich der moderne Verstand gemeinhin vorstellen kann. Jedenfalls ist diese Opferbereitschaft alles andere als nur ein seltenes Sektenphänomen. Der Alpinist, der immer schwierigere Felswände in Angriff nimmt, bis ihn eine letzte Wand ans Ende seiner Leidenschaft führt, der Karrierist, der sich seinem Job bis in den völligen körperlichen Zusammenbruch hinein verschreibt, der Künstler, der lachend oder wütend auf die Welt verzichtet, bis ihn das im Entstehen begriffene Werk vielleicht einmal wieder loslässt - sie alle teilen mit dem Sektierer eine einzigartige Erfahrung, das seltsame Glück der totalen Hingabe.

Bedingungslose Hingabe gehört zu den wertvollsten und schwierigsten menschlichen Möglichkeiten. Sie hebt uns Menschen wie keine andere Erfahrung über unsere eigenen Grenzen hinweg. In der lauen Normalität des Alltags stösst jeder und jede auf innere und äussere Grenzen. Der eine leidet unter notorischen Rückenschmerzen, der andere wird von Depressionen mit seltsamer Regelmässigkeit befallen, der dritte - momentan scheinbar problemlos gesund - blickt wie gebannt in eine unsichere Zukunft und ist bei bestem Willen unfähig, das helle Hier und Jetzt zu geniessen. Und ein vierter ist entsetzlich menschenscheu und fürchtet sich vor jedem Auftritt in Gruppen und vor jeder mehr als oberflächlichen Begegnung. Und alle zusammen beklemmt der Gedanke an die eigene Vergänglichkeit, an eine letzte Reise, von der wir nicht wissen, wohin sie uns führt. Kurz - das normale Leben gleicht dem Dasein des Tigers im Zirkus. Nur durch Gitter hindurch betrachten wir die Welt. Und durch diese Gitter betrachtet erscheint diese Welt nicht selten als ärgerliches 'Wer-weiss-was-das-soll?'. Wir sind hier, schleppen uns durchs Dasein und wissen im Grunde gar nicht wofür.

Die totale Hingabe verändert unser Leben im Nu. Plötzlich verschwinden die Gitter vor unseren Augen und wir erkennen eine Welt, wie wir sie bisher nie kannten. Die Rückenschmerzen, die Angst vor den Mitmenschen, die Depressionen, die unvermeidlichen Sorgen, die Angst vor der Vergänglichkeit und der letzten Reise und die ewig offene Frage "Wofür?" - sie alle sind wie weggeblasen.. Wunderbar beschwingt und von ungeahnten Energien durchpulst durchmessen wir unsere neugewonnenen Lebensräume. Wer uns von früher her kannte, schüttelt sorgenvoll sein Haupt: Wenn das nur gut endet, diese Traumreise, diese Erleuchtung, diese Bekehrung, dieses verwandelte Menschsein, dieses Spiel mit dem Feuer des Wahns!

Wenn wir uns fragen, wie denn eine totale Hingabe die Gitterstäbe vor unseren Augen verschwinden lässt, so wird uns zur Antwort, dass die totale Hingabe zu einer einzigartigen Kraftquelle fand. Urkraft nennen es die einen, von Gott sprechen die anderen, auf das Sein selbst verweisen uns dritte. Grundsätzlich tut der Name wenig zur Sache. Grundsätzlich gilt: Totale Hingabe bestätigt sich selbst. Sie lässt das - wofür sie sich hingibt - als einzigartiges Kraftreservoir erleben. Da kann ein jugendlicher Fanclub sich für den charakterlich bizarrsten Star ereifern, da mag eine Sekte einen ausgekochten Scharlatan als göttliche Inkarnation verehren, in der totalen Hingabe spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob der Gegenstand der totalen Verehrung diese Ehre überhaupt verdient. Oder ob das Woraufhin der totalen Hingabe eine Briefmarkensammlung ist, ein Popstar, ein neuer Prophet oder eine politische Utopie. Die totale Verehrung allein schon sprengt die Grenzen unserer engen Normalität, reisst dem Käfigtiger die Tore auf und lässt die Welt zum ersten Mal unverstellt erkennen, ohne die Gitterstäbe, die uns normalerweise die Aussicht verunstalten.

Gerade weil auch die Begeisterung fürs Würdelose, fürs völlig Absurde und manchmal sogar fürs Kriminelle grossartige Erfahrung des neuen Lebens schenkt, finden auch charakterlose Führer und sog. Meister problemlos ihre Jünger. Auch Bildung und Vernunft schützen - viele Beispiele akademisch geschulter Sektenanhänger zeigen dies - nicht vor totaler Hingabe ans Unvernünftige. Der entscheidende Unterschied zwischen der sinnvollen und der unvernünftigen Hingabe, zwischen dem würdigen und dem unwürdigen Meister zeigt sich erst im Nachhinein. Der wahre Hirte - sagt Jesus in einem Vergleich - stirbt für die Schafte. Der unwürdige Hirte geht den umgekehrten Weg. Er lässt für sich sterben. Totale Begeisterung gehört zum Besten, was Menschen zustossen kann. Sie durchbricht die Gitter, in denen uns die Normalität gefangen hält. Doch manche scheinbare Befreiung endet in noch grösserer Abhängigkeit. Und leider entdecken immer mehr total Begeisterte zu spät, dass sie sich für Scharlatane und Pseudomeister begeistert haben.

Georg Schmid, 1997


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