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  Tantra Tantrismus, Neotantra
  Uebersicht
  Tantra , Neotantra und das christliche Verständnis der Sexualität
aus: Informationsblatt Nr. 4/1994
Weshalb ausgerechnet Tantra?
Wer esoterische Zeitschriften durchblättert, stösst heute auf ein fast unüberschaubares Angebot verschiedener Tantra-Kurse: Tantra für Frauen, Tantra für Männer, Tantra für Paare, tantrischer Tanz, Regenbogen-Tantra, Energie und Eros, tantristische Alchemie, Tantra-Jahrestraining "Feuer durch Liebe"..... Tantra ist "in", oder genauer: Neo-Tantra ist "in". Denn nicht allzuviel verbindet den tradionellen indischen Tantra mit dem zeitgenössischen Tantra-Markt.

Das breite Angebot weckt im kritischen Beobachter die Frage: Weshalb ist ausgerechnet Tantra zur Zeit derart beliebt? Müssen Menschen den Sex vergöttlichen, nachdem sie ihn jahrhundertelang dämonisierten? Oder sind viele Zeitgenossen in ihren bisherigen sexuellen Erfahrungen derart gelangweilt, dass sie mit Mystik ihre sexuellen Möglichkeiten aufmöbeln und verklären möchten? Ist die Tantrawelle der Gegenwart ein Protest gegen den banalen, gefühllosen Alltagssex? Oder ist gefühlvolle Erotik immer irgendwie religiös? Man denke an das Hohe Lied der Liebe im AT. Es wurde in der Geschichte des Christentums immer wieder erotisch-mystisch missverstanden.

Geist und Trieb im traditionellen Tantra
Der traditionelle indische Tantrismus wurzelt in der indischen Liebe zum grenzenlos nahen, überall präsenten Gott. Jedes Ding und jedes Wesen ist in der traditionellen indischen Spiritualität auf seine Weise Gott. Deshalb ist auch jede Handlung genau besehen ein Ritual, ein Umgang mit göttlichen Energien und Kräften.

Dies gilt nicht zuletzt von der Sexualität. Neben einem breiten asketischen, spiritualistischen Strom indischer Frömmigkeit, die in der Vergeistigung die schönsten göttlichen Erfahrungen sucht, kannte Indien zu allen Zeiten auch eine zum Teil in Indien selbst verachtete, aber trotzdem in esoterischen Zirkeln wirksame, alternative, lustbetonte und leibbetonte Frömmigkeit. Für sie ist die Erfüllung leiblicher Bedürfnisse Gotteserfahrung. Tantra -"Webstuhl", Verbindung von Geist und Leib, Bewusstsein und Materie - nannte und nennt sich diese alternative Frömmigkeit. Der indische Tantrismus denkt sich Gott zutiefst als Einheit der Gegensätze, als Einheit von Shiva, dem Gott, der geistigen männlichen Erkenntnis und Shakti, der Göttin, der weiblichen unbewussten, wilden Energie. Wer wirklich zu Gott finden will, muss versuchen, die Einheit von Shiva und Shakti, von Geist und Trieb, in sich und in allen Handlungen und Dingen zu erleben.

Tantra ohne Sexorgien
Dieser Versuch gelingt , wenn sich der traditionelle Tantriker durch entsprechende Symbole, Handlungen, Gesten, Klänge und Bilder anleiten lässt. Nur ein geübter Tantra-Lehrer kann ihm zur rechten Zeit die hilfreichen Symbole und Gesten zeigen. Er meditiert z,Bsp. das göttliche Paar in ihren Gegensätzen - Shakti tanzt auf Shiva - in ihrem Familienleben (zahllose Mythen umranken das göttliche Paar) und in ihrer Vereinigung (Shiva umarmt Shakti). Diese Einheit in allem Wirklichen wird auch in Symbolen und Gesten veranschaulicht: So steht das Dreieck mit Spitz nach oben für Shiva, das Dreieck mit Spitz nach unten für Shakti und beide übereinandergelegt repräsentieren als sechszackiger Stern die Einheit von Göttin und Gott. Zu praktiziertem Sex von Paaren oder Gruppen führt dieser indische Tantra nur ausnahmsweise. Tantritische Rituale, Bilder und Meditationen bewegen sich meistens im Raum mystisch-erotischer Vorstellungen. Wo aber der sog. linkshändige Tantrismus doch die sexuelle Vereinigung im Gruppenritual einschliesst, darf sich die moderne abendländische Phantasie keine wilde Gruppensexorgie vorstellen. Das ganze Ritual, von einem Meister und seiner Partnerin angeleitet, verläuft - nach Angaben von Eingeweihten - fast peinlich ordentlich und unter Saris und Mänteln verborgen fast schamhaft diskret. Nur europäische und indische Sexualneurotiker müssen sofort und zwanghaftg an Sexorgien denken, wenn von Tantra die Rede ist.
Neo-Tantra zwischen Frust und Mystik
In eine völlig andere Welt treten wir mit den heute angebotenen Tantrakursen, mit dem sog. Neo-Tantra. Grundanliegen aller neuen Tantriker ist der Wunsch aus der frustreichen Alltagswelt und den banalen Erfahrungen des bisherigen Lebens auszubrechen, in ein Meer von Ekstasen und Glück zu tauchen und von Wogen himmlischer Wonnen hinweggeschwemmt zu werden. Wie aber können Ekstasen des Glücks erlebt werden? Der Sex - dies ist die Leitgedanke des Neotantra - muss seine wahre. göttliche Bedeutung und Kraft zuürckgewinnen. Der banale Normalsex, gefühllos und zutiefst enttäuschend, kann viele Zeitgenossen nicht mehr befriedigen.

Neotantra ist ein Versuch, durch Verbindung von Mystik und Sexualität die anderen, tieferen Dimensionen der Sexualität zu berühren und dem Menschen Paradiese zu erschliessen, von denen er bisher nur träumte.

Entspannung, Einfühlung und feierliche Zärtlichkeit
Manches, was Neotantriker anbieten, erinnert an eine gute Sexualtherapie.

Die Uebungen beginnen in der Regel mit meditativem Entspannen. Atemübungen führen Mann und Frau zu sich selbst. Im Stress kann Sex nicht befriedigen. Wer zum anderen finden will, muss zuerst zu sich selber finden.

Nach der Entspannung suchen Mann und Frau sich gegenseitig zu erfühlen. Seelische Verbindung geht der glücklichen körperlichen Verbindung voraus. Auch dies ist kein ausgefallener Gedanke. Mann denkt sich in Frau hinein und umgekehrt. Beide versuchen die Welt mit den Augen des anderen zu betrachten.

Diese Uebung der Einfühlung gleitet über in Zärtlichkeit. Mann macht Frau mystische Komplimente. Und Frau verehrt Mann respekt- und liebevoll. Jedes Symbol, jeder Laut und jede Geste hat ihre eigene Bedeutung. Der Uebungsraum wird zum liebevoll gestalteten Tempel. Mantras, geheimnisvolle Gebetsformeln, werden übereinander ausgesprochen.

Dass nach diesen langen und feierlichen Vorübungen die körperliche Verbindung zu ganz anderen Erfahrungen führt als der hektische Alltagssex, verwundert niemanden. Es wäre seltsam, wenn es anders wäre. Der kritische Beobachter frägt sich nur, ob wir wirklich diese neotantristischen feierlichen Sex brauchen, um wieder erfüllte Liebe zu erleben. Die Einfühlung, die liebende Sorgfalt und die fast feierliche Zärtlichkeit ist manchen Liebenden auch ohne Tantra fröhliche Selbstverständlichkeit.

Tantra mit beliebigen Partnern?
Gleichzeitig frägt sich der kritische Beobachter, ob der Tantriker nicht seine eigenen Ziele verrät, wenn er Tantra mit irgendwelchen Partnern einübt. Die meisten Neo-Tantra-Kurse sollen bestehende Paarbeziehungen vertiefen. Aber ab und zu führt Tantra beliebige Menschen zusammen. Wie kann sich unter diesen Umständen diese umfassende Herzlichkeit und feierliche Zärtlichkeit überhaupt entfalten? Christlich verstandene Sexualität ist eingebettet in ganzheitlich erlebte Partnerchaft.
Therapie ohne Therapeuten?
Dass nicht alle Teilnehmer an Neotrantrakursen zu zärtlich vertieftem sexuellem Erleben finden, liegt auf der Hand. Zuviele psychischen Probleme und Aengste brechen da und dort auf, wenn tiefe menschliche Erlebnisschichten angesprochen werden. Wie verhalten sich die Neotantrameister, wenn nicht feierliche Zärtlichkeit den Uebenden erfüllt, wenn der Versuch, sich selbst zu spüren, in Wahnbildern endet? Die therapeutischen Anforderungen an Neotantralehrerinnen und -lehrer sind gross. Nicht alle sind, wie leidvolle Erfahrungen belegen, diesen Anforderungen gewachsen.
Göttlicher Sex?
Die neotantristische Uebung beginnt und endet im Wissen um die göttliche Sexualität. Wer Sex zutiefst erlebt, tritt durch die Himmelstür, er erlebt Nirvana, Samadhi, Gottesbegegnung, oder wie immer auch man oder frau die höchste mystische Erfahrung benennen will.

Diese erste und letzte Erkenntnis des Neotrantra unterscheidet den Tantriker vom Christen. Für den Christen ist Sexualität nicht göttlich, sondern geschöpflich, eine der schönsten Gaben Gottes an den Menschen, aber nicht Gott selbst. Die Sünde hat diese sGabe Gottes nicht mehr und nicht weniger verdorben als alle anderen Aspekte unseres Menschseins. In einem gesunden Christentum ist Sex durchaus nicht die teuflische Kraft im Menschen. Bekanntermassen hat sich in Zeiten kirchlicher Sexualneurosen die gute Gabe Gottes in eine permanente teuflische Versuchung verkehrt. Christen begannen in weiten Jahrhunderten ihrer Geschichte die Sexualtität zu fürchten und zu dämonisieren. Wenn heute der tantristisch mystifizierte oder gar vergöttlichte Sex Mode wird, kann man und frau dies als späte heftige Reaktion auf die Jahrhunderte der Verteufelung verstehen. Das Pendel schlägt ins Gegenextrem. Der verteufelte Sex wird zum vergöttlichten Sex.

Isolierter Sex?
Die göttliche Gabe der Sexualität ins Ganze des Menschsein zu integrieren ist sicher ein Hauptanliegen gesunder christlicher Sexualethik. Neo-Tantra geht oberflächlich betrachtet ein Stück weit den gleichen Weg: Sexualität soll sich mit Gefühl, Einfühlung, Herzlichkeit, Zärtlichkeit, Bewunderung und Liebe verbinden. Beide, Neotantra und gesunder christlicher Glaube wenden sich gegen jede Verteufelung der Sexualität. Denn dämonisierter Sex lässt sich nicht mehr integrieren. Er übt sich in ständiger Rebellion gegen Gefühl, Einsicht und Mitmenschlichkeit.

Der mystifizierte Sex - so scheint mir - gleicht aber bei genauer Betrachtung dem dämonisierten Sex in Umkehrung. Vergöttlichter Sex passt kaum mehr ins Ganze unseres immer unvollkommenen Menschsein. Er verbindet sich mit Erwartungen, die unser Menschsein transzendieren. Wir dienen der menschlichen Sexualität nicht, wenn wir sie dämonisieren. Aber dienen wir ihr, wenn wir sie vergöttlichen? Wie passt verabsolutierter, perfekter Sex ins immer unvollkommene menschliche Leben? Wenn wir als Christen in der Sexualität eine gute Gabe Gottes an den Menschen erkennen, überschätzen und verachten wir unsere Sexualität nicht. Und wir isolieren sie nicht. Wir binden das Geschenk ins Ganze unseres Lebens.

Georg Schmid, 1994
Letzte Aenderung 1994, © gs 1994, Infostelle 2000
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