Evangelische Informationsstelle: Kirchen - Sekten - Religionen 

Wenn die Wachstumsgemeinde zuzsammenschrumpft...

 

Ein Besuch im Zentrum der Vineyard-Bewegung in Anaheim ein Jahr nach dem Tod von John Wimber

 

John Wimbers Erbe

Nach menschlichem Ermessen starb John Wimber, eine der eindrücklichsten Getalten des charismatischen Christentums im ausgehenden 20. Jahrhundert, viel zu früh. Er hinterliess einen weltweit zwar immer noch wachsenden Gemeindeverband - mit zur Zeit ca 400 Gemeinden in den USA und 300 Gemeinden weltweit, darunter sechs Gemeinden in der Schweiz. Erst in den letzten Jahren hatte Wimber aber im Zentrum der Vineyard-Bewegung, im kalifornischen Anaheim, nicht nur einen grossen Bürobau als Zentrale des Gemeindeverbandes angekauft, sondern in diesen Bau einen Kirchenraum mit 3200 Sitzplätzen einbauen lassen. Zu seienen Lebzeiten - so liess ich mir versichern - war dieser Raum zeitweilig Abend für Abend überfüllt. So intensiv hat Wimber die Menschen angesprochen. Anlässlich meines Besuches in Anaheim im November 1998 wird das Sanctuary nur noch an Sonntag benutzt und füllt sich nur noch gerade im vorderen Drittel.

 

Intimität mit Gott in Anaheim

Immer noch besuchen vornehmlich junge Leute und Leute in den mittleren Jahren die Gottesdienste in Anaheim. Immer noch treten die Gemeindeleiter möglichst locker vor die Gemeindeglieder, in Jeans und Pullover. Wimber versuchte, alle Anzeichen von geistlicher Hierarchie abzubauen. Immer noch kann jedermann, der in einem der zahlreichen Hauskreise der Vineyard-Gemeinde mitbetet, in die Gebetsstille hinein der Gemeinde mitteilen, was der Geist ihm im Moment zu sagen befiehlt. Immer noch gilt, wie mir Craig Lockwood, ein Assistant Pastor der Vineyard-Gemeinde in Anaheim versichert: "Everybody can play. Alle können mitspielen". Und immer sucht die Vineyard-Gemeinschaft eine einzigartige Intimität zu Gott und mit Gott als Zentrum des christlichen Lebens, eine Intimität, die im Gottesdienst vor allem in den Anbetungsliedern alle berührt. Wimber war Musiker, bevor er Charismatiker und Gemeindeleiter wurde. Während erweckliches Liedgut andernsorts nur allzurasch zur religiösen Schnulze verkommt, haben die in Anaheim produzierten Glaubenslieder, auch das neue Bändnchen "Intimacy", rhythmisch kraftvoll und emotional verhalten auch für an landeskirchliches Liedgut gewohnte Ohren ihren Wert. Die Liebe zu Gott, sehr persönlich, ja sogar bewusst intim, wird auch unter den Erben von John Wimber nicht zur Liebelei. Immer noch beten Hunderte offensichtlich ergriffen, in der Musik mitschwingend oder völlig in sich gekehrt, vor der grossen Tribüne im Sanctuary in Anaheim, unter ihnen immer noch mancher Hippie oder spiritueller Vagabund, der sich wahrscheinlich nie in meine Kirche in Greifensee verirren würde. Und immer noch unterrichtet die Vineyard Christian School Primarschüler jeden Alters und immer noch bietet die Vineyard-Gemeinde ein intensives, dreistufiges Programm von Glaubenskursen als Einführung in ein bewusstes Christentum an.

 

Theologie der leeren Bänke

Das schwerste Erbe, das John Wimber hinterliess, ist sicher seine unmittelbar an Gemeindewachstum orientierte Theologie. In einfachsten Worten zusammengefasst: Wo Gott wirkt, da ist Wachstum und wo Wachstum ist, da wirkt Gott. Wie kann ich aber einer offensichtlich schrumpfende Gemeinde diese Theologie pflegen? Wie kann ich diese Theologie verkünden in einem Raum, der sich innerhalb eines Jahres zu zwei Dritteln leert? "Lance ist nicht John", sagen mir die Mitglieder eines kleinen Studienkreises, den ich im Zentrum antreffe, und der mich einlädt mitzubeten. Lance Pittluck ist der Nachfolger von John Wimber als Hauptpfarrer der Vineyard-Gemeinde in Anaheim. Lance - in Anaheim sprechen sich alle mit dem Vornamen an - hat ein unmögliches Erbe angetreten. Er wäre ein erfolgreicher Prediger. Nur leider Gottes ist er der Nachfolger eines John Wimber, eines noch erfolgreicheren Predigers. Lance spricht gleichzeitig engangiert und humorvoll, in der Sprache und im Erfahrungsraum seiner Zuhörer und von einer sprübaren eigenen "Intimität zu Gott" bewegt. Aber die zweitausend leeren Plätze lasten schwer aus seinem Gemüt. Er muss diesen leeren Raum hinter dem Gottesdienstpublikum theologisch rechtfertigen. (Wir Schweizer Theologen haben uns zum grossen Teil schon so sehr an leere Bankreihen in grossen Kirchen gewohnt, dass wir schon gar nicht mehr an theologische Rechtfertigungsübungen denken.) Lance erklärt im Gottesdienst, der Geist motiviere sie, in diesem Raum zu bleiben. Diese Weisung sei wie ein Versprechen auf ein Wachstum, das der Geist dieser Gemeinde in Anaheim noch schenken wird.

 

Amerikanische oder biblische Wachstumsphilosophie?

Wenn Lance im Ernst die leeren Bänke als Verheissung auf zukünftiges Wachstum deutet, dann hat er noch nicht angefangen, umzudenken und diese wahrscheinlich weit mehr amerikanische als christliche Wachstumsphilosophie zu hinterfragen. Natürlich wird uns in der Pfingstgeschichtet berichtet, dass der heilige Geist am Pfingsttage etwa 3000 Menschen fürs Evangelium gewann (Apg. 2,41). Warum - so frage ich mich als Europäer - muss der heilige Geist in jedem Fall für Wachstum sorgen? Wie würde ich mich freuen, wenn ich in meiner Schweizer Gemeinde nur halb soviele Leute in den mittleren Lebensjahren ansprechen könnte wie Lance! Warum muss Lance diese Kirchenhalle füllen? Warum muss er so erfolgreich sein wie Wimber? Ich vermute, dass nicht der heilige Geist den gestressten Lance zu den erwähnten Zukunftsperspektiven treibt, sondern schlicht und einfach der amerikansiche Leistunsdruck, der auf jeder Firma lastet: Wer nicht expandiert, kapituliert. Kirchgemeinden in den USA sind religiöse Firmen. Wenn Lance die Riesenkirche in Anaheim nicht bald einmal wieder füllt, sind seine Tage in Anaheim wahrscheinlich gezählt - und dies, obwohl Lance ein offenkundig begaber, menschlicher und engagierter Pfarrer ist.

Die Vineyard in Anaheim müsste nun, so scheint mir, die ganze Wachstumsphilosophie von John Wimber hinterfragen, wenn sie aus Wimbers Schatten heraustreten will. Aber vielleicht steht ihnen Wimber noch so nahe oder vielleicht liegen die Gesetze des religiösen Marktes noch so unreflektiert auf dieser Vineyard-Gemeinde, dass an ein echtes Hinterfragen dieser Wachstumsphilosophie noch jenseits des in Anaheim Denkbaren liegt.

 

Identitätskrise in Anaheim

Mein Gesprächspartner Craig Lockwood spricht im Blick auf die Situation der Vineyard-Gemeinde in Anaheim offen von einer Identitätskrise. Er weiss nicht, wie sich Vineyard in Anaheim und weltweit weiterentwickeln wird. Diese offen eingestandene Unsicherheit berührt mich sympatisch. Nur Sekten kennen keine Identitätskrisen. Kirchen stürzen mit gottgewollter Regelmässigkeit vom Podest der selbstsicheren Wahrheitsverwalter und suchen sich im Staub liegend nicht mehr nach der höchsten Wahrheit, sondern nur noch nach dem nächsten, gottgewollten Schritt.

 

Zwei Tendenzen im weltweiten Verband

Craig erwähnt zwei im Moment spürbare Tendenzen in der weltweiten Vineyard Bewegung:

1. Die "Seeker friendly technics", der Versuch, alle Barrieren zwischen dem Verkündiger und den suchenden Zweiflern anbzubauen und den Menschen den Weg zum christlichen Glaubens durch lebensnahe Verkündigung und durch weitgehenden Verzicht auf verwirrende Manifestationen des Geistes zu erleichtern. Ein Prediger - meint Craig -, der diese Linie verfolgt, scheut sich nicht, vor seinem Publikum um die 30 in seiner Predigt nur der Frage nachzugehen: Wie erziehe ich meine Kinder? Als Europäer denke ich angesichts dieser Erklärungen sofort an die Grundanliegen unserer sog. liberalen Theologie, die sich immer darum bemühte, die Mauern zwischen Unglauben und Glauben soweit wie möglich abzutragen und damit den Zugang zum Glauben zu erleichtern. Aber ich unterlasse es, in Anaheim auf diese Parallele hinzuweisen. Nach Gesprächen mit anderen charismatischen Theologen weiss ich, wie schlecht meine Gesprächstpartner auf Stichworte wie "liberal" oder "humanistisch" reagieren. Ich darf ihre Anliegen nicht in Worte kleiden, die sie als Schimpfworte empfinden.

2. Die Erneuerung im heiligen Geist, der Versuch, sich auf neue Weise dem Geist zu öffnen und zu erleben, wie der Geist auch nach Wimber und ohne Wimber Menschen bewegt, heilt und verwandelt. Craig erwähnt ein paar Vineyard-Gemeinden weltweit, denen im Moment intensive Erfahrungen mit dem heiligen Geist geschenkt werden. Aber ich gewinne im weiteren Gespräch den Eindruck, dass trotz dieser wieder sehr bewegten Gemeinden im Moment sich das Hauptaugenmerk des charismatischen Christentums von Anaheim und Vineyard wegrückte und nun auf Pensacola und den von Pensacola ausgehenden "Ablegern" ruht.

Welche der beiden erwähnten Strömungen den weiteren Weg der Vineyard-Gemeinden bestimmen wird, lässt sich wahrscheinlich zur Zeit noch nicht entscheiden. Ebenfalls offen bleibt m.E. die Frage, ob der Vineyard-Gemeindeverband als solcher erhalten bleibt. Die letzten Jahre zeigten schon soviel Eintritte und Austritte einzelner Gemeinden oder ganzer Gruppen von Gemeinden in den Verand und aus dem Verband, dass Prognosen über den Verband als ganzer sehr unsicher sind.

 

Was bleibt?

Nehmen wir einmal an, dass sich der Vineyard-Gemeindeverband ohne Wimber bald einmal selbst überlebt, das "Vineyard-Christentum", d.h. die von John Wimber mitgestaltete Charismatik, auch wenn sie einmal der Vergangenheit angehört, hätte sich meines Erachtens in keiner Weise als Fiasko erwiesen. (Es wäre unfair, das Vineyard-Christentum an seiner eigenen Wachstumsphilosophie zu messen). Das Vineyard-Christentum hätte uns nicht nur gezeigt, dass unkonventionelle Gemeinde-Strukturen und unprätentiöse liturgische Formen moderne Wahrheitssuchern einen Weg in einen intensiven Glauben auch dort ermöglichen, wo die traditionellen kirchlichen Konventionen nur noch als unüberwindliche Mauern erlebt werden. Das Vineyard-Christentum hätte uns gleichzeitig gezeigt, dass Geistergriffenheit und Massenpsychose nicht selten fast ununterscheidbar ineinander übergleiten und dass es gerade dem bewussten Chrsiten und der bewussten Christin wohl ansteht, die eigenen Erfahrungen kritisch zu hinterfragen. In dieser Verbindung von Geistergriffenheit und persönlicher intimer Beziehung zu Gott einerseits und selbstkritischer, unprätentiöser Gelassenheit ist das Vineyard-Christentum, auch wenn es bald einmal der Vergangenheit angehören sollte, etwas vom Besten und vom Zukunftsträchtigsten, was die Charismatik bisher dem modernen Menschen anbieten konnte. Andere Charismatiker und Pfingstlicher - inklusive meine Gesprächspartner in Pensacola - sind so sicher, dass sie den heiligen Geist haben, dass mir fast übel wird vor soviel Selbstsicherheit. Vineyard war sich seiner selbst nie so sicher. Vineyard durchlebt sogar Identitätskrisen.. Dies ist vielleicht das Beste, was ich von einer charismatischen Gemeinschaft je hörte. Denn in paradoxer Weise empfinde ich als Sektenberater gerade umgekehrt als manche meiner charismatischen oder pfingstlerischen Gesprächspartner: Was sicher als heiliger Geist auftritt, ist sicher nicht heiliger Geist. Doch dem Geist, der als Geist immer in Frage steht, dem könnte ich vertrauen.

 

Georg Schmid, 1998


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