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Die Wicca-Bewegung

Teil 1 - Geschichte

 

 

Hexen sind in

In den letzten Monaten war in diversen Medien gelegentlich die Rede davon, dass sich im deutschen Sprachraum ein Hexenboom zeigen würde. Manch kritischer Medienkonsument mochte sich allerdings fragen, ob dieser Trend Tatsache oder doch eher Spaltenfüller in der nachrichtenarmen Zeit ist. Ein erster Blick ins Fernsehprogramm bestätigt zumindest, dass das Thema auch in Soap Operas prominent vertreten ist, z.B. durch Teenie-Hexen, die ihre Adoleszenzprobleme durch magische Kräfte bearbeiten. Doch bleiben diese Serien deutlich dem Fantasy-Genre verpflichtet: dass die vorgeführten, z.T. spektakulären magischen Fähigkeiten nicht real sein können, bleibt keinen Augenblick fraglich. Eine Hexenlehre für jedermann und jedefrau soll durch diese Serien offensichtlich nicht entworfen werden. Diese findet sich anderswo: Wer in den letzten Jahren gelegentlich die Esoterik-Regale in Buchhandlungen durchsah, konnte die Verschiebungen in diesem stets im Fluss befindlichen Milieu beobachten. Hier zeigte sich in den letzten Jahren eine kontinuierliche und im Ganzen massive Zunahme der Hexenliteratur. Stand vor zehn Jahren noch ein einsames, ältliches Hexenbändchen verschämt neben mehrteiligen Wälzern über Tarot, unzählbaren gechannelten Botschaften von Meistern, Geistern und Ufonen jeder nur denkbaren Provenienz und Dutzenden von Anleitungen zur westlichen Praxis östlicher Meditationsformen, so hat sich das Verhältnis heute beinahe umgekehrt. Stolz präsentieren sich ganze Regale von neuerschienenen Hexenbüchern und drängen bisher Begehrtes (aber offenbar nicht unbedingt Bewährtes) zur Seite. Ein Besuch bei Esoterik-Messen bestätigt den Befund. Hexenstände, vor drei Jahren noch kaum zu finden, machen heute einen wesentlichen Teil des Angebots aus. Hier wird (fast) alles feilgeboten, was die neue Hexe benötigt: Kelche, Stäbe, Pentakel, Amulette, Räucherungen für jeden Zweck, so z.B. eine Räucherung für Wohnungswechsel (vielleicht macht ihre Anwendung einen solchen notwendig), Hexenliteratur von Hexenküche bis Hexenerotik und natürlich Salben aller Art, z.B. Flugsalben. Aehnliches im Internet: Hier nimmt die Zahl der Hexen-Websites kontinuierlich zu, von der ungelenken Gratis-Homepage im unverwüstlichen Eigenbaudesign aus den Urzeiten des Internets bis hin zu graphisch aufwändigst gestalteten Websites von Künstlern, die sich fürs Hexentum interessieren. Hexenforen ermöglichen den Austausch unter Hexen und werden rege benutzt. Ritualtipps werden weitergegeben, ebenso werden ideologische Fragen aus Sicht des Hexentums diskutiert. Noch wichtiger sind die Foren aber für die Kontaktaufnahme der Hexen untereinander. Wer eine Hexengruppe in der Gegend sucht, kann im Internet fündig werden - und wird es auch, zumindest wenn er in städtischer Umgebung lebt. Daneben tut die Rubrik "Hexer sucht Hexe" das Ihrige. Das Problem, das das Hexentum seit seiner Gründung um 1950 existentiell beschäftigte, nämlich die Frage, wie ein Interessent zu einer Gruppe findet, ohne dass diese sich öffentlich affichieren muss, ist in der Aera des Internets keines mehr. Das Hexentum scheint fürs Internet geschaffen zu sein. Programmierer jedenfalls sind, wie man hört, unter den Hexen überproportional vertreten.

In der Beratungsarbeit wird deutlich, dass die Tipps aus Literatur und Web sehr wohl auch umgesetzt werden. Eine Lehrerin aus ländlichem Gebiet berichtet davon, dass einige ihrer Schülerinnen zu nächtlicher Stunde im Wald ein Hexenritual zelebriert hätten. Ein aufmerksamer Hundehalter beobachtet beim abendlichen Gassigang am Waldrand schwarzgewandete Menschen, die um ein Feuer tanzen. Aehnlich ergeht es einer Pfadigruppe bei ihrer Nachtübung: Der Gruppenplatz auf der Waldlichtung ist schon besetzt. Bei der Arbeit mit jungen Menschen wird deutlich, dass das Thema der Hexen insbesondere unter jungen Frauen an Interesse gewinnt. Fast jede junge Frau kennt eine Kollegin, die bekennt: "Ich bin eine Hexe". Dabei steht das jugendliche Pathos dieser Formel dem von jungen Freikirchlern her bekannten Bekenntnis "Ich bin ein Christ" oft in nichts nach. Hexe zu sein wird von vielen - aber nicht allen - modernen Hexen als ideologische Wahl verstanden. Hexentum ist zwar auch und vielleicht vor allem Praxis, es ist aber auch Weltanschauung.

Wer dieser Weltanschauung moderner Hexen nachgehen will, wird gleich zu Beginn seiner Bemühung mit einem Problem konfrontiert, das sich aber zum Glück alsbald wieder verflüchtigt. Das Hexentum sei, so betonen moderne Hexen unisono, keinesfalls eine geschlossene Bewegung. Jede Hexe könne lehren, glauben und tun, was sie wolle. Aeusserungen dieser Art lassen erwarten, dass das Hexentum eine enorm vielseitige Strömung darstellt. Dem ist aber, wie ein Blick in die einschlägige Literatur schnell zeigt, nicht so. Das Hexentum ist im Gegenteil eine gemessen an ihrer Grösse recht einheitliche Bewegung. Offenkundig wird die Lehrfreiheit des Hexentums nur wenig genutzt. Wer Hexe wird, übernimmt im Wesentlichen die vorgegebenen Grundvorstellungen und meist auch viele Details der Rituale. Damit stellt sich die Frage des Ursprungs: Woher kommen sie, die ideologischen Aussagen und die Ritualvorlagen, die den Grundstock des modernen Hexentums bilden? Die Antwort auf diese Frage ist unbestritten und höchst strittig zur selben Zeit. Unbestritten ist, dass das moderne Hexentum auf die Wicca-Bewegung und deren Gründer, den Engländer Gerald B. Gardner, zurückgeht. Höchst strittig ist die Frage, woher Gardner seine Ideen hat. Hat er sie aus diversen okkulten Lehren und nicht zuletzt aus dem Christentum zusammengestellt, wie es aussenstehende Religionswissenschaftler unter Berücksichtigung aller historischen Fakten für die einzige wissenschaftlich vertretbare Antwort halten, oder erhielt er die von ihm propagierten Lehren und Rituale schon als Ganzes von einer Hexengruppe, in welche er eingeweiht sein wollte, wie es die meisten VertreterInnen der Hexenbewegung selbst glauben? An dieser Frage hängt für moderne Hexen einiges. Es geht darum, ob das Hexentum, wie es die Hexen selbst gern glauben machen, die älteste Religion der Menschheit ist, oder ob es, wie es die Religionswissenschaft wahrnimmt, von den mitgliederstarken Religionen die jüngste ist.

Der Wicca-Bewegung, dem Herkunfts- oder zumindest Durchgangsort des modernen Hexentums, ihrer Geschichte, ihren Lehren und Praktiken soll im Folgenden nachgegangen werden. Dabei soll die Wahrnehmung der Befürworter wie der Kritiker gleichermassen Berücksichtigung finden sowie auf religionswissenschaftliche Erkenntnisse zu Gardners Quellen eingegangen werden. Weiters wird insbesondere die Frage interessieren, weshalb die Wicca-Bewegung zur Zeit auf grosse öffentliche Resonanz stösst: Bricht da nach Jahrtausenden der Ueberfremdung die Urreligion der Urmütter und -väter mt der Kraft ihrer Ursprünglichkeit wieder durch oder ist hier eine neue Religion genau deshalb erfolgreich, weil sie eben neu und damit ihrer Zeit maximal angepasst ist? Wenn es auch nicht gelingen wird, diese Frage letztgültig zu beantworten, ist es vielleicht doch möglich, den Stand der Diskussion zusammen zu tragen und die Argumente beider Seiten zu erwägen.

Das Wort Wicca

Als Gerald B. Gardner um 1950 mit der Hexenbewegung zuerst in Buchform an die Oeffentlichkeit trat, bezeichnete er sie zuerst als "Witch-Cult", als Hexenkult. Später führte er für die von ihm gegründete oder öffentlich bekannt gemachte Hexenbewegung den Begriff "Wica" ein, in der Meinung, es damit mit dem altenglischen Vorläufer des neuenglischen Wortes "witch" = Hexe zu tun zu haben. (Spekulationen über altenglische Sprache lagen Gardner schon früher am Herzen, so trägt eines seiner hinterlassenen Notizhefte den Titel "Ye Bok of Ye Art Magical" und enthält Rituale, die Gardner aus der okkulten Tradition übernommen hatte und in ein mittelalterliches Englisch übersetzte - oder in das, was er dafür hielt.) Später korrigierte Gardner das Wort auf "Wicca". Dieses altenglische Wort wird von den meisten Vertretern der Wicca-Bewegung als "Hexe" übersetzt, nur einzelne wenige geben die korrekte Bedeutung "Zauberer, Hexer, Wahrsager" an. Dieses Phänomen mag damit zusammenhangen, dass die Wicca-Bewegung in besonderer Weise weiblicher Spritualität verbunden sein will. Dazu verhält sich die männliche Betitelung eher widersprüchlich. "Hexe" heisst auf altenglisch "wicce". Die Aussprache beider Worte erfolgt im Altenglischen übrigens mit einem palatalen tsch (etwa im rätoromanischen tg). Die in der Wicca-Bewegung gebräuchliche Aussprache mit Doppel-k ist voraltenglisch.

Zur Wortgruppe gehören ferner das Verb "wiccian" = "hexen, zaubern", das neutrische Substantiv "wigle" = "Hexerei, Zauber, Magie, Weissagung", und von diesem abgeleitet "wiglere" = "Zauberer, Wahrsager". Die Herkunft der Wortfamilie ist unklar. "wiccian" jedenfalls entspricht dem schwedischen Verb "vicka" = "sich hin- und herbewegen". Eine Ableitung vom germanischen Wortstamm in "weichen", altenglisch "wican" - zurückgehend auf eine indoeuropäische Wurzel wik- mit der Bedeutung " sich bewegen" - scheint so nicht ganz unplausibel. Die innerhalb der Wicca-Bewegung gern angegebene Ableitung von "weise", altenglisch "wis" ist hingegen sprachgeschichtlich unmöglich (s wird nie zu k und umgekehrt) - hier liegt offensichtliches Wunschdenken vor.

Das deutsche Wort Hexe wird in der Wicca-Bewegung im Gegensatz zum Begriff "Wicca" selbst, aber in besserer Uebereinstimmung mit der eigenen Ideenwelt fast stets in der weiblichen Form verwendet. Eine männliche Hexe ist dann eben dies, eine männliche Hexe.

Das historische Milieu der Wicca-Bewegung

Nach Meinung der meisten Wicca-VertreterInnen selbst ist die Wicca-Religion uralt, ja gar die älteste Religion der Menschheit. Das Milieu ihrer Entstehung kann deshalb, wenn diese Theorie akzeptiert wird, mangels Zeugnissen aus der fraglichen Zeit nicht untersucht werden - es sei denn, man versteige sich in mythische Spekulationen wie Gardner selbst, der von einer Zwergenrasse als Urheber der Wicca-Religion spricht. Sehr gut untersuchen lässt sich aber das Milieu des Auftretens der Wicca-Bewegung, welches nach Ansicht der aussenstehenden Religionswissenschaft auch ihr Entstehungsort ist: Die okkulte Szene Englands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Durch eine Betrachtung dieses Milieus lässt sich auch ein Indiz zur Verifikation der beiden Thesen zur Entstehung der Wicca-Bewegung gewinnen: Lassen sich Lehren und Praktiken der Wicca-Bewegung aus dem genannten Milieu bestens erklären, wogegen frühere Belege fehlen, schwingt die religionswissenschaftliche These obenauf. Passt die Wicca-Bewegung schlecht ins Milieu, in welchem Gardner verkehrte, und kann sie für die eigenen Lehren und Praktiken auf weit frühere Belege hinweisen, gewinnt die These vom hohen Alter der Bewegung an Plausibilität.

Prägend für die okkulte Szene Europas im 20. Jahrhundert war die von der Deutschrussin Helena P. Blavatsky gegründete Theosophie. Blavatskys Theosophie, die sich als veröffentlichte Geheimwissenschaft verstand und von tibetischen Meistern - z.T. über wohl von Blavatsky selbst verfasste Briefe - inspiriert zu sein behauptete, versuchte, alles Wissen der Menschheit, alle religiöse Ueberlieferung in ein System zu bringen. Die eine Wahrheit hinter allen Religionen, nichts Geringeres beanspruchte die Theosophie zu sein. Für viele Zeitgenossen der am Ende des 19. Jahrhunders kleiner werdenden Welt war ein solches Projekt äusserst faszinierend, theosophische Zirkel schossen allenthalben aus dem Boden. Manche theosophisch interessierten Menschen bemängelten aber, dass im Rahmen der Theosophie den östlichen Religionen ein zu hohes und den westlichen ein zu geringes Gewicht zukomme. Es bildeten sich, vorerst noch innerhalb der Theosophie, aber bald getrennt von ihr, zwei Gegenbewegungen, die zuerst gemeinsam und erst später getrennt marschierten: einerseits wurde die jüdisch-christliche magische und mystische Tradition unter dem Titel des Rosenkreuzertums stärker betont, zum anderen wurde versucht, vorchristlich-heidnische europäische Traditionen wieder zu beleben, dies z.B. unter dem Namen der Ariosophie, aus welcher später in Deutschland Vorläuferorganisationen der NSDAP hervorgingen.

Die einflussreichste Organisation, welche in England westliche Geheimwissenschaft der als östlich wahrgenommenen Theosophie gegenüber stellte, war der Orden der Goldenen Dämmerung (Order of the Golden Dawn). Anhand von - vom Co-Gründer William Wynn Westcott wohl selbst gefälschten - Dokumenten eines angeblichen rosenkreuzerischen Geheimordens in Deutschland gegründet, fasste der Orden die westliche jüdisch-christliche Geheimlehre in einem System zusammen, entwarf ein Gradsystem und Einweihungsrituale, und ein Lehrsystem, das Imagination und persönliche magische Praxis umfasste. Schon im Orden der Goldenen Dämmerung zeigte sich eine Hinwendung zu vorchristlichem Heidentum, so nannte sich der Co-Gründer Samuel Liddle Mathers gerne McGregor Mathers, um an seine keltisch-schottischen Wurzeln anzuknüpfen. Viel weiter gedieh die Keltophilie Mathers' nicht, aus dem schlichten Grund, dass über die Religion der Kelten recht wenig bekannt war. Nach dem Ende des Ordens, an welchem übrigens Aleister Crowley, damals Mitglied der Goldenen Dämmerung, nicht ganz unbeteiligt war, wandte sich Mathers einer vorchristlichen Religion zu, die quellenmässig besser erschlossen ist, und propagierte einen Isis-Kult mit entsprechendem Tempel.

Aus den Trümmern der Goldenen Dämmerung erhob sich eine Vielzahl kleiner, stets wechselnder Gemeinschaften, die zwischen den drei Polen (östliche) Theosophie, jüdisch-christliches Rosenkreuzertum und Versuchen, vorchristliche Religionen zu reaktivieren, hin und her oszillierten. Dabei schloss das eine die anderen keinesfalls aus. Mehrfach-Mitgliedschaften okkult interessierter Menschen bei theosophischen, eher rosenkreuzerischen und heidnisch interessierten Gruppen waren eher der Normalfall als die Ausnahme.

Die uns hier besonders interessierenden heidnisch interessierten Gemeinschaften zeigten dabei eine deutliche Entwicklungstendenz: Standen zuerst die gut bekannten Religionen des Mittelmeerraums im Vordergrund, wurden mit der Zeit, deutlich beeinflusst durch den Nationalismus vor und während des Zweiten Weltkriegs, Versuche häufiger, die vorchristlichen Religionen Englands, die keltische und die germanische, zu reaktivieren. Da über diese Religionen aber recht wenig bekannt ist, war das Vorgehen in der Regel dieses, dass Lehren und Praktiken aus der jüdisch-christlichen magischen Tradition sanft adaptiert wurden. Weiteres Material lieferten Volksbräuche, welche nach Meinung der Volkskunde des 19. Jahrhunderts in vorchristliche Zeit zurückreichen würden (wogegen die moderne Geschichtswissenschaft mittels seriöser Quellenarbeit gezeigt hat, dass kaum ein Volksbrauch nur schon aufs Spätmittelalter zurückgeht. Bräuche sind meist jünger, als man denkt. Unten soll davon noch anhand von Beispielen die Rede sein).

Besondere Inspiration verdanken heidnisch interessierte Gruppen im frühen 20. Jahrhundert zwei Büchern, die dem okkult interessierten Milieu Englands entstammen. Das eine ist das 1899 erschienene Werk "Aradia - The Gospel of Witches" des Abenteurers und selbst ernannten Ethnologen Charles Godfrey Leland (1824-1903). Leland, der auch mit pseudowissenschaftlichen Thesen zu einer angeblichen etruskischen Magie, welche in Volksbräuchen Italiens weiterleben würde, an die Oeffentlichkeit trat, berichtet in "Aradia" von einer italienischen Hexe namens "Maddalena", welche die Ueberlieferungen einer uralten Hexengruppe weitergibt. Sprachliche und literarische Elemente zeigen aber, dass die Texte aus dem 19. Jahrhundert stammen. Ziemlich deutlich wird auch, dass sich mancherorts Sexualphantasien verklemmter Viktorianer spiegeln, etwa in der Angabe, dass die Rituale nackt durchzuführen seien und einen orgiastischen Abschluss finden können. Das sonst nirgendwo belegte Wort "Aradia" soll der Name der von den Hexen Maddalenas verehrten Göttin sein, welche als Tochter von Diana und Luzifer eingeführt wird. Die Abhängigkeit Lelands resp. "Maddalenas" von gnostischer, keinesfalls von vorchristlicher Mythologie wird hier überdeutlich.

Das zweite prägende Werk stellt das 1921 erschienene Buch "The Witch-Cult in Western Europe" der englischen Aegyptologin Margaret Murray dar. Murrays These nimmt ihren Ausgang bei Fraziers Werk "The Golden Bough", welches davon ausgeht, dass alle Religion ursprünglich Fruchtbarkeitskult sei. Diesen assoziiert Murray mit der Figur einer grossen Göttin, welche in Europa zuerst im Heidentum offen, dann unter dem Christentum verborgen verehrt worden sei. Die Frauen und Männer, die der Hexenverfolgung der Renaissance zum Opfer fielen, seien VertreterInnen dieser unterschwelligen religiösen Strömung gewesen. Daneben äusserte Murray noch weitergehende Thesen, etwa die ebenfalls an Frazier angeschlossene Vorstellung, dass die altenglischen Könige durch Ritualmord getötet worden seien. Murrays Theorie konnte in der Fachwelt nicht bestehen. Schon der Ausgangspunkt ist problematisch, so wäre eine Behauptung in dem Sinne, dass die germanische Religion vorwiegend Fruchtbarkeitskult gewesen sei, nach allen Quellen unhaltbar. Hinweise auf Riten im Zusammenhang mit Krieg und Kampf etwa sind viel zahlreicher als solche auf Rituale im Zusammenhang mit dem Jahreslauf etwa. Ebenso haben Göttinnen bei den Germanen eine gegenüber männlichen Vertretern des Pantheons eher untergeordnete Funktion. Murrays Matriarchat müsste folglich weiter, in die auf jeden Fall vorindogermanische Megalith-Zeit, zurückverlegt werden, und verliert sich damit in mythischer Urferne. Murrays Hexenreligion wäre dann aber schon unter den Germanen ein Untergrund-Kult gewesen - und zwar ein verfolgter, da die Germanen mit Menschen, die sie des Schadenszaubers verdächtigten, ähnlich rücksichtslos verfahren konnten wie die Hexenverfolger der Renaissance. In den Dokumenten letzterer zeigt sich vieles, was auf perverse Phantasien seitens der Verfolger schliessen lässt, aber weniges, was Murrays Thesen stützen würde. Es erstaunt deshalb nicht, dass Murrays Werk heute eigentlich nur noch innerhalb der Hexen-Bewegung ernst genommen wird. In den Teilen des okkulten Milieus Englands vor 1950, welche sich während des Zweiten Weltkrieges auf eigene Traditionen beziehen wollten, stiess Murrays Schrift aber auf hohes Interesse.

Gerald B. Gardner - Gründer oder Propagator

Weit klaffen verschiedenen Sichtweisen der Geschichte der Wicca-Bewegung naturgemäss in der Deutung der Person Gardners auseinander. Hat er nach den Erkenntnissen der Religionswissenschaft als Gründer und Schöpfer der Wicca-Bewegung zu gelten, stellt er in der Wahrnehmung grosser Teile der Wicca-Bewegung selbst nicht mehr als ein Propagator des Hexentums dar, welcher alte Ueberlieferungen einer grösseren Zahl von Menschen zugänglich gemacht habe. Dabei werden innerhalb der Wicca-Bewegung die eigenen Anteile Gardners an den von ihm verbreiteten Lehren und Praktiken allerdings unterschiedlich beurteilt - nicht zuletzt abhängig davon, wie weit sich die jeweiligen Wicca-Angehörigen mit Gardners Biographie beschäftigt haben. Manche historisch versierten Wiccas sind durchaus bereit einzuräumen, dass Gardner eine übernommene Tradition weitgehend umgeformt und aktualisiert habe. Die Differenz zur religionswissenschaftlichen Sicht beschränkt sich bei dieser Position auf die Frage, woher Gardners Inspirationen stammen: Aus einer Untergrund-Hexengruppe oder aus diversen okkulten Organisationen.

Gerald Brosseau Gardner (1884-1964) selbst trägt zur Erhellung der Frage seiner Quellen leider wenig bei. Nach seinem Auftreten als Wicca-Vertreter äussert er sich über sein Leben bloss ausschnittsweise und verschweigt Mitgliedschaften in anderen okkulten Organisationen. Ebenso vereinheitlicht er im Rückblick sein nachgewiesenermassen breites okkultes und volkskundliches Interesse auf die Hexenfrage. Ein grosser Widerspruch ergibt sich z.B. zwischen Gardners späteren Angaben zu seinem Werdegang und den von ihm hinterlassenen Notizen, die Zeugnis seines breiten okkulten Engagements und einer längeren Phase spiritueller Suche ablegen. Dass Gardner in seiner späteren Zeit als Vertreter der Wicca-Bewegung glaubte, Teile seines Lebens verbergen zu müssen, dies ist offensichtlich.

Gerald Brosseau Gardner verbrachte seine Jugendzeit in Ceylon/Sri Lanka, wo er als 17jähriger in die Freimaurerei eingeweiht wurde. In der Folge war Gardner in verschiedenen Stellungen in Südostasien tätig, z.T. für die britische Kolonialverwaltung, z.T. für private Firmen. Daneben interessierte sich Gardner für volkskundliche Fragen und betätigte sich als Hobbyanthropologe. Ueber längere Zeit findet man Gardner in Malaysia, wo er sich insbesondere für den malaischen Dolch Kris interessiert und über diesen auch publiziert. 1936 tritt Gardner in den Ruhestand und kehrt nach England zurück. Hier wird Gardner Mitglied diverser okkulter und alternativreligiöser Gemeinschaften, Gardner selbst erwähnt nur eine davon, das Rosicrucian Theatre in Christchurch. Hier will Gardner 1939 von einer Dorothy Clutterbuck angesprochen und in ihre Hexengruppe eingeweiht worden sein. In der Folge will Gardner in der Hexenbewegung tätig gewesen sein, bis er zehn Jahre später in dieser Sache an die Oeffentlichkeit trat.

Die Quellen zeigen aber einiges, was zu dieser Sicht recht schlecht passt. So wird Gardner noch bis 1949 in diversen okkulten Gemeinschaften Mitglied und erweckt damit eher den Eindruck einer spirituellen Suche als den eines Menschen, der die für ihn stimmige Weltanschauung gefunden hat. Im Jahr 1947 trifft sich Gardner viermal mit Aleister Crowley, stellt sich dort als Hochgrad-Freimaurer und mit einem wohl falschen Doktor-Titel aus Singapur vor und gewinnt Crowley dafür, ihm eine Genehmigung zur Gründung eines Camps des von Crowley geleiteten sexualmagischen Ordens OTO zu erteilen. Aus der Sache wird aber nichts, weil Gardner später ja mit der Wicca-Bewegung beschäftigt ist. Daneben ist Gardner in der fraglichen Zeit in einer volkskundlichen Gesellschaft aktiv und versucht an verschiedenen Orten ein volkskundliches Museum zu gründen. Auch dieses Projekt setzt Gardner später nunmehr unter Hexengewand mit seinem Hexenmuseum auf der Isle of Man um. Aehnlich verhält es sich mit Gardners Aktivitäten als Okkult-Schriftsteller. Sein oben erwähntes, mit "Ye Bok of Ye Art Magical" betiteltes und in pseudo-mittelalterlichem Englisch gehaltenes Notizbuch stellt diverse okkulte Rituale verschiedener Provenienz zusammen. Wäre dieses Notizbuch allein für privaten Gebrauch bestimmt gewesen, würde die Uebersetzung in mittelalterliches Englisch keinen Sinn machen. Gardner muss sich mit dem Gedanken getragen haben, ein Grimoire, ein okkultes Zauberbuch zu publizieren, welches ein Alter vorgibt, das es nicht hat - also den okkulten Buchmarkt um eine Fälschung zu bereichern und sich selbst als Entdecker alter okkulter Lehren darzustellen.

Angesichts dieser Aktivitäten drängt sich die Frage auf, ob Garnders Wunsch, Ordensgründer, Museumsinhaber und Offenbarer okkulter Weisheiten zu sein, nicht älter ist als seine Idee mit der Wicca-Bewegung. War Gardner bereits seit 1939 Mitglied einer Hexengruppe, wird unverständlich, weshalb sich Gardners Ordens-, Buch- und Museumsprojekte nicht schon von Anbeginn auf dieses Thema konzentrierten. Die plausibelste Erklärung dieses Befundes ist diejenige, dass die Wicca-Bewegung die um 1949 entstandene "erlösende Idee" darstellt, mit welcher Gardner seine Projekte umsetzen kann. Die Rückversetzung der eigenen Einweihung um ein gutes Jahrzehnt wäre dann nötig, damit Gardner seinen ersten Mithexen nach 1950 seine eigenen Kontakte nicht mehr vorstellen muss - Clutterbuck wird von Gardner als 1939 schon sehr alt und damit nach 1950 sicher verstorben geschildert. Mit dieser Bezugnahme auf eine ehemalige, aber zur Zeit leider nicht mehr auffindbare Gruppe würde Gardner, soviel muss zu seiner Ehrenrettung gesagt werden, in bester okkulter Tradition stehen. Die Konsequenz dieser aus geschildertem Grund notwendigen Rückversetzung wäre aber ein Schweigen über die nun unpassend wirkenden eigenen Aktivitäten der dazwischen liegenden Jahre, wie es Gardner ja auch praktiziert hat.

Von Seiten der Wicca-Bewegung wird gegen diese Sicht vorgebracht, dass sich die Existenz einer Dorothy Clutterbuck mit passenden Lebensdaten nachweisen lässt. Dies allein besagt aber wenig: Gardner wird - wenn seine Geschichte denn Trug ist - nach den Erfahrungen Westcotts mit seiner Anna Sprengel, deren Existenz nicht nachzuweisen war, wohl so klug gewesen sein, als angeblich Initiierende eine Person zu wählen, dies wirklich gab, von der aber ansonsten nicht das Geringste bekannt ist. Hinweise darauf, dass Dorothy Clutterbuck in irgendeiner Weise mit spezifischen Wicca-Lehren oder Praktiken in Verbindung stand, fehlen denn auch völlig. Möglich ist natürlich auch, dass Gardner von der Clutterbuck, die er als Mitglied des Rosicrucian Theatre darstellt, tatsächlich den einen oder anderen okkulten Gedanken oder auch bloss den einen oder anderen Kräutertipp erhielt und sich so vor sich selbst damit rechtfertigen konnte, ja nicht ganz gelogen zu haben.

Jedenfalls publiziert Gardner im Jahr 1949 sein erstes Buch über den Hexenkult unter dem Titel "High Magic's Aid". 1954 folgt der zweite Titel, "Witchcraft Today" und Gardners erste nachweisbare Hexengruppe, wo auch Doreen Valiente mittut, welche zugestandenermassen bei der Ausgestaltung der Rituale mitwirkte. So verfasste sie den Text "Charge of the Goddess" des traditionellen Wicca-Rituals.

Ab 1960 intensiviert sich die Tätigkeit Gardners und die Zahl der Hexengruppen steigt. Ihren Durchbruch erlebt die Wicca-Bewegung in England aber aufgrund der Tätigkeit eines anderen Mannes, der die gardnerschen Rituale übernahm und via Medien in die Oeffentlichkeit trug: Alex Sanders.

Alex Sanders - Erbhexe oder Plagiator

Wie bei Garnder klaffen auch bezüglich der Biographie Alex Sanders' (1916-1988) seine eigenen Angaben und diejenigen aussenstehender Experten auseinander. Im Gegensatz zur Fragestellung um Gardner aber steht die grosse Mehrheit der Wicca-Bewegung den Angaben Sanders skeptisch gegenüber und teilt die Einwände der Kritiker. Sanders' Plagiat der gardnerschen Lehren ist zu offensichtlich, als dass Sanders' Ansprüche verteidigt werden könnten.

Alex Sanders wuchs in einfachen Verhältnissen auf und arbeitete in verschiedenen Gelegenheitsjobs. Schon bald entwickelt er ein okkultes Interesse, liest Schriften der jüdisch-christlichen magischen Tradition und macht bei diversen Organisationen mit. Anfang der Sechziger Jahre muss Sanders Mitglied in einer Hexengruppe in gardnerscher Tradition gewesen sein. Jedenfalls übernimmt er dessen Rituale mit geringfügigen Aenderungen und gibt sie als eigenes Wissen aus. Schon im Alter von 7 Jahren sei er von seiner Grossmutter in den 1. Grad des Hexenkults eingeweiht worden, später in der Pubertät in den 2. und 3. Grad - durch den reell vollzogenen "Grossen Ritus" (s. dazu unten), also durch Geschlechtsverkehr mit der Grossmutter, welche kurz darauf verstorben sei. Seine Hexenlehren habe er aus dem "Buch der Schatten", dem Hexenbuch seiner Grossmutter abgeschrieben - inklusive des von Doreen Valiente erst viel später geschaffenen Texts "The Charge of the Goddess" - was eine offensichtliche Unmöglichkeit darstellt.

Wie dem auch sei, jedenfalls gründet Sanders zusammen mit seiner dritten Frau Maxine, geb. Morris eine eigene Hexengruppe in London. Bei der Ausbreitung der Wiccabewegung setzt Sanders im Gegensatz zu Gardner bewusst auf die Medien. Er lässt Medienschaffende Rituale fotografieren und filmen, was diese natürlich gern annehmen. Als Folge der Medienberichte stossen Interessenten zu Hunderten zu Sanders und ein Netzwerk von Hexengruppen entsteht. Im Jahr 1965, nach dem Tode Gardners, lässt sich Sanders von diesem Netzwerk zum "König der Hexen" krönen, ein Titel, der nach seinem Tod 1988 verfällt.

Richtungen der Wicca-Bewegung

Alex Sanders' Tätigkeit spaltet, obwohl die Lehrunterschiede zu Gardner gering sind, die Wicca-Bewegung der Sechziger Jahre in zwei Teile. Der "Gardnerian Wicca" steht nun die "Alexandrian Wicca" (zusammengezogen aus Alex-Sandrian, nicht nach der Stadt) gegenüber, wobei letztere vorerst ein Uebergewicht hat. Wegen des offensichtlichen Plagiats Sanders' nimmt die Zahl von Wicca-VertreterInnen, die sich auf Sanders berufen, in der Folge kontinuierlich ab. Inzwischen dürfte ihre Zahl sehr gering geworden sein. Manche Gruppen und Personen wechselten quasi von der alexandrinischen in die gardnerische Obedienz, so die Gründer der Wicca-Bewegung in den USA, Stewart und Janet Farrar.

Den Versuch einer Verbindung der ohnehin schon nahestehenden Richtungen macht das Algard-Wicca (benannt nach den Anfangssilben der verbundenen Richtungen).

Im weiteren Verlauf der Geschichte der Wicca-Bewegung zeigen sich immer wieder Neuerungen, die z.T. als zur Wicca-Bewegung dazugehörend wahrgenommen werden, z.T. diese mit der Zeit verlassen und z.T. vom Rest der Bewegung ausgeschieden werden. Als erste zu nennen ist das sog. "Seax Wicca", das (Angel-)Sächsische Wicca von Raymond Buckland. Buckland setzt für Gott und Göttin die angelsächsischen Bezeichnungen Woden und Freya ein und propagiert die Selbstinitiation. Diese wird von der grossen Mehrheit Wicca-Bewegter verworfen, wodurch das Seax Wicca praktisch aus der Wicca-Bewegung ausscheidet. Einflussreich ist es aber als Prototyp einer der Wicca-Bewegung neuheidnischen Bewegung. Diese entstehen in der Folge in grosser Zahl. Dass Vorgehen ist üblicherweise dieses, dass die Gottheiten mit den Namen der eigenen Tradition benannt, die Rituale der Wiccabewegung hingegen grundsätzlich übernommen, aber mit Elementen von Volksbräuchen angereichert werden. Sahen sich die so entstandenen neuheidnischen Bewegungen vorerst noch als Teil der Wicca-Bewegung , wollen sie heute zumeist als selbstständige Religion, als authentische Wiederbelebung der heidnischen Religion des eigenen Volkes, wahrgenommen werden. Die Abhängigkeit von der Wicca-Bewegung wird deshalb meist verschleiert oder mit Hinweis auf eine angebliche allgemein heidnische Tradition uminterpretiert. Für die weitere Betrachtung der Wicca-Bewegung spielen diese neuheidnischen Gemeinschaften keine Rolle, da sie sich der Bewegung nicht (mehr) zurechnen.

Besonders in den USA einflussreich wurde die sog. dianische Richtung der Wicca-Bewegung mit ihrer wichtigsten Vertreterin Zsuzsanna Budapest. Die dianische Wicca-Bewegung verbindet die Wicca-Religion mit den Anliegen der Frauenbewegung. Manche Gruppen betonen die gegenüber dem männlichen Gott grössere Bedeutung der Göttin, andere verehren bloss die Göttin in beinahe monotheistischem Sinn. Im deutschen Sprachraum stösst die dianische Form der Wicca-Bewegung nicht auf dasselbe Interesse wie in den USA. Bei jungen Hexen scheint sie, wie die politische Frauenbewegung auch, zur Zeit gar kein Thema zu sein.

Keine geschlossene Strömung, aber eine typische Richtung der Wicca-Bewegung stellen die sog. Hereditaries oder Erbhexen dar. Erbhexen wollen ihr Hexentum nicht durch Einweihung in eine Wicca-Gruppe, sondern durch Ueberlieferung in der eigenen Familie erhalten haben. Zu überprüfen sind diese Ansprüche in der Regel nicht. Manchmal dient, wie bei Sanders, eine praktischerweise längst verstorbene (Ur-)Grossmutter als einweihende Hexe, so dass sich ein Schummel doch nahelegt. Vielfach wird eine Kombination von Wahrheit und Trug vorliegen: Die Grossmutter, im übrigen eine fromme Christin, lehrte traditionelles ländliches Wissen über Kräuter etc., magische Rituale werden der Literatur entnommen. In ihrer Uebernahme von Wicca-Lehren und Praktiken unterscheiden sich Erbhexen ganz erheblich. Im Allgemeinen zeigen sich aber zahlreiche Einflüsse. Manche Erbhexen kennen Spekulationen über eine Hexenkraft, ein Hexe-Sein, welches angeboren wäre.

 

Georg Otto Schmid, 2003


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