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  Kirschblütengemeinschaft Samuel Widmer
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  Die Kirschblütengemeinschaft als "tantrischer Brüderverein"?
Ein E-Mail-Gespräch mit Samuel Widmer
7.11.06

Lieber Herr Widmer,

erlauben Sie mir als kritischem Beobachter eine für Ihr Empfinden vielleicht absurde Frage. Sie hatten mir geschrieben, Sie seien in einer Sekte aufgewachsen und damit „ein gebranntes Kind.“ Auf meine Rückfrage hin erklärten Sie, Ihre Eltern und Grosseltern väterlicher- und mütterlicherseits seien Mitglieder des Brüdervereins Zuchwil gewesen.
Ist die Kirschblüte, die Gemeinschaft, die sich um Sie schart, nicht eine Art ein tantrischer Brüder- und Schwesternverein? Haben Sie nicht irgendwie aus der Welt Ihrer Vorfahren Grundmuster übernommen, die auch bei mancher Verkehrung ins Gegenteil immer noch erkennbar sind?
Ich denke etwa an folgende Parallelen oder vielleicht sogar Analogien:
1. Der Wille, in einer kranken Zivilisation das Heil, die Heilung, das wahre Leben, die wahre Liebe zu finden, und so nicht nur Arzt dieses oder jenes Menschen, sondern irgendwie Arzt für eine kranke Welt zu sein.
2. Der zugleich pietistische als auch esoterische Wille, Wahrheit nicht nur zu denken, sondern zu erleben, weil nur das Erlebte Menschen verwandelt.
3. Die Sehnsucht nach dem vollkommen freien oder vollkommen sündlosen Menschen, die Abneigung gegen alle Halbheiten und Widersprüche in der menschlichen Natur.
4. Die Betonung der Gemeinschaft, ohne die wahres Menschsein - auch wenn primär der Einzelne gefragt ist - nicht gelingen kann und die Familienstruktur der neuen Gemeinschaft. Freundinnen und Freunde auf dem Weg der Wandlung sind irgendwie Geschwister.
5. Die Neigung, sich deutlich von der Aussenwelt abzusetzen, um die Familie der neuen Menschen zu schützen.
6. Die Anlehnung an spirituelle Autoritäten auf dem Weg ins neue Menschsein, an Gestalten der Bibel hier und an spirituell bedeutsame Gestalten der jüngeren Vergangenheit dort.
7. Die Bedeutung lebender Beispiele für überzeugtes neues Menschsein, die als Prediger oder als Gurus oder als Vordenker Wandlung in den Augen ihrer Schülerinnen und Schüler auch vorleben.
8. Die zugleich pietistische als auch esoterische Liebe zu möglichst einfachen, zugleich persönlich zu erarbeitenden als auch vom gnädigen Augenblick uns geschenkten. Lösungen. Wandlung ins neue Menschsein ist kein Produkt einer komplizierten, kaum anwendbaren Ideologie, sondern Ertrag von Impulsen und Hinweisen, vom beispielhaften Menschen und von unserem eigenen momentanen Schicksal uns hilfreich zugemutet.
9. Der Wille, einen Weg der Wandlung aufzuzeigen, der die Ebene reiner Reflexion und interessanter Gedankenspiele durchbricht und die uns auch auf der Ebene der Gefühle neue Welten erschliesst.

All diese Fragen in eine einzige zusammengefasst: Haben Sie, lieber Herr Widmer, einen "tantrischen Brüderverein" gegründet?

Mit freundlichen Grüssen
Georg Schmid

9.11.06

Lieber Georg Schmid,

Bei Konfrontationen und In-Frage-Stellungen durch andere erfüllt es mich immer wieder mit Freude zu sehen, dass mich kaum jemand noch an einer Stelle herausfordern kann, die ich nicht im Prozess gründlicher Selbsterforschung bereits hinterfragt hätte. So auch, wenn Sie mir Ihre Fragen stellen. Natürlich habe ich mir die alle längst selbst vorgelegt und das Wahre und das Falsche voneinander geschieden.
In der Entwicklung meiner Tätigkeit geriet ich an mehreren Stellen mit meiner „Brüderverein-Vergangenheit“ in eine innere Auseinandersetzung. Es galt immer wieder mal Widerstände aufzugeben, wenn sich Ähnlichkeiten zu meinem Hintergrund zeigten, gegen die ich mich wehren wollte. Das half mir schliesslich immer wieder, das Gute, das in meinem Erbe liegt, auch zu sehen und zu würdigen und nicht nur das Schlechte abzulehnen.
Ihre Frage kann ich nach gründlicher Selbstprüfung verneinen. Es liegt mir ferne, einen neuen „tantrischen Brüderverein“ zu gründen. Ganz einfach schon deshalb, weil ich mich gar nicht als Begründer unserer Gemeinschaft sehe. Diese wächst ganz natürlich um uns herum durch Freundschaft und Beziehung. Darin gibt es keine Regeln und Mitgliedschaften und niemanden, der das Geschehen ins Leben ruft.
Andererseits könnte ich Ihre Frage aber auch bejahen. Natürlich entsteht um mich herum so etwas wie ein tantrischer Brüderverein. Was wäre denn falsch daran, wenn ich den Willen hätte, eine kranke Welt zu heilen? Hat sie es denn nicht nötig? Was wäre verkehrt am Willen, Wahrheit zu erleben, an der Sehnsucht nach einem freien, ganzen Menschen? Und braucht die Welt denn nicht dringend eine Erneuerung des Gemeinschaftsgeistes, neue Strukturen des Zusammenlebens? Finden Sie unsere Welt, so wie sie ist und in der täglich 100´000 Menschen verhungern, denn vertretbar?
Eine Neigung, mich von der Aussenwelt abzuschotten, finde ich allerdings nicht in mir und auch keine Anlehnung an spirituelle Autoritäten. Hatten Sie keine Vorbilder, keine Lehrer, die sie verehrt haben? Ist irgendetwasfalsch daran? Und waren es nicht immer und überall Einzelne, die der Welt ein neues Gesicht gaben oder zu geben versuchten, wenn sie eines brauchte? Rechtfertigt diesen Versuch erst der geschichtliche und posthume Erfolg? Usw…, usw… Ist es verkehrt, ein Vorbild zu sein? Entspricht es nicht unserer Wirklichkeit als Menschen, dass wir sowohl von der Gnade abhängen und uns auch anstrengen müssen? Und gibt es eine Wandlung als Gedankenspiel, die nicht unser ganzes Sein erfasst? Usw…, usw…
Hätten Sie Jesus nicht auch diese Fragen vorgelegen müssen? Und hätte er deshalb nicht trotzdem Recht gehabt mit seiner Botschaft? Und was ist mit den Urchristen, lägen sie heute falsch mit ihren Gemeinschaftsgedanken? Gehören Sie zu denen, die zu jener Zeit die Pharisäer genannt wurden?
Eigentlich habe ich immer nur Wirklichkeit ergründet und immer nur gesagt, was ich als Wahrheit erkannte. Lasten Sie es mir an, dass die Menschen die Wahrheit nicht gerne hören und sich vor ihr verstecken?

Mit liebem Gruss
Samuel Widmer Nicolet

12.12.06

Lieber Herr Widmer,

Dass Sie in Ihrer Antwort auf Jesus verweisen, leuchtet mir ein, In allen Fragen positiver und negativer Nachfolgedynamik , kurz: in allen Sektendebatten – Sekten sind wörtlich „Nachfolgegemeinschaften“ - ist er auch für mich die grosse Referenz. Vieles, was im Brüderverein einerseits und in Ihrer Kirschblütengemeinschaft andrerseits gesucht und gelebt wird, erinnert zweifellos – wenn auch aus etlicher Entfernung - an die Gemeinschaft, die sich um den Meister von Nazaret scharte.
Nach dieser generellen Bemerkung lassen Sie mich an dieser Stelle drei Aspekte, die ich aus der zugegeben grossen Distanz, aus der ich beobachte, an der Kirschblütengemeinschaft und an Ihrer Arbeit zu erkennen vermeine, mit Aspekten der Jesusbewegung vergleichen, wie sie mir in den neutestamentlichen Schriften begegnen:

1. Jesus durchbrach zweifellos in seinem Verhalten immer wieder die landläufige moralische oder gar gesetzlich vorgegebene Norm. Sein Umgang mit Zöllnern, Frauen – darunter auch Dirnen -, sein Verhalten in Sachen Sabbatgebot, seine Kritik an den Pharisäern, an den Garanten der damals in Galiläa üblichen Moral, zeigt, dass Jesus irgendwie vom Boden der Normalgesellschaft aus betrachtet ein „Agent provocateur“, der nicht nur gemobbt, sondern zuletzt auf die Seite geräumt wurde.
Dass ich Sie, lieber Herr Widmer, vom Boden der Schweizerischen Durchschnittsmoral aus besehen auch als „Agent provocateur“ betrachte, wird Sie sicher nicht verwundern. Sie sind für mein Empfinden in mancher Hinsicht ein „Grenzgänger“, der immer wieder versucht, die engen Regeln unserer Gesellschaft bewusst zu durchbrechen. Ich gestehe Ihnen gerne zu, dass es Sie immer wieder mit edlen Absichten ins Grenzgebiet zwischen Legalität und Illegalität, zwischen gutem moralischem Durchschnittsempfinden und provokativer Amoral treibt. Sie suchen – wie Sie selbst betonen – Freiheit und Wirklichkeit jenseits verlogener Konvention für sich und für Ihre Patienten. Soweit kann ich wirklich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Grenzgänger aus Nazaret und Ihnen erkennen. Auch ihm ging es sicher nicht um die Freude an der durchbrochenen Regel, sondern um die Freiheit im Erleben des gegenwärtigen Gottesreiches. Aber hier – so scheint mir – die Ähnlichkeiten aber auch schon wieder auf.
Der Meister von Nazaret flieht die Konsequenzen seines Handelns nicht. Er zieht nach Jerusalem und stellt sich der religiösen Obrigkeit. Tue ich Ihnen unrecht, wenn ich vermute, dass Sie selbst – z.B. in Ihren Aussagen über Inzest und in Ihrem Gebrauch von Drogen in der Therapie – immer gerade nur so weit provozieren, dass die durch Sie verunsicherte Öffentlichkeit Sie doch in Ruhe lassen muss? Irgendwie , lieber Herr Widmer, kommen Sie bei allen Ihren Provokationen immer ungestraft über die Runden. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich wünsche Ihnen nicht, dass Sie soweit in die Mühle unserer Gesetze hineinrutschen, dass Sie am Ende doch noch für Ihre Grenzgängerei absitzen müssen. (Auch „Sektenexperten“ haben irgendwo ein Herz und wünschen nicht, dass die vielfache nötige Sektenkritik in Sektenverfolgung ausartet.) Ich bewundere auch Ihr Talent, immer nur soweit zu provozieren, dass die Öffentlichkeit nicht mit voller Kraft zurückzuschlagen wagt. Meine Bewunderung geht in dieser Hinsicht so weit, dass ich sagen könnte: Sie sind ein grosser Meister in gerade noch knapp gesetzeskonformer Provokation. Dieses Kompliment tönt zwar in den Ohren eines braven Bürgers mehr als nur zwiespältig. Aber mein Kompliment ist ein Kompliment. Trotzdem – wenn Sie Ihren Provokationen immer gleich Beschwichtigungen hinterherschicken , wenn Sie – grob gesprochen- der öffentlichen Normalität zuerst ins Gesicht schlagen, um dieses Gesicht anschliessend wieder zu streicheln, wirken Ihre Provokationen wie ein Spiel, wie ein Kampf, der zuletzt nur soviel wert ist, wie der Preis, den Sie selbst dafür zu zahlen bereit sind. Wahrscheinlich werden Sie mir jetzt sagen, dass ich Sie nicht kenne, und dass Sie schon ganze Serien von Verfolgungen und Widerwärtigkeiten durchleiden mussten. Sicher haben auch Sie Ihren Weg mit manchen Schmerzen bezahlt. Aber haben Sie je zu diesen Schmerzen ja gesagt? Waren Sie nicht jeweils sehr entrüstet, wenn Sie gemobbt wurden? Wer die Normalität herausfordert, darf sich nicht wundern, wenn sie zurückschlägt. Direkt gefragt: Sind Sie bereit, den Preis zu zahlen, der jeder Weg an der Grenze der Legalität und der
Normalität kostet? Oder suchen Sie nur die Provokation, die Ihnen nicht weh tut? Wenn dem so wäre, dann würden in Sachen Freiheit von pseudomenschlichen Normen Welten zwischen Ihnen und dem Meister von Nazaret liegen.

2. Gerade im Verweis auf die frühe Jesusbewegung drängt sich mir eine zweite Frage auf: Auch dem Meister von Nazaret ging es sicher un ein Mehr an Liebe in einer lieblos in Konventionen erstarrten Welt. Deshalb hält sich der Rabbi aus Nazaret nicht an alle landesüblichen Konventionen. Nun würden Sie mir sichern versichern, genau dieses Mehr an Liebe liege auch der Linie Ihrer Arbeit und Ihrer Gemeinschaft. Nun wissen wir aber alle durch lange Erfahrung: Liebe ist nicht immer gleich Liebe. Das gilt zumal auch von der auf den Wegen des Tantra und der von der frühen Jesusbewegung erlebten Liebe. Tantra ist, wenn ich den indischen Texten trauen kann, ein Erlösungsweg, bei dem die Gottheit im eigenen Körper vorgestellt mit der Gottheit im Körper der Partnerin verschmilzt. Tantra denkt und erlebt zuletzt nicht personal, sondern dual und monistisch. Das Zweigeteilte findet zurück ins Ureine. Genau hier liegen – wenn ich richtig sehe – wieder Welten zwischen der Liebe in der Erfahrung der frühen Jesusbewegung und der tantristisch gedachten und erlebten Liebe. Liebe ist im Umkreis des Meisters von Nazaret immer personal. Da trifft sich kein Gott und keine Göttin. Da kehrt niemand und nichts ins Ureine zurück. Da öffnen sich Menschen im unverwechselbarer Individualität und Identität dem Menschen, der sich liebend ihnen zuwendet und erleben in ihm, in diesem Meister von Nazaret keine Liebe als Urgrund der Wirklichkeit, in den hinein sie sich auflösen möchten. Sie erleben in ihm eine göttliche Liebe, die sie unverwechselbar zu sich selber führt. Am Ende der jesusnahen Liebe sind wir alle mehr ich und mehr du. Am Ende der tantrischen Liebe steht das göttliche Ein und Alles.
Gerade weil diese neutestamentliche Liebe ins persönlichste jedes Menschen führt, überfordert sie auch keinen Menschen. Sie respektiert Grenzen. Sie animiert Liebende nicht, ihre Liebe ohne Vorbehalt mit manchen anderen zu teilen. Tantra, so meine ich, neigt immer zur Überforderung des Menschen, allein schon dadurch, dass ich meine Göttlichkeit mir ebenso intensiv einsuggerieren muss wie die Göttlichkeit meiner Partnerin. Diese Suggestion – das sag ich ganz offen – liegt mir nicht. Ich bin nie gerne Gott. Gerade wenn ich liebe, bin ich am liebsten nur Mensch, wenn möglich ganz Mensch. Das genügt. Mehr muss ich weder mir noch anderen vorspielen.
Vielleicht verstehen Sie Tantra völlig anders, als was ich es in der obigen Skizze anzudeuten suchte. Trotzdem frage ich: Entspricht tantristisch erschlossene Liebe wirklich dem, was Jesus als Ziel seiner Sendung sah?

3. Ich verstehe mich selbstverständlich nicht auf Psycholyse und Drogengebrauch in der Therapie. Alles, was ich nun schreibe, wächst auf dem Boden skeptischer Unwissenheit. Ich weiss allerdings dass Sie – z.B. gerade in der Vorstellung Ihrer Tantrakurse - auch schon auf das reine Dasein beim Patienten verwiesen haben. Diese Präsenz ist auch für Sie, wenn ich Sie richtig verstehe, die Basis, von der aus gemeinsam gute Schritte gewagt werden können. Wenn dem so ist, warum braucht es Drogen in der Therapie? Warum nicht beim reinen Dasein stehen bleiben? Trauen wir dem reinen Dasein doch zu wenig zu? Reines Dasein ist vielleicht die eindrücklichste Form der Liebe und deshalb genau das, was wir in schwierigen Phasen unseres Lebens dringend brauchen. Zudem ist der Geist des Menschen wahrscheinlich so konstruiert, dass nur das ihm wirklich weiterhilft, was ist. Alles Scheinbare und Eingebildete hilft nur scheinbar weiter.
Nun werden Sie mir wieder sagen: Die Medikamente, die Sie anwenden, verhelfen zu klarer
Wahrnehmung. Ich habe mich einmal intensiv mit Mystik beschäftigt. Da fiel mir auf, dass überzeugende Mystik keine Drogen braucht. Pseudomystik hingegen geht dauernd an den Krücken irgendwelcher chemischer Ekstase- oder Trancetechniken. Selbstverständlich braucht das Bewusstsein oft Assistenz, um ins reine Wahrnehmen und Dasein zu finden. Aber die grossen Meister auf spirituellen Pfaden boten als beste Hilfe auf dem Weg zur reinen Wahrnehmung ihre ungeteilte Präsenz an. Brauchte der Meister von Nararet Drogen, um den Menschen zu helfen? War Meister Eckhart ein Drogenhändler? Haben Ramana Maharshi und Gautama, der Buddha, Medikamente verabreicht? Die Medizin des Buddha war die Meditation. Drogen als Hilfe zur reinen Wahrnehmung sind irgendwie immer eine Demonstration grosser Hilflosigkeit. Weil wir selbst dem reinen Dasein zu wenig zutrauen, oder weil wir selbst ins reine Dasein nicht finden, greifen wir zu Hilfsmitteln, die immer auch unsere Hilflosigkeit belegen. Oder noch deutlicher formuliert: Weil wir der Liebe und ihrer schönsten Frucht, der reinen Präsenz, nicht trauen, benutzen wir Drogen.

Ich danke Ihnen zum Voraus für Ihre Bereitschaft, sich auch einem Kritiker gegenüber so weit wie möglich zu erklären und grüsse Sie freundlich
Georg Schmid

15.12.06

Lieber Georg Schmid

Eigentlich wollte ich keine weiteren Statements abgeben. Es ist zu zeitraubend. Aber Sie stellen interessante Fragen, und eigentlich bin ich ja an einem Dialog interessiert.
Genau dies will ich ja mit meinen „Provokationen“ bewirken, dass man (d.h. die Gesellschaft, die psychotherapeutischen Fachschaften, die Menschen überhaupt) mit mir in Dialog tritt. Denn nur aus diesem tiefsinnigen Dialog untereinander wird die Veränderung zum Besseren kommen, auf die ich hoffe. (Ist dies tatsächlich eine Provokation, wenn man dem Monster den Spiegel vorhält? Immerhin ist dies mein erlernter Beruf, und eigentlich erwarte ich für meinen Mut Beifall und Anerkennung. Sich selbst zu sein, ist doch keine Provokation! Oder wenn, dann ist eine Gesellschaft, in der Sich-selbst-Sein provokativ wirkt, durch und durch korrupt und krank.)
Natürlich will ich nur so weit „provozieren“, dass man mich nicht beseitigen kann, wie meinen Vorgänger, mit dem sie mich vergleichen. Hat dieser nicht auch ganz diplomatisch gesagt: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist“, als man in dazu bringen wollte, diese Gefahrengrenze zu überschreiten?
Dass ich zuerst, als ich meinen Weg zu gehen begann, d.h. mir meiner Berufung bewusst wurde, vollumfänglich die möglichen Konsequenzen akzeptiert habe und auch bereit wurde, sie nötigenfalls zu nehmen, versteht sich für mich von selbst. Aber was würde ein weiterer Märtyrer nützen? Wäre es nicht schöner, der Welt zu zeigen, dass wir heute einen Schritt weiter sind und dass es möglich geworden ist, als freier Mensch letztlich unberührt durchs Leben zu gehen?
Muss ich eigentlich befürchten, dass Sie mich, wenn ich Ihnen auf Ihre jetzigen Fragen antworte, dann der Jesus-Identifikation bezichtigen und damit als krank abtun? Auch dieser Problematik bin ich mir nämlich bewusst. Denn genauso wie Fidel Castro es fertig brachte, ein blutiger Revolutionär und trotzdem ein treuer Gefolgsmann seiner jesuitischen Lehrer zu sein, kriege ich es tatsächlich hin, das Wahre meines christlichen Hintergrunds mit meinem Weg der neuen Geschichte unter einen Hut zu bringen.
Darum kann ich nur sagen: Doch, der Preis, den die Liebe kostet, ist mir sehr bewusst und ich bin auch immer bereit gewesen, ihn zu bezahlen. Niemand wird aber von mir erwarten können, dass ich ihn nicht auch möglichstgeschickt zu minimieren versuche. Und darüber hinaus ist auch die Frage berechtigt, ob das denn immer so bleiben muss, dass die Liebe so geächtet wird, dass derjenige, der sie vertritt, mit dem Schlimmsten rechnen muss.

Zu Ihrem zweiten Punkt: Tantra verstehe ich tatsächlich ganz anders. Aber ich glaube, es würde zu weit führen, das hier zu erklären. Um zu verstehen, was ich mit einem solchen Begriff meine, müssten Sie wohl eine Zeitlang mit uns leben. Denn genau das, was Sie als personale Liebe bezeichnen, ist uns hier das grösste Anliegen. Ganz Mensch zu sein in der Liebe – da reden Sie mir aus dem Herzen. Was meinen Sie, ob sich elf Kinder, zwei Frauen und 80 Freunde mit ihren Kindern sich mit so etwas Abstraktem wie göttlicher Liebe zufrieden geben würden? In meiner Liebe sind wir ganz ich und du – das gefällt mir. Manchmal habe ich bei Ihnen, ähnlich wie bei vielen Kritikern aus Fachkreisen, das Gefühl, wir reden oft vom Selben, aber aus irgendeinem Grund darf es nicht dasselbe sein. Aber das hatten wir schon: Die Sache mit dem Ankommen…

Auch mit Ihrem dritten Punkt kann ich eigentlich nur einverstanden sein. Das reine Dasein. Das ist es. Darauf kann man eine neue Geschichte begründen. Allerdings ist es in den meisten Menschen verschüttet und muss mühsam zuerst herausgeschält werden. Diese psychotherapeutische Arbeit kann enorm unterstützt werden durch gewisse chemische Hilfsmittel. Das ist alles.
Keineswegs geht es dabei darum, Drogen zum Lebenszweck oder zur Lebensbasis zu erklären. Das reine Sein ist genug. Wenn wir von Psycholyse reden, reden wir vom beschränkten Einsatz solcher Hilfsmittel innerhalb einer Therapie während einer gewissen Zeit. Was ich den Menschen zur Verfügung stelle, ist tatsächlich meine Präsenz. Die Medikamente brauchen sie, nicht ich. Für mich ist das längst Geschichte. Eine Therapie, die nicht beim nackten Sein endet, wäre für mich keine gute Therapie. Und da ich weder rauche noch Alkohol trinke, gehe ich jede Wette mit Ihnen ein, dass ich insgesamt viel weniger Drogen konsumiere und konsumiert habe als Sie zum Beispiel.

Ja, nun hoffe ich doch, dass dies genügt. Sonst müsste ich meinen Kindern die Liebe, die sie brauchen, stehlen.

Herzlich grüsst Sie
Dr.med. P. Samuel Widmer Nicolet

Letzte Aenderung 2006, © sw und gs 2006, Infostelle 2000
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