7.11.06
Lieber Herr Widmer,
erlauben Sie mir als kritischem Beobachter eine für Ihr
Empfinden vielleicht absurde Frage. Sie hatten mir geschrieben, Sie
seien in einer Sekte aufgewachsen und damit ein gebranntes
Kind. Auf meine Rückfrage hin erklärten Sie, Ihre
Eltern und Grosseltern väterlicher- und mütterlicherseits
seien Mitglieder des Brüdervereins Zuchwil gewesen.
Ist die Kirschblüte, die Gemeinschaft, die sich um Sie schart,
nicht eine Art ein tantrischer Brüder- und Schwesternverein?
Haben Sie nicht irgendwie aus der Welt Ihrer Vorfahren Grundmuster
übernommen, die auch bei mancher Verkehrung ins Gegenteil immer
noch erkennbar sind?
Ich denke etwa an folgende Parallelen oder vielleicht sogar
Analogien:
1. Der Wille, in einer kranken Zivilisation das Heil, die Heilung,
das wahre Leben, die wahre Liebe zu finden, und so nicht nur Arzt
dieses oder jenes Menschen, sondern irgendwie Arzt für eine
kranke Welt zu sein.
2. Der zugleich pietistische als auch esoterische Wille, Wahrheit
nicht nur zu denken, sondern zu erleben, weil nur das Erlebte
Menschen verwandelt.
3. Die Sehnsucht nach dem vollkommen freien oder vollkommen
sündlosen Menschen, die Abneigung gegen alle Halbheiten und
Widersprüche in der menschlichen Natur.
4. Die Betonung der Gemeinschaft, ohne die wahres Menschsein - auch
wenn primär der Einzelne gefragt ist - nicht gelingen kann und
die Familienstruktur der neuen Gemeinschaft. Freundinnen und Freunde
auf dem Weg der Wandlung sind irgendwie Geschwister.
5. Die Neigung, sich deutlich von der Aussenwelt abzusetzen, um die
Familie der neuen Menschen zu schützen.
6. Die Anlehnung an spirituelle Autoritäten auf dem Weg ins neue
Menschsein, an Gestalten der Bibel hier und an spirituell bedeutsame
Gestalten der jüngeren Vergangenheit dort.
7. Die Bedeutung lebender Beispiele für überzeugtes neues
Menschsein, die als Prediger oder als Gurus oder als Vordenker
Wandlung in den Augen ihrer Schülerinnen und Schüler auch
vorleben.
8. Die zugleich pietistische als auch esoterische Liebe zu
möglichst einfachen, zugleich persönlich zu erarbeitenden
als auch vom gnädigen Augenblick uns geschenkten. Lösungen.
Wandlung ins neue Menschsein ist kein Produkt einer komplizierten,
kaum anwendbaren Ideologie, sondern Ertrag von Impulsen und
Hinweisen, vom beispielhaften Menschen und von unserem eigenen
momentanen Schicksal uns hilfreich zugemutet.
9. Der Wille, einen Weg der Wandlung aufzuzeigen, der die Ebene
reiner Reflexion und interessanter Gedankenspiele durchbricht und die
uns auch auf der Ebene der Gefühle neue Welten erschliesst.
All diese Fragen in eine einzige zusammengefasst: Haben Sie, lieber Herr Widmer, einen "tantrischen Brüderverein" gegründet?
Mit freundlichen Grüssen
Georg Schmid
9.11.06
Lieber Georg Schmid,
Bei Konfrontationen und In-Frage-Stellungen durch andere
erfüllt es mich immer wieder mit Freude zu sehen, dass mich kaum
jemand noch an einer Stelle herausfordern kann, die ich nicht im
Prozess gründlicher Selbsterforschung bereits hinterfragt
hätte. So auch, wenn Sie mir Ihre Fragen stellen. Natürlich
habe ich mir die alle längst selbst vorgelegt und das Wahre und
das Falsche voneinander geschieden.
In der Entwicklung meiner Tätigkeit geriet ich an mehreren
Stellen mit meiner Brüderverein-Vergangenheit in
eine innere Auseinandersetzung. Es galt immer wieder mal
Widerstände aufzugeben, wenn sich Ähnlichkeiten zu meinem
Hintergrund zeigten, gegen die ich mich wehren wollte. Das half mir
schliesslich immer wieder, das Gute, das in meinem Erbe liegt, auch
zu sehen und zu würdigen und nicht nur das Schlechte
abzulehnen.
Ihre Frage kann ich nach gründlicher Selbstprüfung
verneinen. Es liegt mir ferne, einen neuen tantrischen
Brüderverein zu gründen. Ganz einfach schon deshalb,
weil ich mich gar nicht als Begründer unserer Gemeinschaft sehe.
Diese wächst ganz natürlich um uns herum durch Freundschaft
und Beziehung. Darin gibt es keine Regeln und Mitgliedschaften und
niemanden, der das Geschehen ins Leben ruft.
Andererseits könnte ich Ihre Frage aber auch bejahen.
Natürlich entsteht um mich herum so etwas wie ein tantrischer
Brüderverein. Was wäre denn falsch daran, wenn ich den
Willen hätte, eine kranke Welt zu heilen? Hat sie es denn nicht
nötig? Was wäre verkehrt am Willen, Wahrheit zu erleben, an
der Sehnsucht nach einem freien, ganzen Menschen? Und braucht die
Welt denn nicht dringend eine Erneuerung des Gemeinschaftsgeistes,
neue Strukturen des Zusammenlebens? Finden Sie unsere Welt, so wie
sie ist und in der täglich 100´000 Menschen verhungern,
denn vertretbar?
Eine Neigung, mich von der Aussenwelt abzuschotten, finde ich
allerdings nicht in mir und auch keine Anlehnung an spirituelle
Autoritäten. Hatten Sie keine Vorbilder, keine Lehrer, die sie
verehrt haben? Ist irgendetwasfalsch daran? Und waren es nicht immer
und überall Einzelne, die der Welt ein neues Gesicht gaben oder
zu geben versuchten, wenn sie eines brauchte? Rechtfertigt diesen
Versuch erst der geschichtliche und posthume Erfolg? Usw
,
usw
Ist es verkehrt, ein Vorbild zu sein? Entspricht es nicht
unserer Wirklichkeit als Menschen, dass wir sowohl von der Gnade
abhängen und uns auch anstrengen müssen? Und gibt es eine
Wandlung als Gedankenspiel, die nicht unser ganzes Sein erfasst?
Usw
, usw
Hätten Sie Jesus nicht auch diese Fragen vorgelegen müssen?
Und hätte er deshalb nicht trotzdem Recht gehabt mit seiner
Botschaft? Und was ist mit den Urchristen, lägen sie heute
falsch mit ihren Gemeinschaftsgedanken? Gehören Sie zu denen,
die zu jener Zeit die Pharisäer genannt wurden?
Eigentlich habe ich immer nur Wirklichkeit ergründet und immer
nur gesagt, was ich als Wahrheit erkannte. Lasten Sie es mir an, dass
die Menschen die Wahrheit nicht gerne hören und sich vor ihr
verstecken?
Mit liebem Gruss
Samuel Widmer Nicolet
12.12.06
Lieber Herr Widmer,
Dass Sie in Ihrer Antwort auf Jesus verweisen, leuchtet mir ein,
In allen Fragen positiver und negativer Nachfolgedynamik , kurz: in
allen Sektendebatten &endash; Sekten sind wörtlich
Nachfolgegemeinschaften - ist er auch für mich die
grosse Referenz. Vieles, was im Brüderverein einerseits und in
Ihrer Kirschblütengemeinschaft andrerseits gesucht und gelebt
wird, erinnert zweifellos &endash; wenn auch aus etlicher Entfernung
- an die Gemeinschaft, die sich um den Meister von Nazaret
scharte.
Nach dieser generellen Bemerkung lassen Sie mich an dieser Stelle
drei Aspekte, die ich aus der zugegeben grossen Distanz, aus der ich
beobachte, an der Kirschblütengemeinschaft und an Ihrer Arbeit
zu erkennen vermeine, mit Aspekten der Jesusbewegung vergleichen, wie
sie mir in den neutestamentlichen Schriften begegnen:
1. Jesus durchbrach zweifellos in seinem Verhalten immer wieder
die landläufige moralische oder gar gesetzlich vorgegebene Norm.
Sein Umgang mit Zöllnern, Frauen &endash; darunter auch Dirnen
-, sein Verhalten in Sachen Sabbatgebot, seine Kritik an den
Pharisäern, an den Garanten der damals in Galiläa
üblichen Moral, zeigt, dass Jesus irgendwie vom Boden der
Normalgesellschaft aus betrachtet ein Agent provocateur,
der nicht nur gemobbt, sondern zuletzt auf die Seite geräumt
wurde.
Dass ich Sie, lieber Herr Widmer, vom Boden der Schweizerischen
Durchschnittsmoral aus besehen auch als Agent provocateur
betrachte, wird Sie sicher nicht verwundern. Sie sind für mein
Empfinden in mancher Hinsicht ein Grenzgänger, der
immer wieder versucht, die engen Regeln unserer Gesellschaft bewusst
zu durchbrechen. Ich gestehe Ihnen gerne zu, dass es Sie immer wieder
mit edlen Absichten ins Grenzgebiet zwischen Legalität und
Illegalität, zwischen gutem moralischem Durchschnittsempfinden
und provokativer Amoral treibt. Sie suchen &endash; wie Sie selbst
betonen &endash; Freiheit und Wirklichkeit jenseits verlogener
Konvention für sich und für Ihre Patienten. Soweit kann ich
wirklich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Grenzgänger
aus Nazaret und Ihnen erkennen. Auch ihm ging es sicher nicht um die
Freude an der durchbrochenen Regel, sondern um die Freiheit im
Erleben des gegenwärtigen Gottesreiches. Aber hier &endash; so
scheint mir &endash; die Ähnlichkeiten aber auch schon wieder
auf.
Der Meister von Nazaret flieht die Konsequenzen seines Handelns
nicht. Er zieht nach Jerusalem und stellt sich der religiösen
Obrigkeit. Tue ich Ihnen unrecht, wenn ich vermute, dass Sie selbst
&endash; z.B. in Ihren Aussagen über Inzest und in Ihrem
Gebrauch von Drogen in der Therapie &endash; immer gerade nur so weit
provozieren, dass die durch Sie verunsicherte Öffentlichkeit Sie
doch in Ruhe lassen muss? Irgendwie , lieber Herr Widmer, kommen Sie
bei allen Ihren Provokationen immer ungestraft über die Runden.
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich wünsche Ihnen nicht,
dass Sie soweit in die Mühle unserer Gesetze hineinrutschen,
dass Sie am Ende doch noch für Ihre Grenzgängerei absitzen
müssen. (Auch Sektenexperten haben irgendwo ein Herz
und wünschen nicht, dass die vielfache nötige Sektenkritik
in Sektenverfolgung ausartet.) Ich bewundere auch Ihr Talent, immer
nur soweit zu provozieren, dass die Öffentlichkeit nicht mit
voller Kraft zurückzuschlagen wagt. Meine Bewunderung geht in
dieser Hinsicht so weit, dass ich sagen könnte: Sie sind ein
grosser Meister in gerade noch knapp gesetzeskonformer Provokation.
Dieses Kompliment tönt zwar in den Ohren eines braven
Bürgers mehr als nur zwiespältig. Aber mein Kompliment ist
ein Kompliment. Trotzdem &endash; wenn Sie Ihren Provokationen immer
gleich Beschwichtigungen hinterherschicken , wenn Sie &endash; grob
gesprochen- der öffentlichen Normalität zuerst ins Gesicht
schlagen, um dieses Gesicht anschliessend wieder zu streicheln,
wirken Ihre Provokationen wie ein Spiel, wie ein Kampf, der zuletzt
nur soviel wert ist, wie der Preis, den Sie selbst dafür zu
zahlen bereit sind. Wahrscheinlich werden Sie mir jetzt sagen, dass
ich Sie nicht kenne, und dass Sie schon ganze Serien von Verfolgungen
und Widerwärtigkeiten durchleiden mussten. Sicher haben auch Sie
Ihren Weg mit manchen Schmerzen bezahlt. Aber haben Sie je zu diesen
Schmerzen ja gesagt? Waren Sie nicht jeweils sehr entrüstet,
wenn Sie gemobbt wurden? Wer die Normalität herausfordert, darf
sich nicht wundern, wenn sie zurückschlägt. Direkt gefragt:
Sind Sie bereit, den Preis zu zahlen, der jeder Weg an der Grenze der
Legalität und der
Normalität kostet? Oder suchen Sie nur die Provokation, die
Ihnen nicht weh tut? Wenn dem so wäre, dann würden in
Sachen Freiheit von pseudomenschlichen Normen Welten zwischen Ihnen
und dem Meister von Nazaret liegen.
2. Gerade im Verweis auf die frühe Jesusbewegung drängt
sich mir eine zweite Frage auf: Auch dem Meister von Nazaret ging es
sicher un ein Mehr an Liebe in einer lieblos in Konventionen
erstarrten Welt. Deshalb hält sich der Rabbi aus Nazaret nicht
an alle landesüblichen Konventionen. Nun würden Sie mir
sichern versichern, genau dieses Mehr an Liebe liege auch der Linie
Ihrer Arbeit und Ihrer Gemeinschaft. Nun wissen wir aber alle durch
lange Erfahrung: Liebe ist nicht immer gleich Liebe. Das gilt zumal
auch von der auf den Wegen des Tantra und der von der frühen
Jesusbewegung erlebten Liebe. Tantra ist, wenn ich den indischen
Texten trauen kann, ein Erlösungsweg, bei dem die Gottheit im
eigenen Körper vorgestellt mit der Gottheit im Körper der
Partnerin verschmilzt. Tantra denkt und erlebt zuletzt nicht
personal, sondern dual und monistisch. Das Zweigeteilte findet
zurück ins Ureine. Genau hier liegen &endash; wenn ich richtig
sehe &endash; wieder Welten zwischen der Liebe in der Erfahrung der
frühen Jesusbewegung und der tantristisch gedachten und erlebten
Liebe. Liebe ist im Umkreis des Meisters von Nazaret immer personal.
Da trifft sich kein Gott und keine Göttin. Da kehrt niemand und
nichts ins Ureine zurück. Da öffnen sich Menschen im
unverwechselbarer Individualität und Identität dem
Menschen, der sich liebend ihnen zuwendet und erleben in ihm, in
diesem Meister von Nazaret keine Liebe als Urgrund der Wirklichkeit,
in den hinein sie sich auflösen möchten. Sie erleben in ihm
eine göttliche Liebe, die sie unverwechselbar zu sich selber
führt. Am Ende der jesusnahen Liebe sind wir alle mehr ich und
mehr du. Am Ende der tantrischen Liebe steht das göttliche Ein
und Alles.
Gerade weil diese neutestamentliche Liebe ins persönlichste
jedes Menschen führt, überfordert sie auch keinen Menschen.
Sie respektiert Grenzen. Sie animiert Liebende nicht, ihre Liebe ohne
Vorbehalt mit manchen anderen zu teilen. Tantra, so meine ich, neigt
immer zur Überforderung des Menschen, allein schon dadurch, dass
ich meine Göttlichkeit mir ebenso intensiv einsuggerieren muss
wie die Göttlichkeit meiner Partnerin. Diese Suggestion &endash;
das sag ich ganz offen &endash; liegt mir nicht. Ich bin nie gerne
Gott. Gerade wenn ich liebe, bin ich am liebsten nur Mensch, wenn
möglich ganz Mensch. Das genügt. Mehr muss ich weder mir
noch anderen vorspielen.
Vielleicht verstehen Sie Tantra völlig anders, als was ich es in
der obigen Skizze anzudeuten suchte. Trotzdem frage ich: Entspricht
tantristisch erschlossene Liebe wirklich dem, was Jesus als Ziel
seiner Sendung sah?
3. Ich verstehe mich selbstverständlich nicht auf Psycholyse
und Drogengebrauch in der Therapie. Alles, was ich nun schreibe,
wächst auf dem Boden skeptischer Unwissenheit. Ich weiss
allerdings dass Sie &endash; z.B. gerade in der Vorstellung Ihrer
Tantrakurse - auch schon auf das reine Dasein beim Patienten
verwiesen haben. Diese Präsenz ist auch für Sie, wenn ich
Sie richtig verstehe, die Basis, von der aus gemeinsam gute Schritte
gewagt werden können. Wenn dem so ist, warum braucht es Drogen
in der Therapie? Warum nicht beim reinen Dasein stehen bleiben?
Trauen wir dem reinen Dasein doch zu wenig zu? Reines Dasein ist
vielleicht die eindrücklichste Form der Liebe und deshalb genau
das, was wir in schwierigen Phasen unseres Lebens dringend brauchen.
Zudem ist der Geist des Menschen wahrscheinlich so konstruiert, dass
nur das ihm wirklich weiterhilft, was ist. Alles Scheinbare und
Eingebildete hilft nur scheinbar weiter.
Nun werden Sie mir wieder sagen: Die Medikamente, die Sie anwenden,
verhelfen zu klarer
Wahrnehmung. Ich habe mich einmal intensiv mit Mystik
beschäftigt. Da fiel mir auf, dass überzeugende Mystik
keine Drogen braucht. Pseudomystik hingegen geht dauernd an den
Krücken irgendwelcher chemischer Ekstase- oder Trancetechniken.
Selbstverständlich braucht das Bewusstsein oft Assistenz, um ins
reine Wahrnehmen und Dasein zu finden. Aber die grossen Meister auf
spirituellen Pfaden boten als beste Hilfe auf dem Weg zur reinen
Wahrnehmung ihre ungeteilte Präsenz an. Brauchte der Meister von
Nararet Drogen, um den Menschen zu helfen? War Meister Eckhart ein
Drogenhändler? Haben Ramana Maharshi und Gautama, der Buddha,
Medikamente verabreicht? Die Medizin des Buddha war die Meditation.
Drogen als Hilfe zur reinen Wahrnehmung sind irgendwie immer eine
Demonstration grosser Hilflosigkeit. Weil wir selbst dem reinen
Dasein zu wenig zutrauen, oder weil wir selbst ins reine Dasein nicht
finden, greifen wir zu Hilfsmitteln, die immer auch unsere
Hilflosigkeit belegen. Oder noch deutlicher formuliert: Weil wir der
Liebe und ihrer schönsten Frucht, der reinen Präsenz, nicht
trauen, benutzen wir Drogen.
Ich danke Ihnen zum Voraus für Ihre Bereitschaft, sich auch
einem Kritiker gegenüber so weit wie möglich zu
erklären und grüsse Sie freundlich
Georg Schmid
15.12.06
Lieber Georg Schmid
Eigentlich wollte ich keine weiteren Statements abgeben. Es ist zu
zeitraubend. Aber Sie stellen interessante Fragen, und eigentlich bin
ich ja an einem Dialog interessiert.
Genau dies will ich ja mit meinen Provokationen bewirken,
dass man (d.h. die Gesellschaft, die psychotherapeutischen
Fachschaften, die Menschen überhaupt) mit mir in Dialog tritt.
Denn nur aus diesem tiefsinnigen Dialog untereinander wird die
Veränderung zum Besseren kommen, auf die ich hoffe. (Ist dies
tatsächlich eine Provokation, wenn man dem Monster den Spiegel
vorhält? Immerhin ist dies mein erlernter Beruf, und eigentlich
erwarte ich für meinen Mut Beifall und Anerkennung. Sich selbst
zu sein, ist doch keine Provokation! Oder wenn, dann ist eine
Gesellschaft, in der Sich-selbst-Sein provokativ wirkt, durch und
durch korrupt und krank.)
Natürlich will ich nur so weit provozieren, dass man
mich nicht beseitigen kann, wie meinen Vorgänger, mit dem sie
mich vergleichen. Hat dieser nicht auch ganz diplomatisch gesagt:
Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes
ist, als man in dazu bringen wollte, diese Gefahrengrenze zu
überschreiten?
Dass ich zuerst, als ich meinen Weg zu gehen begann, d.h. mir meiner
Berufung bewusst wurde, vollumfänglich die möglichen
Konsequenzen akzeptiert habe und auch bereit wurde, sie
nötigenfalls zu nehmen, versteht sich für mich von selbst.
Aber was würde ein weiterer Märtyrer nützen? Wäre
es nicht schöner, der Welt zu zeigen, dass wir heute einen
Schritt weiter sind und dass es möglich geworden ist, als freier
Mensch letztlich unberührt durchs Leben zu gehen?
Muss ich eigentlich befürchten, dass Sie mich, wenn ich Ihnen
auf Ihre jetzigen Fragen antworte, dann der Jesus-Identifikation
bezichtigen und damit als krank abtun? Auch dieser Problematik bin
ich mir nämlich bewusst. Denn genauso wie Fidel Castro es fertig
brachte, ein blutiger Revolutionär und trotzdem ein treuer
Gefolgsmann seiner jesuitischen Lehrer zu sein, kriege ich es
tatsächlich hin, das Wahre meines christlichen Hintergrunds mit
meinem Weg der neuen Geschichte unter einen Hut zu bringen.
Darum kann ich nur sagen: Doch, der Preis, den die Liebe kostet, ist
mir sehr bewusst und ich bin auch immer bereit gewesen, ihn zu
bezahlen. Niemand wird aber von mir erwarten können, dass ich
ihn nicht auch möglichstgeschickt zu minimieren versuche. Und
darüber hinaus ist auch die Frage berechtigt, ob das denn immer
so bleiben muss, dass die Liebe so geächtet wird, dass
derjenige, der sie vertritt, mit dem Schlimmsten rechnen muss.
Zu Ihrem zweiten Punkt: Tantra verstehe ich tatsächlich ganz anders. Aber ich glaube, es würde zu weit führen, das hier zu erklären. Um zu verstehen, was ich mit einem solchen Begriff meine, müssten Sie wohl eine Zeitlang mit uns leben. Denn genau das, was Sie als personale Liebe bezeichnen, ist uns hier das grösste Anliegen. Ganz Mensch zu sein in der Liebe &endash; da reden Sie mir aus dem Herzen. Was meinen Sie, ob sich elf Kinder, zwei Frauen und 80 Freunde mit ihren Kindern sich mit so etwas Abstraktem wie göttlicher Liebe zufrieden geben würden? In meiner Liebe sind wir ganz ich und du &endash; das gefällt mir. Manchmal habe ich bei Ihnen, ähnlich wie bei vielen Kritikern aus Fachkreisen, das Gefühl, wir reden oft vom Selben, aber aus irgendeinem Grund darf es nicht dasselbe sein. Aber das hatten wir schon: Die Sache mit dem Ankommen
Auch mit Ihrem dritten Punkt kann ich eigentlich nur einverstanden
sein. Das reine Dasein. Das ist es. Darauf kann man eine neue
Geschichte begründen. Allerdings ist es in den meisten Menschen
verschüttet und muss mühsam zuerst herausgeschält
werden. Diese psychotherapeutische Arbeit kann enorm unterstützt
werden durch gewisse chemische Hilfsmittel. Das ist alles.
Keineswegs geht es dabei darum, Drogen zum Lebenszweck oder zur
Lebensbasis zu erklären. Das reine Sein ist genug. Wenn wir von
Psycholyse reden, reden wir vom beschränkten Einsatz solcher
Hilfsmittel innerhalb einer Therapie während einer gewissen
Zeit. Was ich den Menschen zur Verfügung stelle, ist
tatsächlich meine Präsenz. Die Medikamente brauchen sie,
nicht ich. Für mich ist das längst Geschichte. Eine
Therapie, die nicht beim nackten Sein endet, wäre für mich
keine gute Therapie. Und da ich weder rauche noch Alkohol trinke,
gehe ich jede Wette mit Ihnen ein, dass ich insgesamt viel weniger
Drogen konsumiere und konsumiert habe als Sie zum Beispiel.
Ja, nun hoffe ich doch, dass dies genügt. Sonst müsste ich meinen Kindern die Liebe, die sie brauchen, stehlen.
Herzlich grüsst Sie
Dr.med. P. Samuel Widmer Nicolet
2006
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