Zeugen Jehovas: Neue Endzeit-Botschaften

In ihrer Wachtturm-Studienausgabe vom Oktober 2019 – die Zeugen Jehovas produzieren ihre Periodika jeweils weit im Voraus – wird das Thema der Endzeit wieder neu aufgewärmt. Wer meinte, die Zeugen Jehovas würden sich allmählich von ihrer Endzeitbotschaft entfernen, sieht sich getäuscht.

Das Jahr 1914: Beginn der Endzeit

Die Wachtturm-Studienausgabe nimmt Bezug auf das Jahr 1914, für welches die „Ernsten Bibelforscher“, wie die Zeugen Jehovas damals hiessen, apokalyptische Ereignisse erwartet haben. Als diese ausblieben, wurde das Jahr zum Beginn der Endzeit umgedeutet, an deren Ende die erwartete Apokalypse erfolgen würde.

Die Generation der Endzeit als Doppelgeneration

Hiess es zuerst, dass die Apokalypse erfolgen würde, solange ein Teil der Menschen noch am Leben ist, die das Jahr 1914 selbst erfahren haben, wird heute behauptet, dass die Generation der Endzeit eine Doppelgeneration sei, in welcher nach 1914 geborene Menschen die Generation von 1914 ablöst.

Konsequenterweise richtet sich die Wachtturm-Studienausgabe in erster Linie an Menschen der zweiten Hälfte der Doppelgeneration: „Wurdest du nach 1914 geboren? Dann hast du dein ganzes Leben in den ‚letzten Tagen‘ des gegenwärtigen Weltsystems verbracht.“

Das Ende ist nah

Die Idee der Doppelgeneration wurde zum Teil als Hinweis auf ein Nachlassen der akuten Endzeiterwartung der Zeugen Jehovas gelesen. Dieser Auslegung widerspricht die Studienausgabe des Wachtturms in aller Deutlichkeit: „Seit 1914 ist schon viel Zeit vergangen. Wir müssen also in den letzten Tagen der ‚letzten Tage‘ leben.“

Aus dieser Naherwartung ergeben sich Konsequenzen: „Das das Ende so nahe ist, sollten wir die Antworten auf folgende wichtige Fragen kennen: Was wird am Ende der ‚letzten Tage‘ geschehen? Was erwartet Jehova von uns bis dahin?“

Friede und Sicherheit als Hinweis auf die Nähe des Endes

In der Vergangenheit haben die Zeugen Jehovas vor allem Kriege und Kriminalität als Hinweis auf die Endzeit interpretiert. In der Studienausgabe des Wachtturms von Oktober 2019 wird ein neuer Gedanke präsentiert (der allerdings bei evangelikalen Endzeit-Experten bereits seit 20 Jahren eine gewisse Beliebtheit geniesst): Nun soll es – im Anschluss an 1. Thess 5,1ff. – nicht mehr die drohende Kriegsgefahr sein, die auf die drohende Apokalypse hinweist, sondern im Gegenteil die Verkündigung von Frieden und Sicherheit: „Kurz vor diesem ‚Tag‘ (das Ende dieser Weltzeit, red.)  werden die Nationen ‚Frieden und Sicherheit‘ verkünden.“ „Wir dürfen uns nicht dazu verleiten lassen, zu denken, führende Persönlichkeiten könnten wirklich Weltfrieden schaffen. Vielmehr wird diese Erklärung das von uns erwartete Zeichen dafür sein, dass ‚Jehovas Tag‘ unmittelbar bevorsteht“.

Was konkret haben die Zeugen Jehovas im Auge? Ein Vorgang liegt auf der Hand: die Friedensbemühungen des Trump-Schwiegersohns Jared Kushner für den Nahen Osten. Sein Friedensgipfel in Warschau vom vergangenen Februar lief unter dem Titel „Peace and Security for the Middle East“ (Frieden und Sicherheit für den Nahen Osten). Und seine Veranstaltung in Bahrain diesen Sommer trug den Titel „Peace to Prosperity Workshop“.

Jared Kushner – Antichrist?

Die Bemühungen Kushners werden in den USA von verschiedener Seite heilsgeschichtlich interpretiert : So sehen manche Exponenten des amerikanischen Evangelikalismus in Kushner den Antichristen, der ein endzeitliches Friedensreich aufrichten wird, bevor dieses in einen apokalyptischen Konflikt übergeht.

Auf diese Deutung der Bemühungen Kushners scheinen nun auch die Zeugen Jehovas Bezug zu nehmen, auch wenn sie keine einzelne Person als Antichristen erwarten, sondern den Begriff „Antichrist“ als endzeitliche Bewegung von Gegnern und insbesondere auch von ehemaligen Zeugen Jehovas („Abtrünnige“) verstehen.

Richtiges Verhalten vor dem Ende

Wie für Endzeit-Gemeinschaften typisch ziehen die Zeugen Jehovas aus der Naherwartung des Endes die Konsequenz, dass jetzt besonders striktes Befolgen der Regeln gefragt ist: „Zum Beispiel müssen wir darauf achten, neutral zu bleiben und uns nicht in politische Angelegenheiten hineinziehen zu lassen. Sonst könnten wir ‚ein Teil der Welt‘ werden.“

Intensives Missionieren

Naherwartung führt fast immer zu verstärkter Missionstätigkeit, so auch bei den Zeugen Jehovas: „Wir möchten auch andere darauf aufmerksam machen, was gemäss der Bibel auf die Welt zukommt. Wenn die grosse Drangsal (die apokalyptischen Ereingisse, red.) begonnen hat, ist es nämlich zu spät, sich auf Jehovas Seite zu stellen. Deshalb ist das Predigen so wichtig.“ „Jehova erwartet von uns, dass wir in der kurzen Zeit bis zu seinem ‚Tag‘ eifrig predigen.“

Angesichts dieser Aufforderungen ist zu vermuten, dass sich Besuche der Zeugen Jehovas an der Haus- oder Wohnungstür in den nächsten Monaten häufen werden.

Mehr zum Thema:

Lexikoneintrag: Zeugen Jehovas

Erfahrungsberichte:

Bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen

Mein Leben als Zeuge Jehovas
Oreste Wernli, in: Informationsblatt Nr. 4/1996