Post-Corona-Bewegungen Urig und Graswurzle

Ende gut, alles gut?

Am 1. April dieses Jahres hat der Bundesrat die besondere Lage sowie die im Rahmen der Verordnung getroffenen Corona-Massnahmen bundesweit aufgehoben – letztere liegen nun wieder in der Hauptverantwortung der einzelnen Kantone. Damit wagt die Schweiz die Rückkehr in die normale Lage, auch wenn Bund und Kantone mit der geplanten Übergangsphase bis zum Frühling 2023 besonders wachsam bleiben[1].

So homogen und harmonisch dies klingen mag, hat sich dieser Schritt in Realität jedoch nicht vollzogen. Auch wenn die (verpflichtenden) Sicherheitsvorkehrungen weggefallen sind, sehen sich gewisse Personen bis heute von der Coronapolitik benachteiligt oder glauben gar, dahinter tiefgreifende gesellschaftliche Problemlagen erkannt zu haben. Basierend auf diesem Gedankengut sind in den letzten zwei Jahren verschiedene Zusammenschlüsse ins Leben gerufen worden, darunter die beiden Post-Corona-Bewegungen Urig und Graswurzle.

Die Urig-Bewegung

Der Name Urig ist zweierlei inspiriert: Einerseits benennt sich die Bewegung nach dem Kanton Uri, wo im Jahr 2021 die erste Ortsgruppe in Altdorf gegründet wurde. Andererseits bezieht sich Urig auf das gleichlautende Adjektiv «urig», mit welchem «urwüchsige» oder «urtümliche» Eigenschaften beschrieben werden. Von wem die Altdorfer Gruppe etabliert wurde, ist nicht bekannt – ganz allgemein ist die Bewegung sehr diskret, auf den Homepages der Lokalgruppen werden keine Namen oder sonstigen Personalien bekannt gegeben.

Genau genommen ist es falsch, von Urig als einer homogenen Gemeinschaft zu sprechen – zumindest von einem organisatorischen Blickwinkel aus betrachtet. Denn die Bewegung gestaltet sich in Form eines schweizweiten Netzwerkes, welches aus einzelnen Ortsgruppen[2] in mehreren Kantonen besteht. Eigenen Angaben zufolge gibt es mittlerweile 51 Lokalgruppen in folgenden 16 Schweizer Kantonen: Uri, Luzern, Zürich, Schwyz, Bern, Thurgau, St. Gallen, Freiburg, Solothurn, Ob- und Nidwalden, Glarus, Appenzell, Schaffhausen, Baselland und Aargau. Weitere Gruppen befinden sich in der Gründungsphase, werden aufgrund dessen aber noch nicht in der offiziellen Liste[3] aufgeführt. Die einzelnen Mitglieder tauschen sich via Telegram aus, der Kanal ist für Aussenstehende jedoch nicht zugänglich.

Die grosse Anzahl erklärt sich durch den Umstand, dass es nach dem Besuch einer Informationsveranstaltung sowie nach dem Durchlaufen einer zweiteiligen Schulung jemensch möglich ist, eine neue Urig-Ortsgruppe auf die Beine zu stellen[4]. Über die Themen der Schulung und deren allgemeine Gestaltung wird man jedoch erst nach einer Anmeldung bzw. bei einer Mitgliedschaft informiert.

Die von Urig vertretenen Werte und Ambitionen stehen auf den jeweiligen Lokalgruppen-Homepages in etwa überall gleich geschrieben: So wird der regelmässige Austausch unter den Mitgliedern und das Organisieren von Veranstaltungen zu Themen der Alternativmedizin und Esoterik als gemeinsames Ziel formuliert – letzteres mit Schwerpunkt auf dem Anbau und Verzehr von natürlichen Lebensmitteln und einer möglichst naturverbundenen, gesunden Lebensweise. Auf der Internetseite der «Muttergruppe» Urig Altdorf[5] kann man dazu folgende Selbstdarstellung lesen:

Urig ist primär eine Philosophie der Gemeinsamkeit von einzelnen, subsidiären Vereinen. Kein Verein ist dem anderen Rechenschaft schuldig. Jede Ortsgruppe ist souverän, konfessionell und politisch neutral.

Urig setzt auf nachhaltige Kreisläufe in der Landwirtschaft wie der Permakultur u.v.m.. Die Menschen dürfen bei uns lernen, wieder eigene Gärten anzulegen. Das Ziel ist, den ökonomischen und ökologischen Kreislauf möglichst klein und lokal zu halten. Wir unterstützen die Gewerbe aus der Region und bilden Gemeinschaften mit Bauern für die regionale Versorgung und die gegenseitige Unterstützung.

Urig bietet mit seinen dezentralen Ortsgruppen, komplementär zu den Gemeinden, viele lehrreiche und unterhaltsame Themen und Anlässe an. […] In den einzelnen Vereinen kann man neue Freunde kennenlernen und das Zusammenleben zwischen Alt und Jung wird unterstütz. Verschiedene Meinungen und Ideen werden im Urig wahrgenommen, wertgeschätzt und gefördert. […]

Urig animiert den Horizont zu erweitern und zeigt neue Wege in schwierigen Zeiten.

Des Weiteren wird in den meisten Ortsgruppen «gewichtelt»[6]: Im Sinne des von Urig vertretenen «Miteinander und Füreinander», bieten sich die Mitglieder gegenseitige Hilfe beim Einkaufen, bei der Gartenpflege, beim Hüten von Kindern und Tieren u.Ä. an – je nachdem, wer welche Interessen und Kompetenzen hat.

Was von der Bewegung ebenfalls stark gewichtet wird, ist das Recht auf Autonomie gegenüber dem gesellschaftlichen und medialen Mainstream.

Das Symbol der Vereine besteht aus einem Kreis, in dessen Rand die Worte «Urig» und «Ortsgruppe XY» eingetragen sind. Der innere Kreis ist halbiert, wobei in der oberen Hälfte das Schweizer Kreuz, in der unteren Hälfte links das jeweilige Wappen des Standortkantons und auf der rechten Seite dasjenige der Standortgemeinde gezeigt wird. Zur Veranschaulichung hier das Kennzeichen der Lokalgruppe Urig Glarus:

[7]

Es gibt Hinweise[8] darauf, dass im Rahmen von Aktivitäten und Veranstaltungen verschiedener Urig-Gruppen verschwörungsideologische Ansichten geteilt wurden und noch immer werden. Auch scheinen sich interne Strömungen auszubilden, die Lehren um baldige apokalyptische Ereignisse mit der Vorstellung verbinden, der eigene Urig-Verein sei eine Art Elite für kommende, bessere Zeiten. Dabei bleibt jedoch die Frage offen, inwieweit diese beiden Punkte auf die Bewegung im Gesamten zutreffen.

Die Graswurzle-Bewegung                     

Genau wie bei Urig, handelt es sich bei Graswurzle um eine esoterisch-ökologisch geprägte Post-Corona-Bewegung, die im Juni 2021 von Prisca Würgler und Christoph Pfluger gegründet wurde. Ihr Name leitet sich vom amerikanischen Begriff «grassroot movement» (dt.: Graswurzelbewegung) ab, welcher für eine von Privatpersonen geführte Kampagne sowie von Bürger:innen ergriffene politische oder gesellschaftliche Initiativen steht[10].

Im Rahmen der Coronapandemie hat sich Würgler besonders in der Anti-Massnahmen-Szene einen Namen gemacht. Vor der Gründung von Graswurzle war sie Primarlehrerin in Emmetten (Kanton Nidwalden), verlor die Stelle jedoch aufgrund ihrer Beteiligung an einer Altdorfer Kundgebung gegen die Maskenpflicht im Herbst 2020[11].

Obwohl auch Graswurzle zahlreiche, über die ganze Schweiz verteilte Lokalgruppen umfasst, können, im Gegensatz zu Urig, fundiertere Aussagen über die Bewegung im Gesamten gemacht werden. Denn ihre Selbstdarstellung besteht nicht aus einem Beschreibungs-Puzzle einzelner Gruppen-Homepages, sondern wird auf einer offiziellen Hauptseite zusammengefasst. Darauf zu finden ist eine Darstellung mit dem Titel «Die wichtigsten Werte von Graswurzle», welche folgende acht Erläuterungen umfasst:

Wir erfreuen uns an der Vielfalt des Lebens.

Wir tauschen unser Wissen und Können in der Gemeinschaft aus und lernen voneinander.

Ich bringe mich mit meinem Potential ein, um Veränderung zu bewirken.

Ich handle eigenverantwortlich und selbstbestimmt.

Wir vertrauen uns selbst, anderen und der Natur.

Wir fördern unsere Entwicklung und Entfaltung in der Gemeinschaft durch gemeinsames Tun.

Wir begegnen einander respektvoll und wertschätzend.

Wir vernetzen uns lokal und thematisch[12].

Das übergeordnete Ziel der Graswurzle-Bewegung ist es also, nicht einfach beim ursprünglichen Protest gegen die Coronapolitik stehenzubleiben, sondern mit dem Aufbau neuer gesellschaftlicher Strukturen einen Schritt weiterzugehen und so eine «Alternative zum bestehenden System»[13] bieten zu können:

Wer seine Energie in den Aufbau einer Welt steckt, wie er sie sich wünscht, verlässt den Widerstand. Nein sagen alleine genügt nicht. Nicht mitmachen ist der erste Schritt, der zweite geht in die Richtung, wohin du wachsen willst! Auch Pflanzen suchen ihren Weg immer ans Licht!

Fliessen Engagement und Energie in den Aufbau von Gemeinschaften, die im Kleinen leben, was wir uns im Grossen wünschen, dann gibt dies unserem Wunsch den nötigen Dünger.

[…] Alleine ist wenig zu verändern, aber im Zusammenschluss mit anderen kann jeder etwas bewirken. Durch Entfaltung des Individuums wächst der Gemeinsinn. Es entstehen Projekte der Kooperation. […][14]

Das kooperative Handeln der Bewegung spiegelt sich auch in ihrer Organisationsweise wider: Nebst den Lokalgruppen, die man in dieser Form auch bei Urig findet, bietet Graswurzle sogenannte Themengruppen in den Bereichen Freizeit/Sport, Gesundheitswesen, Jugend, Kunst und Kultur, Senioren und Familien sowie Schulen an[15]. Dabei wird der Austausch unter den Gruppen stark gefördert, beispielsweise im Rahmen von Veranstaltungen wie dem «ersten Strategietreffen der Lokalgruppenleiter»[16], an welchem rund 70 hauptverantwortliche Personen teilgenommen hatten. Die einzelnen Mitglieder können via eigenem «GraswurzleNETz»[17] miteinander kommunizieren (für Externe ist das Netz nicht zugänglich).

Des Weiteren arbeitet die Bewegung mit dem Onlinesender «Transition TV» zusammen, welcher sich ergänzend «zu der einseitigen und tendenziösen Berichterstattung, wie sie derzeit in den Hauptmedien zu finden ist»[18] positioniert. In dem Sinne berichtet der Sender auch «über Fakten, die in den Hauptmedien keinen Platz finden, punktuell und als Ergänzung»[19] – Fakten, die zu einem grossen Teil verschwörungsideologische Inhalte umfassen. In verschiedenen Videos ist Prisca Würgler zu sehen, wie sie über aktuelle Graswurzle-Veranstaltungen, -Entwicklungen und -Themen spricht.

Ganz allgemein scheint Würgler innerhalb der Bewegung zu einer Art Idol geworden zu sein – der wohl grösste Unterschied zur sich diskret haltenden Urig-Bewegung, deren Gründer:innen unbekannt bleiben. Sie setzt sich klar als Gesicht von Graswurzle in Szene, übernimmt Medienauftritte und ist bei wichtigen Lokalgruppen-Events[20] mit dabei.

Ähnliche Visionen und doch getrennte Wege

In Zukunft wird die Frage interessant bleiben, ob und inwiefern ein Austausch oder gar eine Zusammenarbeit zwischen Urig und Graswurzle besteht. Es scheint verwunderlich, dass sich die beiden Post-Corona-Bewegungen trotz anscheinend gleichen Wert- und Zielvorstellungen nicht zusammenschliessen und sogar an den gleichen Standorten eigene, separate Lokalgruppen errichten. Denkbar ist, dass (zu) bedeutsame Differenzen vorherrschen, wobei diese nicht zwingend den Bereich der Weltanschauung betreffen müssen. Sie könnten auch politischer oder sozialer Natur sein, die Art der Aktivitäten oder den Grad der Involviertheit betreffen. Auch liegt die Vermutung nahe, dass die eine Bewegung Strukturen aufweist, welche den Mitgliedern der anderen Gemeinschaft nicht behagen.

Es gibt zwar Hinweise darauf, dass zwischen den beiden Bewegungen Kontakt besteht – zumindest scheint es zwischen den Hauptverantwortlichen ein reges Hin und Her zu geben. In welchem Ausmass dieser Austausch vonstattengeht, kann zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht mit Sicherheit gesagt werden.

Asia Petrino, Text verfasst im Mai 2022


[1] Vgl. BAG: Coronavirus: Rückkehr in die normale Lage und Planung der Übergangsphase bis Frühling 2023, online: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/das-bag/aktuell/medienmitteilungen.msg-id-87801.html, [23.05.2022]

[2] Die beiden Begriffe «Ortsgruppe» und «Lokalgruppe» werden in diesem Artikel synonym verwendet.

[3] Vgl. Urig Muotathal. Miteinander und Füreinander, online: https://www.urig-muotathal.ch/ortsgruppen, [23.05.2022]

[4] Vgl. Urig Altdorf: Schulung für Ortsgruppen-Gründung, online: https://www.urig-altdorf.ch/kalender/, [23.05.2022]

[5] Vgl. Urig Altdorf: Über uns, online: https://www.urig-altdorf.ch/ueber-uns/, [24.05.2022]

[6] Vgl. Urig Hirzel: Uriger Wichtel, online: https://www.urig-hirzel.ch/uber-uns.html, [24.05.2022]

[7] Vgl. Urig Glarus. Miteinander Füreinander Gemeinsam, online: https://urig-glarus.com/, [24.05.2022]

[8] Siehe dazu u.a. den Abschnitt «Von geheimen Mächten zur Heilung durch die `Powertube`» in Relinfo: «Verdeckter Besuch bei der Ortsgruppe Urig Ruswil – Hochfrequenztherapie mit Martin Frischknecht», online: https://www.relinfo.ch/2022/02/28/verdeckter-besuch-bei-der-ortsgruppe-urig-ruswil-hochfrequenztherapie-mit-martin-frischknecht/, [24.05.2022]

[9] Das Symbol der Graswurzle-Bewegung. Vgl. Graswurzle, online: https://graswurzle.ch/, [24.05.2022]

[10] Vgl. Energieinstitut Vorarlberg (2015): Graswurzel-Bewegungen: so kann gesellschaftlicher Wandel gedeihen, online: https://www.energieinstitut.at/graswurzel-bewegungen-so-kann-gesellschaftlicher-wandel-gedeihen/, [24.05.2022]

[11] Epp, Carmen (2022): Maskengegnerin Prisca Würgler gründet Verlag mit Sitz im Kanton Uri. Luzerner Zeitung, online: https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/uri/altdorf-maskengegnerin-prisca-wuergler-gruendet-verlag-mit-sitz-im-kanton-uri-ld.2267486, [24.05.2022]

[12] Vgl. Graswurzle: Die wichtigsten Werte von Graswurzle, online: https://graswurzle.ch/, [28.05.2022]

[13] Vgl. Graswurzle, online: https://graswurzle.ch/, [25.05.2022]

[14] Ebd.

[15] Vgl. Graswurzle: Themengruppen, online: https://graswurzle.ch/themengruppen/freizeit-sport/, [25.05.2022]

[16] Vgl. Graswurzle: Begegnung von Mensch zu Mensch, online: https://graswurzle.ch/begegnung-von-mensch-zu-mensch/, [25.05.2022]

[17] Vgl. Graswurzle: Für Vereinsmitglieder, online: https://graswurzle.ch/intern/, [25.05.2022]

[18] Vgl. Transition TV. Wir gehen weiter: Über uns, online: https://transition-tv.ch/ueber-uns/, [25.05.2022]

[19] Ebd.

[20] Transition TV. Wir gehen weiter: Eine Graswurzle-Lokalgruppe bezieht eigene Räumlichkeiten – Prisca Würgler war bei der Einweihungsfeier mit dabei!, online: https://t.me/Graswurzle/28, [25.05.2022]