Evangelische Informationsstelle: Kirchen - Sekten - Religionen 

Anthroposophie

Kurzgefasste Einführung anhand der Biographie Rudolf Steiners

 

 

Die Anthroposophie kann nicht verstanden werden ohne Besprechung der Person ihres Gründers, Rudolf Steiner. Auf Rudolf Steiner gehen alle wesentlichen Grundlagen der Anthroposophie zurück. Steiner ist nach wie vor der meistgelesene und meistzitierte Autor innerhalb der Bewegung. Seine Persönlichkeit und sein Werdegang hat die Anthroposophie ganz wesentlich geprägt. Seine Wichtigkeit für die Anthroposophie spiegelt sich in der Ehrfurcht, mit welcher viele Anthroposophen von Rudolf Steiner sprechen. Für manche Anthroposophen verlassen zumindest Steiners Erkenntnisse den Bereich des Menschlichen, insofern sie in seinem äusserst umfänglichen Werk, die Gesamtausgabe umfasst annähernd 400 Bände, keinen einzigen Fehler, keinen Irrtum zu sehen vermögen. Steiner gilt manchen Anthroposophen offensichtlich als unfehlbar. Wir müssen uns also mit diesem Menschen, Rudolf Steiner, beschäftigen, wenn wir die Anthroposophie verstehen wollen.

 

Steiners Kindheit und Jugend

Rudolf Steiner wurde am 27. Februar 1861 in Kraljevec, im damaligen Kaiserreich Oesterreich-Ungarn, heute in Kroatien gelegen, geboren. Steiners Vater war Bahnangestellter, was einen öfteren Wohnortswechsel der Familie mit sich brachte. Das Verhältnis der Familie Steiner zur katholischen Kirche war ein distanziertes, aber keinesfalls ein liberales. Im Gegenteil, Steiner wurde, wie seine unlängst veröffentlichten Priesterkurse belegen, durch ein äusserst konservatives, magisch-ritualistisches Verständnis des Katholizismus geprägt, ein Verständnis, welches heute sogar bei katholisch-konservativen Organisationen nicht mehr so vertreten wird.

Neben dieser ritualistischen Prägung zeigen sich in Steiners Kindheit und Jugend zwei weitere Phänomene, die für seine Anthroposophie und seinen Erfolg entscheidend werden: Steiners Erleben oder Imaginieren einer geistigen Welt hinter der körperlichen Realität und Steiners ausserordentlich hohe Intelligenz.

In seiner Autobiographie schildert sich Steiner als ein Kind, dass schon früh versonnen und verträumt wirkte. Im Alter von sieben oder acht Jahren erscheint ihm eine unbekannte Frau genau zu dem Zeitpunkt, als seine Tante im Sterben lag. Dieses Ereignis wird Steiner zu einem Schlüsselerlebnis: es öffnet ihm den Zugang zu einer Welt hinter oder über dieser körperlichen Realität. Er sieht oder imaginiert eine Welt voller Geistwesen, die unsere physische Welt durchdringt. In diese Geisterwelt oder Geisteswelt zieht sich Steiner gern zurück, dieser Rückzug löst bei ihm Glücksgefühle aus. Später beschäftigt sich Steiner mit den abstrakten Vorstellungen der Geometrie, die er ebenfalls in seiner Geisteswelt wiederfinden kann. Die körperliche Aussenwelt wird Steiner zusehends unwichtiger. So meinte Steiner später über seine Jugendzeit: "Und ich musste empfinden, wie wenig ich im Grunde bis dahin mit einer Aussenwelt gelebt hatte. Wenn ich mich von dem lebhaften Verkehre zurückzog, dann wurde ich gerade damals immer wieder gewahr, dass mir eine vertraute Welt bis dahin nur die geistige, die ich im Innern anschaute, gewesen ist. Mit dieser Welt konnte ich mich leicht verbinden. Und meine Gedanken gingen damals oft nach der Richtung, mir selbst zu sagen, wie schwer mir der Weg durch die Sinne zur Aussenwelt während meiner ganzen Kindheit und Jugendzeit geworden ist... Die Sinneswelt hatte für mich etwas Schattenhaftes, Bildhaftes. Sie zog in Bildern vor meiner Seele vorbei, während der Zusammenhalt mit dem Geistigen durchaus den echten Charakter des Wirklichen trug."

Die geistige Welt der Wesen und der abstrakten Anschauungen ist Steiner realer als die körperliche Welt. Dieser Vorrang des Geistigen, nur geistig schaubaren vor dem körperlich sichtbaren wird zu einer der Grundlagen von Steiners Anthroposophie werden. Dieser in der Psychologie gar nicht selten beschriebene Rückzug eines Kindes in eine Traumwelt hat im Falle von Steiner direkte Auswirkungen auf die Bildung einer Weltanschauung.

In schulischer Hinsicht ist Steiner trotz seines Rückzuges in seine Geisteswelt äusserst erfolgreich. Es zeigt sich schon früh Steiners hohe Intelligenz, die es ihm später ermöglicht, binnen rund 20 Jahren sechstausend Vorträge zu stets wechselnden Themen zu halten und dabei alle Bereiche der zeitgenössischen Gesellschaft abzudecken. Steiner zeigt hierbei ein phänomenales Gedächtnis für Gelesenes und Gehörtes und eine bewundernswerte Begabung, vorhandene Erkenntnisse zu kombinieren und zueinander in Beziehung zu versetzen. Es ist und bleibt nicht zuletzt diese Fähigkeit zur Vernetzung von Einzelideen und zur Eingiessung derselben in eine Theorie, die alle Fragen der Zeit aufgreift und beantwortet, die die Faszination von Steiners Werk ausmacht.

 

Goethe und Nietzsche

Im Jahr 1879 schliesst Steiner mit 18 Jahren die Mittelschule ab und beginnt ein Studium an der Technischen Hochschule in Wien, wo Steiner die Fächer Mathematik, Biologie, Physik und Chemie belegt. Neben diesem naturwissenschaftlichen Studium beginnt sich Steiner intensiv mit Goethe zu beschäftigen. Bei Goethe fasziniert Steiner dessen Idee, dass hinter dem einzelnen eine geistige Form oder Gestalt steht. Steiner sieht hier seine Wahrnehmungen aus seiner Geisteswelt bestätigt. Steiner spinnt Goethes Gedanken weiter, kann sie aber nicht kommunizieren. Er findet niemanden, der sein Interesse, seine Wahrnehmungen teilt und leidet unter dieser Vereinsamung.

Durch Vermittlung eines Dozenten wird Steiner mit der Herausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes betraut. Diese Beschäftigung lässt Steiner die Realität in neuem Licht erleben. Goethe sieht seine Formen und Gestalten, die hinter der physischen Realität stehen, nicht als Theorie der Erfahrung entgegengesetzt, sondern hält sie für genauso wissenschaftlich erfahrbar wie die physische Realität. Diesen Gedanken greift Steiner gerne auf: Seine Geisteswelt ist nicht Produkt von Träumen und/oder philosophischen Abstraktionen, sondern ein real erfahrbarer Bereich. Die Geisteswelt ist, dies ein wesentliches Erbe Goethes an die Anthroposophie, genauso wissenschaftlich akkurat erfahrbar wie die körperliche Realität. Allerdings hat Goethe hierbei bloss an prägende Gestalten hinter der Realität gedacht, keinesfalls an eine derart vielfältige Geisteswelt wie Rudolf Steiner sie in den folgenden Jahrzehnten darstellt. Der Glaube aber, dass Geistiges, Uebersinnliches genauso wissenschaftlich erfahrbar ist wie das körperliche, den übernimmt Steiner von Goethe. Dieser Glaube ist für die Anthroposophie bis heute entscheidend geblieben. Was sie lehrt, will Wissenschaft sein, nicht etwa Religion.

Mit Goethe findet Steiner eine Legitimation für die Form seiner Erkenntnisse in seiner Geisteswelt. Was noch fehlt, ist ein Rahmen für deren Inhalt. Der ist bei Goethe nicht zu gewinnen.

Zwischen 1884 und 1890 betätigt sich Steiner als Hauslehrer und betreut einen behinderten Jungen. In dieser Zeit gewinnt Steiner pädagogische Ideen, die später in seine Waldorf-Pädagogik einfliessen.

Im Jahr 1886, also mit 25 Jahren, legt Steiner sein erstes Buch vor, die "Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung".

1890 beginnt Steiner mit seiner Doktorarbeit. Im gleichen Jahr tritt Steiner eine Stelle am Goethe- und Schillerarchiv in Weimar an. Dort arbeitet Steiner bis 1896 an der Weimarer Goethe-Gesamtausgabe, der Sophien-Ausgabe mit.

Im Jahr 1894 legt Steiner seine "Philosophie der Freiheit" vor. Das Buch betont die Bedeutung des Denkens: das Denken macht Weltwahrnehmung erst eigentlich möglich. Obwohl ihr Thema eigentlich ein ganz anderes ist, steht die "Philosophie der Freiheit" an der Schwelle zur Anthroposophie: Die hier geforderte Schulung des Denkens führt, so Steiner später, recht durchgeführt zu den übersinnlichen Erkenntnissen in Steiners Geisteswelt.

In den folgenden Jahren beschäftigt sich Steiner intensiv mit Friedrich Nietzsche, dessen Destruktion bestehender Werte und Weltanschauungen Steiner aufgreift. Die Tabula rasa, die Nietzsche hinterlässt, schafft Steiner Raum zur Erschaffung einer eigenen Weltanschauung, die dann allerdings auf vieles zurückgreifen wird, was Nietzsche scharf ablehnt. In dieser Zeit kann Steiner noch als Motto angeben: "An Gottes Stelle den freien Menschen." Der freie Mensch Steiner wird Gott später wiederentdecken, aber nunmehr vom Druck bestehender Konventionen befreit, unter freier Verwendung eigener und älterer Erkenntnisse.

Im Jahr 1899 heiratet Rudolf Steiner die Witwe Anna Eunike. Die Ehe bleibt jedoch glücklos.

Im selben Jahr wird Steiner Lehrer an der Arbeiterbildungsschule.

 

Die Theosophische Gesellschaft

Ein Jahr später kommt Steiner in Kontakt mit der Theosophischen Gesellschaft. Als Nietzsche-Experte wird Steiner eingeladen, in der Bibliothek der Berliner Theosophischen Gesellschaft einen Vortrag zu halten. Diese Begegnung mit der Theosophie wird für Rudolf Steiner zur entscheidenen Wende seines Lebens. In der theosophischen Lehre findet er einen Rahmen, in welchen er seine Wahrnehmungen in der Geisteswelt einbringen und sie deuten kann. Die Theosophie liefert Steiner eine ausgebaute Geographie der Geisteswelt, eine geistige Welt, die bevölkert ist von geistigen Wesen aller Art, die seine Ahnungen und Wahrnehmungen plausibel deuten kann. Steiner übernimmt denn auch innert kürzester Zeit die theosophische Weltsicht, er scheint sie förmlich aufzusaugen. Die Theosophie löscht Steiner einen Durst, der allzulang brannte. In der Theosophie findet Steiner zum ersten Mal eine Gemeinschaft, in welcher er seine Erfahrungen schildern kann, ohne Gefahr, lächerlich zu wirken. Steiners innere Einsamkeit ist überwunden. Im Gegenteil, gerade wegen seiner Schauungen in der Geisterwelt macht Steiner in der Theosophie schnell Karriere.

Die Theosophie, das Wort bedeutet die "Gottesweisheit" (oder, welche Bedeutung Steiner vorzieht, die "göttliche Weisheit"), wurde 1875 in New York von der Russin Helena Petrowna Blavatsky begründet. Blavatsky war vorher als spiritistisches Medium tätig, das heisst, sie vermittelte Botschaften, die ihr angeblich von Totengeistern zukamen. Mit der Gründung der Theosophie wendet sich Blavatsky vom Spiritismus ab und versucht in der Folge, eine esoterisch-okkulte Weltanschauung zu entwerfen, die sie eben "Theosophie" benennt. Für dieses Projekt greift Blavatsky auf esoterische Lehren aller Zeiten zurück, auf die Alchemie, auf die hellenistische Hermetik, gnostische Lehren, aber vor allem auch auf hinduistische und buddhistische Gedanken. Aus diesen verschiedenen Versatzstücken schafft Blavatsky eine neue, einheitliche Lehre.

 

Die theosophische Weltanschauung

In ihrer Endgestalt kreist die theosophische Weltanschauung Blavatskys um sechs Grundgedanken:

1. Die "Meister". Blavatsky beansprucht, wie früher mit Totengeistern, jetzt mit Gestalten aus der Geisteswelt in Verbindung zu stehen. Diese, grosse Figuren der Vergangenheit, würden sie, Frau Blavatsky, und die Menschheit belehren. Von ihnen, den Meistern, will Blavatsky die Theosophie empfangen haben.

2. Hinter unserer sichtbaren Welt oder Seinsebene stehen andere Welten oder Seinsebenen, die, obwohl nicht mit Augen sichtbar, mindestens ebenso real sind wie die körperliche Welt. Dabei sind diese Seinsebenen gestuft in ihrem Rang. Die körperliche Welt ist die unterste Stufe. Unmittelbar über dieser steht die sogenannte Aetherwelt, benannt nach dem Aether, dem fünften Element der antiken Spekulation. Die Aetherwelt ist feinstofflich, besteht also aus einer feineren Art Materie als unsere sichtbare Materie. Spukerscheinungen gehen auf Reste von Toten zurück, die in der Aetherwelt bleiben (hier zeigt sich, dass sich Blavatsky vom Spiritismus abgewandt hat). Ueber der Aetherwelt steht die Astralwelt, deren Medium noch feiner ist als dasjenige der Aetherwelt. Zur Astralwelt gehören die Gefühle. Der Begriff "astral" kommt von "astrum", Stern, und meint den in der Esoterik vermuteten Zusammenhang zwischen den Sternen und den Gefühlen. Ueber der Astralwelt steht die Mentalwelt, die eigentlich geistige Welt, und darüber höhere geistige Ebenen, die dem Göttlichen zunehmend näherstehen: die buddhische Welt, die Atma-Ebene, die Welt des göttlichen Geistes und die Welt des Lebensgeistes.

3. Der Mensch hat an diesen Seinsebenen, zumindest an den unteren vier, Teil. Der Mensch verfügt nicht nur über einen physischen Körper, sondern auch über einen Aetherleib, der aus Aethermaterie zusammengesetzt ist. Dieser Aetherleib steuert, hier folgt die Theosophie der zeitgenössischen Lebensphilosophie, den "elan vital", die Lebenskraft (im neunzehnten Jahrhundert war fraglich, wie der tote Körper Leben erhalten kann, weshalb angenommen wurde, dass die Lebenskraft als etwas Zusätzliches zur toten Materie dazukommem müsse, um die Lebensvorgänge anzutreiben. Für diese Lebenskraft steht in der Theosophie der Aetherleib). Der Astralleib trägt die Gefühle und kann als Aura sichtbar werden. Ueber dem Astralleib steht der Mentalleib, oder das Ich, wie es Steiner später bezeichnet, als der eigentliche Kern der Persönlichkeit, als Verstand und Bewusstsein. Nach dem Tod lösen sich diese verschiedenen Leibe nacheinander auf, bis nur noch das Ich übrigbleibt.

4. Blavatsky übernimmt aus den östlichen Religionen den Gedanken der Reinkarnation. Sie wandelt diesen aber ab, indem sie ihn mit der zeitgenössischen Idee der Evolution verbindet.

Während die östlichen Religionen von einem Kreislauf der Geburten sprechen, in welchem sich Leben als Mensch, Tier, Gott, Höllenwesen, Geist beliebig abwechseln, geht Blavatsky mit der Evolutionstheorie von einer stetigen Höherentwicklung aus. Wer einmal Mensch ist, kann nicht mehr Tier werden. Er kann sich nurmehr weiterentwickeln oder, im schlimmsten Falle, stehenbleiben. Die Tiere beinhalten Seelen von Wesen, die auf der Menschheitsentwicklung stehengeblieben sind. Aus den östlichen Religionen übernimmt Blavatsky den Begriff des Karma: Was wir tun, hat Wirkungen auf unser nächstes Leben. Oder um es etwas salopp zu sagen: Was wir anrichten, müssen wir ausbaden.

5. Die Entwicklung der Erde. In theosophischer Sicht entwickelt sich nicht nur der Mensch, sondern die ganze Erde. Auch die Erde erlebt, wenn man so sagen darf, verschiedene Inkarnationen, bei Steiner dann planetarische Verkörperungen genannt. Wir befinden uns in der vierten von sieben dieser Phasen. In jeder Phase entwickelt die Menschheit einen Seelenteil, zuerst den physischen Körper, dann den Aetherleib, den Astralleib und schliesslich, auf unserer Erde, das Ich. Die Geschichte unserer Erde wird im Rahmen der Theosophie sehr phantasievoll erzählt. Sieben Wurzelrassen sollen einander ablösen, die polarische, die hyperboräische, die lemurische, die atlantische und unsere fünfte, die arische Wurzelrasse. Zwei weitere werden folgen. Diese Wurzelrassen gliedern sich in Unterrassen: die arische Wurzelrasse gliedert sich in die indische, die persische, die babylonisch-ägyptische, die griechisch-lateinische und die gegenwärtige, die germanisch-angelsächsiche Unterrasse. Steiner übernimmt dieses Schema, verzichtet aber auf die Begriffe "arisch" und "germanisch-angelsächsisch" und später auch auf den Rassenbegriff. Während all dieser Perioden muss sich der Mensch inkarnieren, weil es immer wieder etwas Neues zu lernen gibt, das für die weitere Entwicklung wichtig ist.

6. Die Hierarchien. Der Mensch ist nicht die höchste Lebensform. Andere Wesenheiten sind ihm in seiner Entwicklung voraus. Sie bilden die verschiedenen Engelshierarchien. Der Mensch wird, in der nächsten planetarischen Verkörperung, ebenfalls zu einem engelartigen Wesen werden.

Rudolf Steiner übernimmt dieses Weltbild und beginnt sehr bald, Vorträge über die theosophische Weltanschauung zu halten, und auch diesbezüglich zu publizieren.

 

Steiner als Theosoph

Steiner macht als Theosoph schnell Karriere. Im Jahr 1902 wird Steiner Generalsekretär der deutschen Sektion der theosophischen Gesellschaft.

1904 erscheint sein Werk "Theosophie", in welchem Steiner grundlegende Lehren der Theosophie darstellt. Im selben Jahr beginnt Steiner mit einer Artikelreihe "Aus der Akasha-Chronik", in welcher Steiner von dem berichtet, was er in der Geisteswelt, nun eben Akasha-Chronik genannt, sieht. So berichtet er hier Details über das Leben zur Zeit der atlantischen Wurzelrasse, Berichte, die heute äusserst phantasievoll wirken.

Im Jahr 1905 gibt Steiner seine Beschäftigung bei der Arbeiterbildungsschule auf. Seine Vortragstätigkeit nimmt ihn nunmehr vollzeitig in Anspruch.

1909 erscheint Steiners Werk: "Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten?" Hier legt Steiner den Weg dar, wie die Erkenntnisse, die Steiner in der Geisteswelt macht, erlangen kann. Steiner meint, mit diesem Werk eine Methode vorgelegt zu haben, wie jeder Mensch zu den gleichen Erkenntnissen, wie sie Steiner hat, kommen kann, so dass es sich um eine wissenschaftliche Methode handeln würde. Dass die Anthroposophie Wissenschaft sein will und nicht Religion, gründet sich auf diesem Anspruch, der allerdings von der Anthroposophie selbst kaum eingelöst wird. Es bleibt Steiner allein, dem sich die höheren Welten, die geistige Welt erschliesst.

 

Die Anthroposophische Gesellschaft

In den folgenden Jahren kommt es zum Bruch Steiners mit der Theosophie. Grund ist die unterschiedliche Einschätzung der Bedeutung des Christentums. Die damalige Leitung der theosophischen Gesellschaft, Annie Besant und Charles Leadbeater, vertreten eine christentumskritische Position, Jesus gilt als ein Meister unter vielen, ja z.T. wird gar dessen Existenz bestritten. Stattdessen wird der indische Junge Krishnamurti als der kommende Christus resp. buddhistisch ausgedrückt Maitreya dar- und vorgestellt.

Steiner hingegen will daran festhalten, dass um Jesus Einmaliges geschehen ist. Er sieht in Christus eine hohe Wesenheit, die sich mit Jesus von Nazareth anlässlich der Taufe durch Johannes am Jordan vereinigt hat und bis zur Kreuzigung in Jesus weilte. Der Tod Jesu wird für Steiner als das "Mysterium von Golgotha" zum entscheidenden Ereignis der Weltgeschichte. Dieses "Christus-Ereignis" stoppte die fortschreitende Verfestigung der Erde und machte eine neue Vergeistigung möglich. Es stellt somit den Angelpunkt der Erdentwicklung dar. Christus wird zum entscheidenden Wesen in Steiners Theosophie, die damit eine Art "christliche Theosophie" wird. Steiner kann in dieser Zeit der Auseinandersetzung mit der hinduistisch geprägten Theosophie Annie Besants auch die Ueberlegenheit des Christentums über andere Religionen betonen.

Steiner und ein Grossteil der deutschsprachigen Zweige der Theosophischen Gesellschaft lösen sich von der Theosophie und konstituieren sich am 3. Februar 1913 in Berlin zur "Anthroposophischen Gesellschaft". Im englischsprachigen Bereich bleibt Steiner hingegen einflusslos.

Im selben Jahr wird in Dornach der Grundstein zum Goetheanum gelegt, das als Zentrum der Anthroposophie dienen soll. Die Arbeit geht während des ersten Weltkrieges weiter. Daneben kann Steiner an verschiedenen Gebäuden in Dornach seine originellen architektonischen Ideen umsetzen.

1914 heiratet Steiner Marie von Sivers, nachdem seine erste Frau anna 1911 verstorben ist.

 

Waldorf-Pädagogik und biologisch-dynamische Landwirtschaftsweise

Nach dem ersten Weltkrieg beginnt Steiners "grosse Phase". In den Jahren ab 1919 treten in Steiners Wirksamkeit die theosophischen Ideen eher in den Hintergrund, Steiner entwirft in diesen Jahren die Ideen, für welche die Anthroposophie auch heute noch berühmt ist: So die anthroposophische Medizin, die unter den Anbietern auf dem Markt der Alternativmedizin sich recht gut behaupten kann, Steiners Pädagogik, die zur Gründung einer ersten Schule für die Arbeiterkinder der Zigarettenfabrik "Waldorf-Astoria" in Stuttgart führt, nach welcher die anthroposophischen Schulen in Deutschland "Waldorfschulen" heissen. In der Schweiz werden die Waldorf-Schulen "Rudolf-Steiner-Schulen" genannt. Die Waldorf-Pädagogik nimmt vieles vorweg, was seither auch im staatlichen Schulsystem Einzug gehalten hat. Die Waldorfschulen erfreuten sich über Jahrzehnte eines grossen Erfolges, erst in den letzten Jahren nimmt die Schülerzahl allenthalben ab und erschienen ein paar ausnehmend kritische Werke von ehemaligen Waldorfschülern. In der Universitätspädagogik wird die Anthroposophie neuerdings nicht mehr berücksichtigt, da es ihr nicht gelungen ist, ihre Pädgogik über Steiner hinaus weiterzuentwickeln.

1920 wird das erste Goetheanum eingeweiht. In der Sylvesternacht 1922/1923 fällt es allerdings einem Brandanschlag zum Opfer. Für den heutigen Neubau kann Steiner nurmehr ein Modell beitragen.

Im Jahr 1922 legt Steiner die Grundlagen für die später so genannte biologisch-dynamische Landwirtschaftsweise, die die Erkenntnisse Steiners für die Landwirtschaft fruchtbar machen will. Steiners Hinweise zur Landwirtschaft nehmen, dies meint der Wortteil "biologisch", vieles vorweg, was seither in der biologischen oder ökologischen Landwirtschaft selbstverständlich geworden ist, so der Verzicht auf Kunstdünger und chemische Behandlung von Pflanzen, Früchten und Unkräutern. Dazu kommt aber als Typikum der anthroposophischen Landwirtschaft das "dynamische" Element, das geistige Kräfte in die Landwirtschaft einbringen will. Hierzu gibt Steiner Hinweise und Rezepturen, die auf Aussenstehende eher eigentümlich wirken und zum Teil altem Volksglauben entnommen sind. Ich zitiere den Anthroposophen Adolf Baumann: "Es mutet teilweise fast wie mittelalterlicher Aberglaube und alberner Hokuspokus für Leichtgläubige an, was Steiner seinen Zuhörern über die Zubereitung der erwähnten Präparate wie über Unkraut- und Ungezieferbekämpfung zumutete, doch hat ihm der Erfolg offensichtlich recht gegeben.

1928 wird die Demeter-Verwertungsgenossenschaft, heute Demeter-Bund begründet, die biologisch-dynamisch erzeugte Produkte absetzt.

 

Die Christengemeinschaft

Im selben Jahr 1922 wird die "Christengemeinschaft" als religiöser Flügel der Anthroposophie unter Friedrich Rittelmeyer begründet. Steiner selbst wird nicht Teil der Christengemeinschaft, weil seine Anthroposophie ja Wissenschaft, nicht Religion sein will. Dennoch entwirft Steiner den Kultus der Christengemeinschaft bis ins Detail hinein. Die Christengemeinschaft ist so in jeder Hinsicht Steiners Werk. Dabei liegt der Christengemeinschaft ein durch und durch ritualistisches Verständnis des Christentums zugrunde, worauf es ankommt, das ist der Kult, die Messe in katholischer Tradition, die allerdings in Menschenweihehandlung umbenannt wird. Die protestantische Idee des Vorrangens des Wortes vor dem Kult wird scharf abgelehnt. Dabei geht es in Steiners Verständnis des Christentums nicht um Erlösung des Menschen, sondern um die Gewährung der Selbsterlösung. Ein stellvertretendes Opfer ist ausgeschlossen. Jeder muss seine Sünden nach dem Karmagesetz selbst büssen.

Die Bibel ist als "Urkunde" von Interesse, Glaubensbasis kann sie aber nicht sein. Basis ist vielmehr die "geisteswissenschaftliche" Forschung, also das Werk Rudolf Steiners.

Die Christengemeinschaft kann in den folgenden Jahren einigen Erfolg verzeichnen, wobei sich aber lange nicht alle Anthroposophen dieser anschliessen. An den Steinerschulen existiert deshalb neben dem Religionsunterricht der Kirchen und der Christengemeinschaft auch ein freier anthroposophischer Religionsunterricht.

Am 30. März 1925 stirbt Rudolf Steiner. Als Vorsitzender der Anthroposophischen Gesellschaft findet er Nachfolger (Albert Steffen), als Seher der Geisteswelt nicht. Anthroposophie ist seither ganz wesentlich Auslegung von Steiners Worten und deren Anwendung. Eigene Forschung in den höheren Welten, wie sie Steiner eigentlich vorgesehen hat, wird nicht betrieben.

 

Ist die Anthroposophie christlich?

Die Frage, ob die Anthroposophie als christlich bezeichnet werden kann, wird sehr unterschiedlich beantwortet.

- Die Anthroposophie selbst betont, christlich zu sein, ja die Form des Christentums darzustellen, die für unsere Zeit angemessen ist. Die Frage ist für Anthroposophen also nicht, ob die Anthroposophie christlich ist, sondern eher ob die Kirchen dies noch sind. Für den Protestantismus, insbesondere den liberalen, verneint Steiner die Christlichkeit.

- Manche landeskirchlichen Menschen, auch Theologen, sehen eine grosse Nähe zwischen Christentum und Anthroposophie. Die Lehren Steiners scheinen ihnen eine Möglichkeit zu sein, Christentum heute plausibel zu vertreten.

- Andere weisen darauf hin, dass die Anthroposophie die Bibel nicht als Grundlage kennt, wichtige Lehren des Christentums,etwa diejenige der Dreieinigkeit, verwirft und Lehren als wesentlich vertritt, die die Bibel nicht kennt, so die Theorie von Reinkarnation und Karma. Die Anthroposophie erscheint ihnen als westöstliche Mischreligion.

- Religionsgeschichtlich gesehen muss zum einen betont werden, dass Rudolf Steiner das Christentum ein grosses Anliegen war. Es ging Steiner darum, das Christentum durch die Zeit des Materialismus hindurchzuretten und auf eine neue, plausible Basis zu stellen. Steiner ist Christ, weil er Christ sein will.

Andererseits hat Steiners Fassung des Christentums mit biblischem Christentum tatsächlich sehr wenig gemein. Steiner verlässt die Grundlagen, die die verschiedenen christlichen Kirchen verbinden, die Bibel und das apostolische Glaubensbekenntnis, und ersetzt sie durch eigene Schau. Der Anspruch der Wissenschaftlichkeit dieser Schau ist nicht zu erhärten, solange Intersubjektivität und Reproduzierbarkeit der Erkenntnisse nicht gegeben sind.

Religionsgeschichtlich gesehen kann die Anthroposophie deshalb als christliche Neuoffenbarer-Gemeinschaft in theosophischer Tradition bezeichnet werden. Der Dialog zwischen Kirchen und Anthroposophie muss deshalb kein unfreundlicher sein. Die grossen Differenzen, die bestehen, sollten aber m.E. nicht voreilig überspielt werden.

Georg Otto Schmid, 1999


zurück zum Text im Normalformat

zur Uebersicht Anthroposophie

zur Relinfo-Grundseite

© 1999 gos / 2000 Infostelle