Evangelische Informationsstelle: Kirchen - Sekten - Religionen

Evangelikal oder liberal?

 

aus: Leben und Glauben Nr. 47, 20. November 1997

 

In unserer Kirchgemeinde wird immer noch über die Besetzung einer Pfarrstelle diskutiert. Für mich ist der Unterschied zwischen evangelikal und liberal nicht klar. Können Sie mir die Gegensätze zwischen diesen Gruppen darlegen?

H. R. in B.

 

Liberal und evangelikal charakterisieren in den evangelischen Kirchen nicht klare und deshalb auch nicht klar zu unterscheidende Positionen, sondern theologische Neigungen, Verkündigungsstile, Seelsorgerattitüden und Frömmigkeitstypen. Um mit dem letzten zu beginnen: Wenn Frömmigkeit der Versuch ist, im Gespräch mit Gott dieses Leben zu bestehen, sind beide auf ihre Weise fromm. Aber der liberale Christ behandelt seine Frömmigkeit mit äusserster Diskretion. Es freut ihn, wenn man über seine Frömmigkeit nicht spricht. Denn der echte Glaube macht von sich kein Aufsehen. Der evangelikale Christ hingegen möchte seinen Glauben bezeugen. Sein Glaube ist durchaus Gesprächsthema, manchmal zu passender und ab und zu auch zu unpassender Zeit. Dem evangelikalen Christen macht es in der Regel nicht viel aus, wenn die Andersdenkenden seinen Glauben und sein Zeugnis belächeln. Die Masse der Menschen versteht den Glaubenden nie. Zwischen dieser Masse der Ungläubigen und der kleinen Gruppe der wahrhaft Gläubigen unterscheidet der evangelikale Christ manchmal mit fast genüsslicher Selbstsicherheit. Er weiss, wer gläubig und wer ungläubig ist, oder er meint es zu wissen. Ganz anders der liberale Christ: Zwischen Glauben und Unglauben unterscheidet für sein Gefühl nur Gott. Sichtbare Unterschiede zwischen Gläubigen und Ungläubigen anerkennt der liberale Christ eigentlich keine, Nur Gott erkennt die seinen. Kurz - der liberale Christ könnte dem evangelikalen vorwerfen, dass er sich in seinem Urteil über Glauben und Unglauben übernimmt. Der evangelikale Christ könnte den liberalen fragen, warum er sich denn überhaupt noch Christ nenne, wenn zwischen Gläubigen und Ungläubigen anscheinend kein Unterschied mehr auszumachen sei. Im kirchlichen Leben betont der liberale Pfarrer in der Regel die Weite der Volkskirche und die Bedeutung der Kirche sogar für diejenigen, die sich selten bei ihr melden. Der evangelikale Pfarrer hingegen liebt zumeist das Leben in der engagierten und gläubigen Gemeinschaft, das Getragensein durch die kleinere oder grössere Schar derjenigen, die in Glaubensdingen wie er denken und empfinden. Was den Verkündigungsstil betrifft, versucht der evangelikale Christ das biblische Wort wenn immer möglich wörtlich ins gegenwärtige Leben zu übertragen. Manchmal versteht er sogar die biblischen Geschichten, die andere beinahe als Traumsymbole deuten, wie die Geschichte von Jona, der von einem Wal verschluckt wird, als effektives historisches Geschehen, ein Geschehen allerdings, das seine wahre Bedeutung erst im eigenen Leben entfaltet, dort nämlich, wo ich selber von meinem Wal (sprich: von meinen Problemen) verschluckt und wieder ausgespuckt werde. Manche evangelikale Pfarrer sind Künstler in biblischer Lebensnähe. Sie sehen die biblische Geschichte und das eigene Leben beinahe wie zwei Aspekte eines einzigen Geschehens. Ein weiterer Vorzug der evangelikalen Verkündigung ist im allgemeinen ihre Schlichtheit und ihre Volksnähe. Man muss nicht Philosophie studiert haben, um einen evangelikalen Pfarrer zu verstehen. Neben diesen Vorzügen sind aber auch die Grenzen dieser evangelikalen Verkündigung recht offenkundig: Der kritisch denkende Zeitgenosse fühlt sich in seinen Zweifeln vom evangelikalen Verkündiger manchmal völlig im Stich gelassen. Ganz anders verkündet der ausgesprochen liberale Pfarrer. Biblische Geschichte muss für sein Empfinden durchaus nicht einem historischen Geschehen entsprechen. Wesentlich ist ihr Symbolgehalt. Diesen Symbolgehalt löst der liberale Verkündiger aus der zeitbedingten biblischen Verpackung - je nach Neigung mit dem Tiefsinn eines Philosophen, mit der Inbrunst eines Moralwächters, mit der Weitsicht eines Literaten oder schlicht nur mit der Herzlichkeit eines Menschenfreundes. Kurz - das Herz des Normalbürgers wird durch die Botschaft des liberalen Predigers ermuntert und erfreut. Der evangelikale und sogenannt bibeltreue Predigthörer, der philosophischem Tiefsinn so wenig abgewinnen kann wie blosser Menschenfreundlichkeit, leidet unter der "Leere" und "Unverbindlichkeit" dieser liberalen Verkündigung und sucht und findet irgendwo einen wahrhaft gläubigen Prediger, der dann mit ihm und anderen Gleichgesinnten zusammen ein sogenannt verbindliches Christentum lebt. Sie stehen, lieber Herr R., vor einer Pfarrwahl. Wenn ich mir als Zusammenfassung des Gesagten noch einen Rat erlauben darf: Wählen Sie nicht grundsätzlich nur evangelikale oder nur liberale Pfarrer. Die Breite und die Lebendigkeit des christlichen Glaubens können unsere Gemeinden dort am besten erahnen, wo evangelikale und liberale Pfarrer brüderlich miteinander wirken. Wählen Sie das theologische Muster, das in Ihrer Gemeinde noch fehlt. Dieses Miteinander aller aber ist nur möglich, wenn alle ihren Standpunkt und ihre Neigungen nicht überbewerten. Wählen Sie Theologen, die ihre eigene Theologie noch belächeln können, und wählen Sie nie einen Pfarrer, der zur Selbstüberschätzung neigt.

 

Georg Schmid


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