Göttin und Grüner Mann Tempel Winterthur / Pure Heart Center

Louisa Bernet, Februar 2020

Die alte Treppe knarrte unter unseren Füssen, als wir in das zweite Stockwerk zum Pure Heart Center in einem Gebäude der Winterthurer Altstadt hinaufstiegen. Die Priesterin Stephanie Schudel wartete bereits erwartungsvoll vor dem Eingang zum Göttin und grüner Mann Tempel und begrüsste uns mit einer Umarmung. Sie hat lange blonde Haare, ist relativ klein und ein richtiges Energiebündel. Wir zogen unsere Schuhe und Jacken aus und betraten den Tempel, in dem sich der Mond-Zirkel für Frauen, der jeweils in der Vollmondwoche stattfindet, ereignen würde.

Im ersten Raum des Tempels standen bereits zwei ältere Damen. Dieser Bereich war reichlich geschmückt und gemütlich eingerichtet. Zahlreiche Kissen bedeckten das helle Sofa. Die violetten Wände und der kuschelige weisse Teppich fühlten sich beruhigend an. Rechts neben dem Eingang stand ein Regal, auf welchem verschiedene Produkte, wie Aura-Sprays, zum Verkauf angeboten wurden. Den eigentlichen Blickfang bildeten jedoch die acht farbigen Bilder der Göttin, die in regelmässigen Abständen an den vier Wänden des Raumes aufgehängt waren. Der anhängende zweite Raum des Tempels, welcher jeweils dem Jahreszyklus entsprechend geschmückt worden war, war leergeräumt. Stephanie erklärte uns mit grosser Freude, dass sie Anfangs April in grössere Räumlichkeiten umziehen würde. Dort könne sie der Nachfrage entsprechend arbeiten und sich richtig austoben.

Stephanie bat uns, sich dem Alter nach in den Zirkel zu platzieren. Die beiden älteren Damen nahmen auf den beiden Stühlen Platz, wir Jüngeren setzten uns auf die bereitgestellten blauen Kissen am Boden. In der Mitte des Kreises befanden sich ein rotes Tuch, eine rote Kerze und diverse Steine, sowie verschiedene Figuren der Göttin. Ein Krug voll Wasser, mit energetisierenden Edelsteinen besetzt, stand vor mir. Ein Kissen am Boden war noch frei. Um 19 Uhr traf eine letzte Frau ein, welche wie wir, das erste an einer Veranstaltung dieser Art teilnehmen würde. Stephanie hiess uns im Mond-Zirkel willkommen, welcher uns in unserem Frausein bestärken sollte.

Als wir alle im Kreis sassen, präsentierte uns Stephanie den Plan für den heutigen Abend. Kurz vor Beginn hätte die Göttin ihr eine Planänderung eingeflüstert, sodass sie diesen ziemlich spontan hätte umändern müssen. „Ich hasse, wenn sie das macht“, sagte Stephanie mit einem lauten, ansteckenden Lachen. Am Mond-Zirkel wird zuerst eine Spirale auf die Stirn jeder Teilnehmerin gemalt. Die Kreisälteste begann und zeichnete mir, als Kreisjüngste, mit Tonerde eine Spirale auf die Stirn. So ging es im Kreis herum weiter, bis alle sechs Frauen bemalt waren. Die Spirale bedeute das Unendliche und komme in der Natur überall vor, erklärte uns Stephanie.

Gewappnet mit der Spirale auf der Stirn, setzten wir den Mond-Zirkel fort, indem Stephanie, zu Gunsten der drei erstmaligen Teilnehmerinnen, die Grundsätze ihres Glaubens erklärte. Dieser dreht sich um die Göttin, als kreative, nährende Energie im Herzen des Universums, und den mythischen Ort Avalon, welcher vor allem aus dem Sagenkreis um König Arthur bekannt ist. Durch die Entstehung des Christentums und des Patriarchats sei die Verehrung der Göttin völlig untergegangen.

Laut Stephanie befindet sich Avalon in Glastonbury in England. Avalon sei eine paradiesische Insel, in welcher die Lady of Avalon als Göttin lebe. Dass die Lady of Avalon in Glastonbury ihr Zuhause hat, sei an der Landschaft, bestehend aus vielen Hügel und Tälern, zu erkennen. Stephanie hat ihre Ausbildung zur Priesterin im Göttinnen Tempel in Glastonbury gemacht und beschreibt den Ort als absolut magisch.

Der Jahreszyklus des Tempels ist nach den acht Archetypen der Göttin gerichtet. Diese waren in den, an den Wänden hängenden, Bildern dargestellt. Die Göttin ist „vierfaltig“ und kennt somit die Erscheinungsformen Jungfrau (Maiden), Liebende (Lover), Mutter (Mother) und das alte Weib (Crone). Der Dreifaltigkeit aus der Wicca-Bewegung wurde somit die vierte Erscheinungsform „Liebende“ hinzugefügt, was im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Entwicklung des durchschnittlich späteren Gebäralters der Frau stehen könnte.

Jeder der acht Archetypen ist ein Fest zugeordnet: Imbolc, Frühling Tagundnachtgleiche, Beltane, Litha, Lammas, Herbst Tagundnachtgleiche, Samhain und Yule. Diese Feiertage entleiht Stephanie ebenfalls der Wicca-Bewegung. Die acht Erscheinungsformen entsprechen zudem jeweils einer Himmelsrichtung, sodass die Bilder der Göttin übereinstimmend im Tempel aufgehängt wurden. Die „Vierfaltigkeit“ wird in vier Darstellungen ausgedrückt. Die vier restlichen Archetypen sind den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft zugeordnet worden.

 

Unser Mond-Zirkel ereignete sich zwischen Imbolc und der Frühling Tagundnachtgleiche. Somit würden wir momentan die „Maiden Goddess“ besonders stark fühlen, erklärte uns Stephanie. Sie zeigte dabei auf das Bild, das im Nord-Osten des Raums hängte. Die Göttin war mit flammend roten Haar abgebildet, hielt die Sonne über ihrem Kopf in ihrer linken Hand, Feuer in der rechten Hand auf der Höhe ihres Herzens und trug auf ihrem Körper zahlreiche Schneeglöckchen. Zu ihren Füssen sass ein weisser Schwan, über ihr ein heulender Wolf und eine Kuh. Diese drei Tiere werden mit dem Archetyp Jungfrau der Göttin assoziiert.

Stephanie erklärte uns daraufhin die Bedeutung der Maiden. Die Maiden oder Jungfrau verkörpert das innere Kind von 7 bis 14 Jahren der Göttin. In dieser Zeit ist die Göttin wild, spielt, tanzt, macht was sie will und ist sich selbst, egal was andere davon halten. Die Maiden wird somit auch als die innere Wolfsfrau beschrieben. Die Schattenseite der Maiden ist ihre zickige Art und ihr mangelndes Selbstvertrauen, das ihr oft abspricht, etwas erreichen zu können. An diesem Vollmond sei es oftmals der Fall, dass das innere Kind die Überhand gewinnt und die gesamte Verantwortung im Leben von uns erwachsenen Frauen übernimmt.

Nach dieser Einführung in die Göttin, Avalon und den Archetyp „Maiden“, forderte uns Stephanie dazu auf, unsere innere Gefühlswelt dieser Vollmondzeit zu erforschen. Im Kreis herum, eine nach der anderen, teilten wir einander unsere Gedanken und Gefühle mit, wobei die Kreisälteste wieder anfing und ich, als die Kreisjüngste, das Wort zuletzt ergriff. Die Frau die gerade erzählte, hielt jeweils einen reichlich dekorierten Holzstab in den Händen. Die Erzählungen waren emotional und sehr persönlich. Durch die Anwesenheit Frauen verschiedener Generationen kamen Ängste und Sorgen völlig verschiedener Art zum Ausdruck. Diese reichten von der Angst älter zu werden, und dem plötzlichen Tod enger Freunde, zu Erinnerungen an traumatische Geburten und der Angst des Antritts einer Weltreise alleine.

Stephanie forderte uns dann dazu auf, die Augen zu schliessen und eine bequeme Position einzunehmen. Ich schloss meine Augen und lag auf den Boden. Mit ihrer angenehmen, beruhigenden Stimme und entspannender Hintergrundmusik, führte Stephanie die darauffolgende Meditation. So sollten wir uns einen Ort vorstellen, an dem wir uns wohl fühlen würden und unser inneres Kind an diesem Ort treffen. Dabei sollten wir mit dem Kind reden und es dazu auffordern, Erinnerungen und Gefühle, welche an diesem Vollmond wieder aufgearbeitet werden würden, uns mitzuteilen. Zum Schluss sollten wir das Kind, falls erwünscht, umarmen.

Wir öffneten die Augen wieder und erzählten uns der Reihe nach, wie die Begegnung mit dem inneren Kind verlaufen war. Auch dieser Teil war sehr emotional, da Kindheitstraumata angesprochen wurden, die einer wildfremden Person sonst wahrscheinlich nicht angetraut werden würden. So erzählten wir einander von kriegsbedingten Fluchten aus der Heimat, von Mobbingvorfällen in der Schule und elterlichen Verlusten. Es fühlte sich dabei ein wenig wie eine Selbsthilfegruppe an, in welcher die Frauen verschiedener Generationen einander ein Ohr liehen und aufmerksam aufeinander eingingen.

Nach einer kurzen Pause erhielten wir von Stephanie die Aufgabe, einen Brief an das innere Kind zu schreiben. Das innere Kind nimmt Stephanie zufolge, in der Zeit der Maiden Goddess oft das Zepter. Das Ziel des Briefes war, zu erklären, dass wir, als erwachsene Frauen wieder die Verantwortung für unser Leben übernehmen würden. Wir alle schrieben konzentriert unsere Briefe, welche uns Stephanie zu einem unbekannten Zeitpunkt zuschicken wird.

Zum Abschluss teilten wir unsere Eindrücke der letzten 2.5 Stunden miteinander. Dabei gingen wir wieder dem Alter nach und hielten während dem Reden den Holzstab in den Händen. Alle sechs Frauen bedankten sich für den Zirkel und fühlten sich ruhig und entspannt. Ich war für einen Abend in die Welt der Göttin eingetaucht und fand es enorm interessant. Vor allem Stephanies Einführung in ihren Glauben war spannend gewesen, der mir als neuartiger Synkretismus verschiedener Weltbilder, wie der Wicca-Bewegung oder neukeltischer Organisationen, erschien. Anschliessend war die Göttin nur noch in Form der Maiden Goddess und dem „inneren Kind“ Thema gewesen. Dieser zweite Teil zwang die Teilnehmerinnen dazu, sich mit sich selber auseinanderzusetzen. So erschien mir der Abend ein wenig wie eine Austauschrunde zwischen Frauen verschiedener Generationen, in welcher Erinnerungen aus der Kindheit aufgearbeitet wurden und eine kraftvolle und positive Wirkung auf die Teilnehmerinnen ausgeübt hatte. In Stephanies Worten sollten wir mithilfe des Mond-Zirkels wieder lernen, unser eigenes Königinnenreich zu regieren.

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