Nichiren (der "Sonnenlotus") wurde am 21.März 1222 als Yakuomaru in Kominato in der Provinz Awa, der heutigen Präfektur Chiba, einem kleinen Fischerdorf in der Nähe des heutigen Tokyo, geboren. Sein Vater, aus adligem Geschlecht stammend, lebte im Fischerdorf als Flüchtling und ernährte seine Familie vom Fischfang. Schon drei Kinder hatte die fromme Mutter geboren. Im Traum sah sie - so will es die Legende - vor der Geburt ihres vierten Kindes, die Sonne auf einem Lotus in ihren Leib einziehen. Der wissbegierige und lernwillige Junge wurde schon mit elf Jahren dem Kiyosumi-dera Tempel, einem Tempel in der Nähe, übergeben. Hier kam der Novize mit Shingon Mystik (1) und Tendai Philosophie (2) in Berührung. (Diese beiden Schulen standen sich sehr nahe). Mit 12 Jahren wünschte er sich in einem Gebet, der weiseste Mann Japans zu werden (3). Als Novize wurde er von Ekstasen und Visionen heimgesucht. Alles, was er beobachtete und erlebte, verband sich mit seiner Religiosität. Die politischen Wirren der Gegenwart und das unterdrückte Volk erlebte er als Früchte religiöser Verwirrung. Wo fand sich unter den vielen buddhistischen Schulen die eine, die die Verwirrung und die Not beenden würde? Und wo fand sich unter den zahllosen heiligen Texten das eine Sutra, das weiterhalf?
Er bat den Bodhisattva Akashagarbha, ihm den rechten Weg zu weisen, verliess 1241 sein Heimatkloster und studierte in Kamakura, auf dem Hiei, in Nara und auf Koya die wichtigsten Sutras und die Lehren der verschiedenen buddhistischen Schulen. Nach langem Suchen entdeckte er verborgen hinter allen buddhistischen Lehren und Sutren, altvertraut, aber immer wieder missverstanden, die eine, entscheidende Wahrheit des Lotus-Sutra, das er schon in seiner Jungend als Tendai-Novize als die entscheidende Schrift kennen gelernt hatte. Aber erst nach Jahren eigenen Suchens hatte dieses Wissen um die eine Wahrheit dieses einzigen wesentlichen Sutras in ihm die Kraft einer eigenen Erleuchtung erlangt. Das Tor ins intensive eigene Erleben der alt vertrauten Erkenntnis hatten ihm wahrscheinlich kaum bewusste Anleihen aus dem vom ihm radikal abgelehnten Amida-Glauben (4) und dem Shingon-Buddhismus aufgestossen. Die Liebe zum als Mantra endlos wiederholten Titel des Lotus Sutra "Nam myoho renge-kyo" ("Verehrung dem Lotus-Sutra") erinnert nicht zufällig an die Nembutsu-Praxis des Amidabuddhismus (5) und an die Shingon-Mantra-Praxis. Ob aber mit oder ohne Anleihen bei seinen Gegnern - jedenfalls hatte sich Nichiren in einen Propheten der einzigen Wahrheit verwandelt, jener Wahrheit, die als einzige dazu geeignet war, die düstere Gegenwart seiner Heimat zu verändern. Er kehrte 1253 ins Kloster seiner Knabenjahre zurück, erlebte frühmorgens die über dem Meer aufgehende rote Sonne und schrie mit der Inbrunst des von seiner Wahrheit bedingungslos Ergriffenen sein "Nam myoho renge-kyo" in den mystisch empfundenen Morgen. Er hatte das Mantra gefunden, das von nun an allen Menschen das Tor zur Buddhaschaft aufstossen sollte.
Seine Ergriffenheit verband sich gleichzeitig mit einem derart
radikalen Nein zu allen anderen, vorläufigen, verfehlten und
irreführenden Wegen, dass die Reaktion unter seinem Publikum
nicht ausbleiben konnte. Man schimpft nicht ungestraft den damals
überaus populären Buddhismus des reinen Landes einen
direkten Weg in die Hölle, den Zen-Buddhismus eine dunkle
Lüge des Teufels und die Shingon-Schule einen undankbaren Dieb,
der das Land verflucht (6). Nichiren musste fliehen.
Er ging nach Kamakura und erlebte dort Jahre voller politischer
Wirren und Hungersnöte. Er zog sich in die Einsamkeit
zurück und schrieb dort sein "Rissho Ankoku-rou", seine
"Aufrichtung von Gerechtigkeit und Sicherheit für die
Nation."
Er sparte in seinem Werk nicht mit beissender Kritik zumal an der
Lehre von Honen (1133-1212) , einer Leitgestalt des Amida-Buddhismus
.Sie ist schuld an der Blindheit der Massen. Das gegenwärtige
Unglück wird aber noch durch schrecklichere Ereignisse
abgelöst werden: Fremde Truppen werden das Land erobern. Nur die
Umkehr zur vollkommenen Wahrheit des Lotus-Sutra kann dieses
Unglück noch abwenden.
Nichiren sandte seine Schrift der Regierung und predigte seine
Erkenntnis auf Strassen und in Parks. Die Öffentlichkeit schlug
zurück. Nichiren musste wieder fliehen. Nach einem Jahr kehrte
er wieder zurück und wurde verhaftet. Nichiren sah sein
Märtyrertum im Lotus-Sutra vorausgesagt: Der wahre Bodhisattva
wird verfolgt werden.
Im April 1263 kehrte er ein weiteres Mal nach Kamakura zurück
und wurde von seinen Anhängern, die inzwischen auch verfolgt
wurden, begeistert begrüsst. Er besuchte seine im Sterben
liegende Mutter. die dank seinem Besuch überraschend genas. Auf
dem Rückweg nach Kamakura wurde er überfallen. Zwei
Begleiter wurden umgebracht. Er entkam seinen Feinden nur an der
Stirn verletzt.
1268 forderte Kublai Chan, der Mongolenherrscher, der China und Korea
unterworfen hatte, nun auch von Japan Tribut. Nichiren zeigte den
Regierenden, dass seine Prophezeiungen sich nun erfüllten. Als
letzte Chance für Japan sah er wieder die Lotus-Wahrheit, so
erkannt und so ergriffen, wie er es vorlebte. Vor allem seine
radikale Kritik an den anderen, den irreführenden Schulen,
trugen ihm neue Feindschaft ein. Als er dem Regenten in Kamakura auch
voraussagte, dass er in der Hölle landen werde, wurde er im
Oktober 1271 verhaftet. Bei seiner Verhaftung rief er: "Ich bin der
Tragbalken des Landes. Wenn ihr mich vernichtet, stürzt der
Pfeiler." (7) Er wurde verbannt, sollte aber auf dem
Weg in die Verbannung hingerichtet werden. Auf einer Matte knieend
erwartete er, dass der Scharfrichter ihm den Kopf abhieb. Da zeigte
sich "etwas Helles, wie ein Feuerball" am Himmel (wahrscheinlich ein
Meteor). Entsetzt verzichtete der Henker auf die Hinrichtung.
Auf der Insel Sado, wohin er nun verbannt wurde, verband sich die Erfahrung äusserster Entbehrung mit einem neuen, nochmals gesteigerten Wissen um seine Berufung. Alles wies daraufhin, dass er der im Lotus-Sutra angekündigte Jogyo-Bosatsu, der Enzeitlehrer war. Jede ihm bisher wunderbar zuteil gewordenen Rettung zeigte es: Er ist der Künder der Wahrheit in der Endzeit. Mit ihm und an ihm entscheidet sich das Schicksal der Menschen in düsterer Zeit. Zwar ist in allem, was ist, Buddha. Auch im verirrten und unerleuchteten Menschen ist Buddha. Aber der Verblendete kann nur vom Lehrer der Endzeit geführt zu seinem eigenen Wesen finden. Am 21.August 1273 malte Nichiren seine Erkenntnis im Stil eines Mandala, das die Beziehung des Buddha als der Wahrheit zu allen Wesen im Kosmos darstellt. Auch nach seinem Tod sollte dieses Mandala, als Gohonzon verehrt, dazu dienen, Menschen zu jener Erleuchtung zu führen, die sich in ihnen verbirgt. Die Verehrung des Gohonzon soll zusammen mit dem "Nam myoho renge kyo" nicht nur Menschen in der düsteren Endzeit vor den ärgsten Schrecken bewahren und ihnen wunderbare Errettung aus diverser Not schenken. Auf spiritueller Ebene betrachtet öffnet Nichiren als Lehrer der Endzeit die Tür in die befreiende, allgegenwärtige, unsichtbare Wirklichkeit. Im populären Bild gesprochen: In Tat und Wahrheit stehen wir alle seit Anbeginn und für alle Zeiten mit dem Buddha und den unzähligen Anhängern, Dienern, himmlischen und irdischen Wesen, auf dem Geierspitzenberg bei Rajagaha, auf jenem Berg, den das Lotus-Sutra über die irdische Geographie hinaushebt und zum Urberg stilisiert und auf dem dieses Sutra den Buddha die tiefste Buddhalehre entfalten lässt. Verwirrt durch falsche Lehren wissen wir nicht, wo wir in Wirklichkeit stehen. Aber vom wahren Endzeitmeister angeleitet betreten wir in eigenem Erleben den Geierspitzenberg, den wir in Tat und Wahrheit nie verlassen haben. So verband Nichiren eine von Mahayana-Mystik, speziell vom Tendai-Buddhismus, durchtränkte Weltsicht mit einfachster Mantratechnik und intensivem Mandalakult und begründete diese im Vergleich zu bisherigen Meditationstechniken radikale Vereinfachung des Buddhismus mit den besonderen Nöten und Anforderungen der apokalyptisch eingefärbten Gegenwart.
Aus der letzten Verbannung kehrte er 1274 zurück. Er erkannte
aber, dass die Erlösung Japans, wie er sie vorgezeichnet hatte,
noch in weiten Fernen lag, dass der Widerstand gegenüber seiner
Lehre ungebrochen war, und zog sich nach kurzer Zeit in die
Einsamkeit auf dem Berg Minobu zurück. Dort wirkte er weiter
für die Erlösung Japans. Am 9.Juni 1281 nahte die Flotte
der Mongolen mit der Absicht, Japan zu erobern. Am 16. August wurde
diese Flotte durch einen Sturm zerstört. Nichiren hatte die
Bedrohung vorausgesehen. Als nach dem 16.August die Priester anderer
Schulen die Zerstörung der Flotte der Wirksamkeit ihrer Gebete
zuschrieben und zu grossen Feiern ansetzten, konnte dies Nichiren
nicht akzeptieren. Nebenbei bemerkt: Seit dem 16. August 1281 spricht
Japan von "Kami-kaze", dem "Kami-Wind", der Japan als besonderes Land
schützt.
Auf dem Berg Minobu begann Nichiren, das wahre Land, das
Buddhakönigreich in Japan, vorzubereiten Die Mitte sollte auf
dem Berg Minobu liegen Die Lotus Wahrheit sollte dereinst Regierung
und Volk leiten. Dann könnte auch der heilige Stuhl, der Kaidan,
auf dem Minobu errichtet werden. Vorderhand erlebte Nichiren den
Minobu als seinen Geierspitzenberg. Das eschatologische Bild vom in
der Lotuswahrheit geeinten Japan weitete sich zuletzt in die Hoffnung
auf eine in dieser Wahrheit geeinten Welt aus, eine Welt, in der
Japan ebenso sehr die Mitte stellte, wie die Lotuswahrheit das
einende Band.
Im Herbst 1282 verliess Nichiren den Minobu, um in einem Heilbad
Heilung zu suchen. Er starb am 13.Otober 1282 unterwegs im Haus eines
Gönners in Ikegami.
Nach seinem Tod prägte nicht nur seine prophetisch,
endzeitlich und national geprägte Variante buddhistischer
Spiritualität seine breite Jüngerschar. Auch seine
Abneigung gegen alle möglichen Irrtümer lebte weiter und
führte in kurzer Zeit zu einer Auffächerung seiner Bewegung
in diverse, sich konkurrenzierende, missionarisch gerade unter dem
einfachen Volk aber zum Teil sehr erfolgreiche Organisationen.
Gerhard Rosenkranz fasst Nichirens Leben und Wirken zusammen in den
Ausruf und die Frage: "Nichiren - Heiliger, Prophet, Reformator!
Gleicht sein Leben nicht einem gewaltigen Trommelschlag, der in das
Dunkel seines Jahrhunderts fiel, seinem leidenden, irrenden Volk den
rettenden Weg zu weisen?" (8)
Gerade die prophetisch-endzeitliche Ausrichtung seines Lebens und
Denkens, die Exklusivität, mit denen er seine Erkenntnis gegen
alle anderen Varianten buddhistischer Spiritualität vertrat und
die eminente Bedeutung, die Japan in seiner Weltsicht spielte,
könnten aber auch zum Ausruf führen: Nichiren - was
für ein Prophet mitten unter Mystikern! Was für ein
Nationalist mitten in einer Philosophie, die alle Grenzen von Nation
und Volk transzendiert! Und was für ein exklusiver
Wahrheitsanspruch mitten in einer Spiritualität, die
grundsätzlich lieber nichts ausschliesst, sondern gerne alles
einschliesst! Nichiren - was für ein "unbuddhistischer
Buddhist"
1. Shingon-shu ("Schule des wahren Wortes" d.h. des Mantras) pflegt in Berufung auf den Buddha Vairocana und das Mahavairocana Sutra und das Vajrashekhara Sutra esoterischen Buddhismus mit grosser Vorliebe für Mandalas, Mantras (das Mantra "A" ist besonders bedeutsam) und für durch Einweihung zugängliche Mysterien. Dank dieser rituellen Mittel und der mit ihnen verbundenen meditativen Praktiken kann sich der Körper des Menschen in den Körper des Buddha verwandeln. In der Shingon-Schule finden sich manche Vorstellungen und Praktiken, die in ähnlicher Weise auch den tantrischen Buddhismus Tibets prägen.
2. Tendai-shu ("Schule der himmlischen Empore") nennt sich jene Variante des japanischen Buddhismus, die sich auf den chinesichen Meister Zhi-yi (538-597) beruft, der Abt in einem Kloster auf dem Berg Tiantai, südlich von Shanghai, war. Die Tendai-Schule versucht, die verschiedenen buddhistischen Schulen als verschiedene Stufen eines einzigen Erleuchtungsweges zu sehen. Das Lotus-Sutra dient in dieser synthetischen Betrachtung der buddhistischen Schulen als die Krönung und die Summe aller buddhistischen Lehrschriften. Zu den wesentlichsten Lehren der Tendai-Schule gehört die Erkenntnis, das alles, in der zugleich realen und leeren Welt der Erscheinungen, in seinem Kern Buddha-Natur ist. Tendai-shu war in der Heian-Zeit (794-1190) zusammen mit Shingon-Shu die einflussreichste buddhistische Schule. Die Gründer der wichtigsten "neuen" japanischen Schulen (Zen, reines Land, Nichiren) waren ursprünglich alle Tendai-Mönche.
3. Werner Kohler, Die Lotus-Lehre und die modernen Religionen Japans, 1962,181
4. Der sog. Amithaba-Buddhismus (oder Amida-Buddhismus oder "Schulen des reinen Landes") sieht in der schwierigen Phase der gegenwärtigen Welt ein intensives Vertrauen in den Amida Buddha als den probaten oder den einzigen Weg zur Erlösung. Wer Amida anruft, dem wird sich Amida zuwenden. Er wird den Gläubigen in der Todesstunde abholen und ihn ins reine Land, in ein Paradies im Westen, führen. Dieses reine Land ist das vorletzte Ziel, eine Art Vorstufe zum Nirvana, ein Bereich, in dem der Gläubige ans letzte heran reifen kann. Amida hilft dem Gläubigen nicht deshalb, weil der Gläubige sich besondere Verdienste erworben hätte, sondern allein, weil der Gläubige sich Hilfe suchend und vertrauensvoll ihm zuwendet. Der Amida-Buddhismus erinnert in mancher Hinsicht an christliche Spiritualität, vor allem an den evangelischen Glauben, weshalb nicht selten auch vom Amida-Glauben gesprochen wird. Der Amida-Buddhismus wurde im Verlauf der letzten Jahrhunderte in seinen verschiedenen Formen zur zahlenmässig bedeutendsten Variante japanisch-buddhistischer Spiritualität.
5. KDie äusserst populäre Anrufung des Amida mit der Formel: Namu Amida Butsu (Nembutsu), Verehrung dem Amida Buddha. Amida wird formelhaft und repetitiv angerufen. Dadurch gelingt es dem Gläubigen, seinen Geist einzig auf Amida auszurichten.
6. vgl. http://www2s.biglobe.ne.jp/%7Eshibuken/Nichiren/Frames/F20.htm
7. Gerhard Rosenkranz, Der Weg des Buddha, 1960, 308
8. Gerhard Rosenkranz, Der Weg des Buddha, 1960, 303
Georg Schmid, 2007
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