www.relinfo.ch

 
  Sonnentempler Ordre du Temple Solaire
  Uebersicht
  Religion als Sterbeübung
Ueberlegungen nach dem dritten Sonnentemplerdrama
aus: Informationsblatt Nr. 2/1997
Angstfrei leben?
Klugheit lehrt uns, allem Bedrohlichen und Gefährlichen nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen. Ist jede Gefahr gebannt, so würden wir - dies nimmt der Alltagsverstand gerne an - ein völlig angstfreies Leben geniessen. Dass diese alle Bedrohung vermeidende Klugheit ihr Ziel nie erreicht, liegt auf der Hand. Sterbliches Menschsein kann seiner Sterblichkeit nicht ausweichen. Was tut nun aber die Klugheit, wenn sie Aengsten nicht ausweichen kann?
Gemeinsam auf den Tod zugehen
Religion ist ein gemeinsamer Weg durch unsere geheimsten Aengste. Weil wir dem Tod nicht entrinnen, suchen wir uns nicht nur mit ihm abzufinden, sondern uns mit ihm vertraut zu machen. Ein grosser Teil des religiösen Lebens in allen religiösen Traditionen nimmt das letzte Abschiednehmen gedanklich und rituell vorweg. Meditation - vom indischen Yoga über die buddhistische Achtsamkeit zur christlichen Mystik des Mittelalters - übt das Loslassen. Ich trenne mich vom Vergänglichen und öffne mich in meiner inneren Wahrnehmung dem Ewigen oder doch dem, was sich mir zeigt, wenn das Vergängliche abfällt. Aehnlich verhält es sich mit den religiösen Ritualen. In der Taufe wird das Sterben des alten und die Geburt des neuen Menschen zeichenhaft vorweggenommen. In den rites de passage, den feierlich geschmückten Brücken von dieser in jene Phase meines Lebens, fehlt nie das Gefühl fürs jetzt schon erlebte Sterben. Aschiednehmen ist immer ein kleines Sterben. In der Nachfolge der Meister wird das Sterben des Menschen zur Wegleitung für den Schüler auf seinem eigenen letzten Weg. Der sterbende und auferweckte Christus begleitet Christen durchs letzte Tor. Der Erwachte, der Buddha, zeigt, wie die letzte Wegstrecke dieser irdischen Existenz zum endgültigen Erwachen wird.
Nur das Ich hat Angst
Sogar die nicht wirklich grossen, sondern nur aufgeblasenen Meister der Suggestion und der Hörigkeit, die persönlichkeitsmüden Zeitgenossen den Tod des eigenverantwortlichen Ichs anbieten, sehen im Tod des selbstbestimmten Ichs die beste Vorübung zum späteren körperlichen Sterben. Wer einmal schon zu sterben wusste, der hat sich mit dem nächsten Sterben schon angefreundet. Wer als selbständig denkendes und empfindendes Ich schon mit dem Gruppeneintitt gestorben ist, der kann als grundsätzlich schon Gestorbener in kollektiver hypnotischer Bedenkenlosigkeit in den körperlichen Tod gleiten. Wieso sollte der Tod den schon Toten erschrecken?
Das Ich loswerden
Der Drang, als Ich zu sterben, muss der Meister der suggestive Mystik nicht erst im Jünger wecken. Dieser Drank überkommt in Lebenskrisen beinah jedes überforderte oder sich überfordernde Individuum. In unserer spätaufgeklärten Zeit wurde mir von allen Seiten her susggeriert, dass ich bei klarer und konsequenter eigener Ueberlegung alle Probleme lösen kann, die sich mir in den Weg stellen. Wer selbständig denken kann, findet immer einen oder - genauer - seinen Weg. Dieses Dogma der zeitgenössischen Mündigkeit führt viele aufrechten Hauptes durch tausend kleinere oder grössere Probleme ihrer Existenz. Eines Tages aber - fürs eigene Empfinden schon lange vorgezeichnet, für die Mitmenschen oft völlig überraschend - kommt der Zusammenbruch. Das klar denkende und bisher so mündige Ich kapituliert. Das Dogma vom klaren eigenen Denken als Weg durch alle Probleme meiner Existenz erweist sich als aufgeklärte Lebenslüge. Klares eigenes Denken funktioniert nur bei entsprechender eigener emotionaler Stabilität. Wie soll ich noch denken, wenn mich Verzweiflung packt oder wenn mich von überallher Sinnleere anstarrt oder Ekel anfrisst? Das verzweifelte Herz entzieht dem Kopf die Bedingung der Möglichkeit für klares Denken. Probleme löse ich mit klarem Verstand, solange ich Probleme habe. Wenn ich nicht mehr nur Probleme habe, wenn die Probleme mich haben, dann sucht sich mein Empfinden völlig andere, völlig unaufgeklärte Wege der Problemlösung. Dann flieht meine Intutition aus allen Forderungen nach Eigenverantwortlichkeit und Mündigkeit in die Geborgenheit vor meiner Geburt. Als Embryo, in meiner fast perfekten Unselbständigkeit, da wurde ich noch von keinen Problemen gejagt. Wenn ich meine Geburt mystisch rückgäng mache und in diese Ureinheit zurückfinde, bin ich alle meine Probleme los.
Nur das Ich hat Probleme
Nur das Ich hat Probleme. Ohne Ich kein Probleme. Nur das Ich kann sterben. Ohne Ich kein Tod. Nur das Ich hat Angst. Ohne Ich keine Angst. Die sektenhafte Mystik der Gegenwart hebt die Geburt der eigenen Person so weitgehend wie nur irgend möglich auf. Sie setzt damit den ichmüden und ichfernen Menschen in eine einzigartige Angstfreiheit und Problemfreiheit. Das Leben wird zum kollektiven Traum, der nur dort endet, wo meine eigene Kritikfähigkeit wieder erwacht. Aber mein Hunger nach Harmonie und Problemfreiheit, die suggestive Kraft der Meister und die Kritikverhinderungsstrategien der Gruppe garantieren dafür, dass ich nicht mehr so leicht aus meinem Traum erwache.
Wer ichfrei lebt, möchte auch ichfrei sterben
Wer ichlos leben möchte, möchte auch in der Gruppe sterben. Im Sterben möchte ich mir das Beste, was mir mein Leben geschenkt hat, erhalten. Die grösste Gnade, die dem ichmüden Zeitgenossen zuteil wurde, war die Befreiung vom Ich im Leben der Gruppe, das Eintauchen im Kollektiv, das von allen Problemen der Mündigket entband. Wie schön, wenn ich mir dieses kollektive Erleben auch im Sterben erhalten könnte. Wer weiss, vielleicht könnte mich der körperliche Tod, dem ich allein entgegengehe, aus meiner Gruppengeborgenheit und aus meinem ichfreien Glück herausreissen. Plötzlich erschrecke ich. Und in meinem Erschrecken und meiner Angst bin ich plötzlich wieder ich. Seit ich zu meinem Meister und zu meiner Gruppe fand, hat diese Gruppe für mich und mit mir alle Probleme gelöst. Und ausgerechnet den Tod sollte ich nun als Einzelner durchleben? Mystische Kollektive sind auf kollektives Sterben hin angelegt. Allerdings - der Einzelne unternimmt nichts ohne den Meister. Der gemeinsame Transit findet erst dort statt, wo die Meister rufen.
Wann rufen die Meister?
Im Falle des Sonnentempels haben die Meister Jo di Mambro und Luc Jouret - beide ihrerseits wahrscheinlich von irgendwelchen himmlischen Meistern gerufen und geführt - in den letzten Stunden ihres Lebens wahrscheinlich nicht nur bereits sterbewillige Anänger auf ihrem letzten Weg mitgenommen, sondern auch halb bereite und halb zaudernde und zum Teil im Moment sich der letzten Reise verweigernde Sonnentempler in den Tod getrieben. Nach ihrem Tod sprechen die beiden Meister nun zusammen mit allen Meistern der esoterischen Ueberwelt möglicherweise durch ihre mediale Präsenz. Es ist gut vorstellbar, dass noch lebende Sonnentempler zu den verstorbenen Meistern auf medialem Weg Kontakt aufnehmen. Dass bei solchen "Kontakten" der letzte Wille dieser Meister, der gemeinsame Tod, für die noch lebenden Jünger zum neuen Programm wird, kann uns nicht verwundern. Botschaften aus dem Jenseits locken auch in anderen Gruppen nicht nur zur Gedankenreise über die letzte Grenze hinaus. Die hier Abgeschiedenen lassen mit ihren Botschaften aus ihrer lichten Höhe das graue Hier und Jetzt nur noch grauer und die letzte Reise oft nur noch erstrebenswerter erscheinen.
Der Weg der Eingeweihten
Es könnte aber auch sein, dass die beiden Meister noch zu ihren Lebzeiten für den innersten Kreis des Sonntempels eine Art suizidalen Staffetenlauf entwickelt haben. Unter den Eingeweihten auf höchster Stufe finden sich vielleicht immer solche, die ihren kollektiven Tod rituell vorbereiten. Sind alle vorbereitenden Riten durchlaufen, kann - offenbar immer verbunden mit der Wende zur nächsten Jahreszeit - als letzter Ritus die Reise ins Licht angetreten werden. Dass nach dem ersten grossen Sonntemplerdrama nun schon zweimal kleinere Gruppen nachgereist sind, lässt auf diese Möglichkeit schliessen. Wenn dem so wäre, dann würde sich auch jetzt schon wieder eine kleine Gruppe auf die nächste Reise vorbereiten.
Wohin ruft Christus?
Wenn die Meister ichmüde Zeitgenossen in lichtvolle Ueberwelten entführen, fragt sich, wohin Christus seine Jüngerinnen und Jünger ruft und führt. Ist die lichtvolle mythische Ueberwelt der Ort der Vollendung? Der Gott des biblischen Glaubens vollendet sein Werk nicht auf höheren Ebenen, sondern auf denkbar irdischer Ebene, in dieser Welt. Am Ende der biblischen Schriften, in der Johannesapokalypse, senkt sich das himmlische Jerusalem herab zu Erde. Christen sinnen nicht auf Aufstieg, sondern auf Herabkunft. Auch für Christen ist das Sterben und Auferstehen Christi eine Annäherung ans eigene Sterben. Aber wir sterben als Christen nicht, um aus dem enttäuschenden Hier und Jetzt zu entrinnen. Wir ziehen in eine jetzt noch verborgene, aber einmal in irdischer Konkretion sichtbar werdende neue Welt. Wir geben das Hier und Jetzt nicht einmal dort auf, wo wir es verlassen. Sonnentempler steigen zum Sirius auf. Christen lieben auch im Sterben diese von Gott erschaffene und zur Vollendung berufene Welt.
Das Ich muss nicht verschwinden
Was von der grossen Welt gilt, gilt im christlichen Glauben auch vom kleinen Ich. Auch das Ich wurde nicht, damit es verschwindet und sich auflöst in ein höheres Kollektiv. Auch Geburt geschieht nicht, damit sie später mystisch zurückbuchstabiert wird. Der Sinn der Geburt ist die Wiedergeburt. Der Sinn des Menschseins ist der neue Mensch. Das Ich wurde, damit es wirkliches, wahres Ich werde. Dass in Krisenzeiten das erschütterte Ich sich am liebsten in ein Kollektiv auflösen möchte, wer würde dies nicht begreifen? Aber der christliche Glaube sieht die Krise des Ichs nicht als Einladung zur Ichauflösung, sondern als Chance zur Wandlung. Das Ich wurde, damit es neues Ich werde. Deshalb ist für Christen auch das Sterben nicht das vorläufige oder gar endgültige Nein zum Ich als individueller Realität, sondern ein Weg mit Christus zu dem Ich, das nie mehr vor sich selber fliehen muss.
Georg Schmid, 1997
Letzte Aenderung 1997, © gs 1997, Infostelle 2000
zurück zum Seitenanfang