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  Rastafari
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  Rastafari - Befreiung aus Babylon
Seit es Menschen gibt - so steht zu befürchten - fühlen sich die einen als vollwertig und erleben sich andere als minderwertig. Die einen herrschen. Die anderen dienen. Die einen werden überschätzt und die anderen unterschätzt. Verehrung und Verachtung einzelner Menschen und Gruppen ist wahrscheinlich ein schwieriger Teil menschlicher Kultur. Sie gehören sozusagen zum System.

Biblische Modelle dieses Systems sind Ägypten und Babylon. An beiden Orten wurde im Bild der biblischen Erzählung das Volk Gottes gefangen gehalten und versklavt. Die gleichen biblischen Erzählungen schildern aber nicht nur das System und seine Menschenverachtung. Sie künden das Ende des Systems an. Das Volk zieht durch Moses geführt aus Ägypten aus. Das Volk kehrt heim aus der babylonischen Gefangenschaft. Die Erzählungen der Bibel sind seit Jahrhunderten für Menschen in jedwelcher Form von Sklaverei ein Ermutigung zur Befreiung, zum Auszug aus dem System, das sie gefangen hält.

Auf Jamaica mit seiner mehrheitlich schwarzen Bevölkerung lebte sich während Jahrhunderten das System als Versklavung des schwarzen durch den weissen Menschen trotz mancher Sklavenaufstände in vollen Zügen aus. Die Sklaverei wurde erst im 19. Jahrhundert abgeschafft. Geblieben sind soziale Unterschiede und in Teilen der schwarzen Bevölkerung das Gefühl, minderwertig zu sein. Und geblieben ist vor in den Köpfen und Herzen vieler vor allem auch das, was Bob Marley, der bekannteste Anhänger der Rasta-Religion, in einem seiner Lieder "mental slavery", "geistige Sklaverei", nennt. Das System lässt sich allein mit fortschrittlichen Gesetzen nicht aus den Köpfen und Herzen der Menschen verbannen. Um auch innerlich aus Ägypten auszuziehen und aus Babylon heimzukehren braucht es einen gemeinsamen Aufbruch, eine neues Selbstwertgefühl und eine von guten Visionen erfüllte Gemeinschaft. Es braucht neue Gesandte Gottes, wenn der Auszug aus Ägypten und die Heimkehr aus Babylon gelingen soll.

Auf Aussenstehende wirken die Leitgestalten der Rasta-Religion und die Visionen, zu denen die schwarzen Christen in Jamaica schon seit dem 19. Jahrhundert fanden, oft nicht nur "speziell", sondern gemessen am eigentlichen biblischen Wort geradezu skurril. Wenn aber wir Weissen die Propheten und Visionen der Schwarzen bloss mit Kopfschütteln und müdem Lächeln kommentieren, demonstrieren wir einmal mehr wieder unser Gefühl geistiger Überlegenheit. Also - skurril oder nicht: Die Visionen der "Sklaven" sind die Gebete ihrer Seele und ihre Propheten sind die "Gottgesandten" ihrer Herzen.

Schon im 19. Jahrhundert entwickelten schwarze Prediger in Jamaica einen eigentlichen "Äthiopianismus", eine schwärmerische Verehrung all dessen, was biblische Texte zu Afrika oder Äthiopien anmerken. Athiopien galt bis zur Besetzung des Landes durch die Truppen von Mussolini als das einzige Land Afrikas, das nie von Kolonialmächten besetzt war. Zu Beginn des 20.Jahrhunderts initiierte Marcus Moshia Garvey (1887-1940), ein Nationalheld Jamaicas, im Geist eines afrikanischen Nationalismus eine eigentliche "Zurück-nach- Afrika"-Bewegung. Alle Schwarzen sollten, um dem System zu entkommen, nach "Äthiopien" heimkehren, wobei "Äthiopien" für ihn Sinnbild war für das unverdorbene und freie Afrika schlechthin. Eine Schiffahrtslinie - 1919 von Garvey gegründet - sollte die Nachkommen der Sklaven ins verheissene Land zurückführen. Umstritten bleibt seine Prophezeiung: "Schaut nach Afrika, wenn ein schwarzer König gekrönt werden wird, dann ist der Tag der Erlösung nahe!" Ob diese Prophezeiung nun aber wirklich von ihm stammt oder nicht, jedenfalls griffen seine Anhänger in Jamaica diese Voraussage sofort auf, als 1930 der damalige äthiopische Prinz Ras Tafari Makkonnen als Haile Selassie I. zum Kaiser von Äthiopien gekrönt wurde. Nun stand plötzlich der Weg in die Freiheit den vielen Visionären weit offen: Sie kannten ihr Ziel, ihr verheissenes Land, und sie kannten den göttlichen Endzeitkönig, nach Melchisedek und Jesus die dritte Inkarnation Gottes, der wiedergekommene Jesus, der nun Harmagedon einleiten und den Himmel auf Erden errichten würde.

Selbstverständlich - das weiss der kritische Beobachter nur zu gut - entsprach Haile Selassie nur sehr bedingt der Rolle, die ihm seine fernen Fans, die Rastafaris in Nordamerika - zugedacht hatten. Er war - aus geringerer Distanz betrachtet - nicht selten auch ein gekrönter Despot. Für die Rastas aber war und ist er mehr eine Projektionsleinwand für ihre Wünsche, als eine reale Person. Als der Kaiser 1966 einmal Jamaica besuchte, stürmten die Rastas das Flugfeld, auf dem die "göttliche Inkarnation" eben erst gelandet war. Erschreckt zog sich der Kaiser wieder in die Maschine zurück. Von Ordnungskräften aus dem Flugzeug befreit wollte er sich zu den Erwartungen, die die Rastas ihm zugedacht hatten, auch gar nicht äussern. Mit oder eher ohne seine Zustimmung entwickelte sich also in Jamaica eine Religion, die ihn zum wiedergekommenen Jesus und zum Heilsbringer schlechthin erhob. Als er später zuerst alle Macht verlor und dann als Gefangener im eigenen Palast starb, gaben manche Rastafari den Glauben an die Göttlichkeit Haile Selassies auf. Andere bekennen sich weiterhin zu seiner Messianität.

Geblieben sind aber für alle Rastas in allen nur denkbaren Varianten einerseits die Liebe zum Gott, der aus der Sklaverei befreit, die Liebe zu afrikanischen Werten und zur afrikanischen Kultur, die Liebe zu den Deadlocks, den wilden "Löwenmähnen" der Männer, die sie angeblich sensitiver werden lassen. Die Deadlocks sind wie Antennen des Hirns nach allen Seiten hin ausgefahren. Dank der Deadlocks kann ihr Träger sogar Inspirationen von Jah (sprich Dschah, "Jahwe", Gott) wahrnehmen. Geblieben sind auch die drei Farben der Rasta-Religion: rot-gelb-grün, die gleichzeitig auch die Farben der äthiopischen Nationalflagge sind: Rot steht in der Deutung der Rastas für das Blutvergiessen und die Morde unter den schwarzen Sklaven, Gold für den Reichtum, den man den Afrika und den Sklaven gestohlen hat, und Grün für Äthiopien oder für Afrika schlechthin, für das gelobte Land, in das man heimkehren möchte. Geblieben ist auch im Kreis der Rastas das gemeinsame Rauchen von Marihuana, ein Ritus, der Gott im Menschen, in sich und den andern Rastas erleben lässt.

Wo bleibt nun aber - fragt sich der kritische Beobachter - der Aufbruch nach Afrika, ins das Land der Befreiung, in diesem gemeinsamen Marihuana-Rauchen? Die Heimkehr nach Afrika, während einiger Zeit unter Rastas mit Inbrunst angestrebt, kam trotz aller Visionen nicht über karge Anfänge hinaus. Wie kann man im Ernst alle nach Befreiung dürstenden Schwarzen in ihre afrikanischen Heimat zurückführen? Im Übrigen hat sich das System auch in Afrika schon gut etabliert. Man kann Babylon nicht mehr per Schiff Richtung Afrika verlassen. Man muss mitten im System aus dem System aussteigen. Genau dies versucht die neuere Rasta-Religion. Und genau dieser Ausstieg aus dem System mitten im System hat auch manche jungen Weissen in den letzten Jahrzehnten zu den Rastas geführt. Gemeinsamen üben seither schwarze und weisse Rastas - u.a. mit Marihuana - den Ausstieg aus dem System mitten im System.

Georg Schmid, 2006
Letzte Aenderung 2006, © gs 2006, Infostelle 2000
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