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  Berichte aus okkulten Organisationen: Phantasie oder Wirklichkeit?
Kriterien zur Unterscheidung echter und erfundener Geschichten
In den letzten Jahren sind okkultistische Organisationen und Praktiken auf zunehmendes Interesse gestossen. Die Zahl junger Menschen, welche sich mit spiritistischen Praktiken beschäftigen, sich im Rahmen eines sog. Protestsatanismus satanistischer Symbole und z.T. auch Rituale bedienen, um gegen die Gesellschaft zu rebellieren, oder auf die Kraft der Magie, z.B. nach den Empfehlungen der Neuen Hexen hoffen, ist stark angestiegen. Dabei hat der Jugendokkultismus in den letzten Jahren gerade auch das ländliche Milieu erreicht.
Parallel dazu können okkultistische Organisationen Erwachsener mit einem erhöhten Interesse rechnen, was nicht zuletzt zu einer deutlichen Vermehrung von deren Anzahl geführt hat. Beinahe täglich, so scheint es, präsentiert eine neuentstandene okkulte Organisation der okkultistisch interessierten Internet-Nutzerschaft ihre Lehren, Rituale, Embleme und ihr Schulungsweg samt Gradsystem.
Aus diesen Gründen sehr zu Recht fand der Okkultismus in den letzten Jahren eine erhöhte Aufmerksamkeit der Medien. Während sich manches, z.B. der Jugendspiritismus oder die vergleichsweise kommunikative Szene der Neuen Hexen, für den Zugriff der Medien durchaus eignet, stellt der Bereich weniger mitteilungsfreudiger okkulter Organisationen im heutigen Medienumfeld eine Knacknuss dar. Hier steigt der Recherchenaufwand erheblich an, und die schnellen Resultate, die das heutige Medienbusiness von der journalistisch tätigen Person erwartet, sind kaum zu liefern. Deshalb kann es nicht überraschen, dass sich in Publikationen und auch in elektronischen Medien eine Häufung von Berichten findet, die sich bei einer Prüfung im Nachhinein als nicht zutreffend erweisen. Es ergibt sich der Eindruck, dass wer auch immer eine bloss halbwegs ausgeschmückte Satanismus-Geschichte zu erzählen weiss, durchaus ein Medium findet, das bereit ist, seine Story zu verbreiten. Als Konsequenz daraus zeigt sich das Phänomen, dass Menschen mit dem Bedürfnis, eine horrible Geschichte zu erzählen, sich zunehmend auf das Gebiet okkulter Organisationen verlegen. Hier, so scheint es, kann ohne Gefahr des Auffliegens frei phantasiert werden - eine nur mässig informierte und das Schaurige schätzende Oeffentlichkeit glaubt alles.
Mit der Zunahme des Interesses an Okkultem ist so auch eine Zunahme erfundener Berichte aus angeblichen okkulten Organisationen verbunden. Es könnte nun eingewendet werden, dass für eine Okkultismus-Prävention die Verbreitung erfundener Geschichten nicht weiter schadet, solange diese so gestaltet sind, dass sie den Okkultismus genügend negativ darstellen. Dieser Einwand ist jedoch nicht gerechtfertigt. Zum ersten leidet die Glaubwürdigkeit der kritischen Berichterstattung, wenn ein Bericht nach dem andern als unzutreffend relativiert werden muss. Zum zweiten neigen erfundene Geschichten oft dazu, horribler zu sein als die Realität, so dass sie geeignet sein können, in der Oeffentlichkeit Aengste auszulösen, die nicht begründet sind. Zum dritten muss, wie uns die Geschichte lehrt, jede weltanschauliche Richtung so wahrgenommen werden, wie sie ist, nicht wie Horror-Phantasien völlig Unbeteiligter es sich vorstellen. Dieser durch unermessliches Leid erkaufte historische Lernschritt darf auch im Umgang mit hochproblematischen Gruppen nicht aufgegeben werden. So mag es zwar im seelsorgerlichen Kontakt mit einem angeblichen Opfer, dessen Geschichte nicht stimmen kann, sinnvoll sein, die Frage der Authentizität des Berichteten auszuklammern, vor einer Publikation muss diese aber beantwortet sein.
Infolge der zunehmenden Zahl von echten und falschen Berichten aus okkulten Gemeinschaften und insbesondere aufgrund der Tatsache, dass sich Erfahrungen in clandestinen Gruppen nur schlecht überprüfen lassen, scheint es sinnvoll, ein paar Merkmale herauszuarbeiten, die eine erste, schnelle Prüfung der Wahrscheinlichkeit eines Berichts ermöglichen. Selbstverständlich wird es nicht gelingen, ein Instrumentarium zu schaffen, dass bezüglich der Authentizität von Okkult-Geschichten absolute Gewissheit liefert. Eine solche ist, wenn überhaupt, nur durch intensive Prüfung des Einzelfalls möglich. Es sollen aber Charakteristika zusammengestellt werden, die bei der Frage helfen, ob eine solche intensive Prüfung sinnvoll, weil erfolgversprechend ist, oder ob die Geschichte mit hoher Wahrscheinlichkeit falsch und damit weiterer Aufwand vermutlich verlorene Liebesmüh' ist.
Es ist klar, dass bei solchem Vorgehen Geschichten, die einerseits aus einem - eher kleinen -realen Kern, andererseits aber aus reichlich ausschmückender Phantasie zusammengesetzt sind, als unplausibel durch das Raster fallen können. Hierbei ist aber zu bedenken, dass reale Geschichten in der Regel nur dann massiv durch Phantasie aufgepeppt werden, wenn der authentische Kern der berichtenden Person selbst recht banal scheint. Zudem eignen sich solche Mischgeschichten mit hohem Phantasie-Anteil für die Berichterstattung ebensowenig wie falsche, so dass ihr Ausscheiden kein Verlust ist.
Im folgenden sollen nun die typischen Merkmale echter und erfundener Geschichten dargestellt werden. Eine Häufung von Merkmalen erfundener Geschichten in einem bestimmten Bericht bedeutet, dass dieser höchstwahrscheinlich nicht auf effektiven Erfahrungen beruht, sondern aus eigener Phantasie (oder aus schon publizierten erfundenen Geschichten) geschaffen ist. Im Anschluss daran soll den möglichen Motiven fürs Erzählen einer erfundenen Okkult-Geschichte nachgegangen werden.
Je grösser die Gruppe, desto kleiner die Glaubwürdigkeit der Geschichte
Okkulte Gemeinschaften sind meist kleiner, als man denkt. Beim Zusammenschluss verschiedener okkulter und neuheidnischer Organisationen in Deutschland zu einem Dachverband galten Gemeinschaften mit - deutschlandweit! - 50 Mitgliedern als gross, solche mit 5 Mitgliedern als klein. Dies sind die Massstäbe, in welchen okkulte Organisationen meist operieren. Wenn nun ein Bericht, wie bei unserer Stelle geschehen, von einer lokalen Gemeinschaft in einer nicht allzugrossen Stadt Deutschlands mit einer Anzahl von 123 Mitgliedern berichtet, macht dies die Geschichte höchst unwahrscheinlich. Die lokale Gruppe in der nicht allzugrossen Stadt wäre eine der grössten Okkultgruppen Deutschlands, wenn nicht überhaupt die grösste.
Wer gar von einer bisher nicht bekannten internationalen satanistischen Gemeinschaft berichtet, welche weltweit über Tausende von Mitgliedern verfügen würde, müsste folgende Fragen zufriedenstellend beantworten können: Weshalb kennt niemand, auch nicht die aktiven und ehemaligen Satanisten, diese Organisation? Wie schafft es eine derart grosse Organisation, absolut keine Spuren zu hinterlassen? Wie schafft sie es, Tausende von Menschen anzuwerben, ohne irgendwo auch nur im Geringsten aufzufallen (dies nach menschlichem Ermessen ein Widerspruch in sich selbst)? Und vor allem: Warum ist der Berichtende der einzige Aussteiger aus dieser Organisation - wenn ein Ausstieg ja, wie der Berichtende selbst zeigt, grundsätzlich möglich ist? Es ist davon auszugehen, dass eine zufriedenstellende Beantwortung dieser Fragen nicht möglich sein wird. Berichte von bisher unbekannten, angeblich international tätigen satanistischen Organisationen haben sich noch immer als falsch erwiesen.
Je kleiner die Gemeinschaft, desto problematischer kann ihre Entwicklung sein
International tätige Gemeinschaften, die weltweit auf eine höhere Mitgliederzahl kommen, wie etwa die Church of Satan oder der Temple of Set, sind gut bekannt. Ihre Problematik ist ihre Philosophie. Schauerliche Opferrituale und Quälereien finden nicht statt. Nachgewiesene Mordtaten von Satanisten hingegen gingen im deutschen Sprachraum bisher immer von Einzelpersonen oder Kleingruppen aus. Dieses Phänomen ist gut nachzuvollziehen: eine problematische Psychodynamik kann in einer kleinen Gruppe viel leichter um sich greifen als in einem grossen Verband. Insofern gilt die Regel: je kleiner die Gruppe, desto problematischer kann die Entwicklung sein. Die Gemeindevertreter, die sich bei unserer Stelle meldeten mit der Aussage: "Wir haben Satanisten, die wirklich schräg drauf sind. Aber es sind bloss drei, deshalb ist die Sache wohl harmlos" - die waren im Irrtum.
Wenn ein Bericht eine Gruppe mit schwieriger Psychodynamik beschreibt, ist er sehr unwahrscheinlich, wenn die Grösse der Gemeinschaft über eine Handvoll Menschen hinausgehen soll.
Keine Gesichter - keine Gemeinschaft
"Ich war zwar jahrelang dabei, habe aber niemanden erkannt, weil alle immer Kapuzen trugen" - diese Aussage ist der Klassiker der erfundenen Geschichte. Er wird von einer falschen Geschichte in die nächste übernommen. Da derjenige, welcher den Drang verspürt, eine Satanismus-Geschichte zu erzählen, vielleicht auch aus ethischen, sicher aber aus taktischen Gründen (im Hinblick auf Alibis der Beschuldigten und wegen des Straftatbestandes der falschen Anschuldigung) niemanden konkret der Mitgliedschaft bezichtigen möchte, greift er die Kapuzen-Legende gerne auf.
Zwar mag man, wie bei einem Feme-Gericht, einmal mit verbundenen Augen in einen Raum geführt werden, in welchem sich nach Abnahme der Augenbinde bloss maskierte Menschen befinden, bei einer längeren Mitgliedschaft geht die Sache aber nicht auf: Entweder kommt man schon maskiert zu den Veranstaltungen hin - dann aber fällt die Gemeinschaft sofort öffentlich auf und hat keinerlei Kontrolle darüber, wer an den Ritualen teilnimmt, oder aber man maskiert sich erst vor Ort, dann aber wird man im Laufe der Zeit alle Menschen zu Gesicht bekommen, die gemeinsam mit einem selbst den Ort des Geschehens aufsuchen.
Zudem liegt der Kapuzen-Legende ja die Ku-Klux-Klan-Kapuze mit Augenschlitzen zugrunde, die in okkulten Organisationen weniger in Gebrauch ist. Okkulte Roben sind der Mönchskleidung nachempfunden und verdecken das Gesicht nicht. Ist eine Verdeckung des Gesichts für ein Ritual erwünscht, wird eine Maske aufgesetzt.
Anonymität wahren okkulte Organisationen dadurch, dass der bürgerliche Name der Mitglieder nur der Leitung bekannt ist, an seiner Stelle wird intern ein Ordensname verwendet. Eine Anonymität des Gesichts hingegen könnten sich gerade hochproblematische Organisationen, von welchen dies gerne behauptet wird, keinesfalls leisten. Sie würden es Polizeispitzeln und anderen unerwünschten Personen ungemein leicht machen. Die Leitung einer hochproblematischen Organisation muss deshalb zu jedem Zeitpunkt genau wissen können, wer wo dabei ist und wer nicht.
Aus diesen Gründen kann, wenn ein Bericht auf eine längere Mitgliedschaft zielt, als Regel gelten: Keine Gesichter - keine Gemeinschaft.
Je mehr Latein, desto weniger Plausibilität
"Neben den Opferhandlungen wurden stundenlange lateinische Litaneien heruntergeleiert - ich hab davon nichts verstanden" - dies Klassiker Nr. 2 der erfundenen Geschichte. Wer eine erfundene Satanismusstory zum besten geben will, wird bei der Darstellung der diversen Opferrituale seiner Phantasie freien Lauf lassen, bei der Liturgie aber ganz unsicher sein - deshalb, weil er im Grunde keine Ahnung hat, was Okkultisten so lehren. Alte Sprachen, sonst heute nicht mehr so beliebt, kommen da wie gerufen. Seis Latein, Altgriechisch oder eine nichtidentifizierte alte Sprache, leider wurde der ganze Text in dieser gesprochen und wurde deshalb vom Zeugen nicht verstanden.
Um es gleich klar zu stellen: Es gibt keine stundenlangen okkulten Litaneien in einer alten Sprache. Okkulte Rituale wollen verstanden werden, sie werden deshalb in der Landessprache zelebriert. Einzelne Formeln oder auch Abschnitte in alten Sprachen kommen durchaus vor, sie sind den Mitgliedern aber in ihrer Bedeutung geläufig - nicht zuletzt weil das Erlernen dieser Formeln üblicherweise zum elementaren Lehrstoff der Gemeinschaft dazugehört, wie überhaupt die Rituale, ihr Ablauf und ihre Bedeutung in der Regel intensiv gelernt werden.
Eine Gemeinschaft, die stundenlang Texte rezitiert, die niemand versteht und deren Bedeutung niemand erahnt, gibts bisher nicht, und die Chance, dass sich einstmals eine solche bilden wird, ist gering. Denn was sollte die Motivation sein, sich regelmässig stundenlang Texte anzuhören, die man nicht versteht?
Aus diesen Gründen ist ein hoher Lateingehalt einer Geschichte ein Indikator für deren Unglaubwürdigkeit.
Je höher das Alter der Gemeinschaft, desto geringer die Authentizität der Geschichte
Der Okkultismus ist eine schnelllebige Szene. Gemeinschaften entstehen, verbinden sich, spalten sich auf, und verschwinden wieder, um später vielleicht wieder neu gegründet zu werden. Die Halbwertszeit einer okkulten Organisation wird kaum zehn Jahre betragen. Natürlich berufen sich okkulte Organisationen gerne auf ältere Traditionen, aber eine ungebrochene organisatorische Kontinuität von mehr als 50 Jahren kann keine heute existierende okkulte Organisation aufweisen. Berichte aus bisher unbekannten okkulten Organisationen sind folglich je glaubwürdiger, je jünger die Gemeinschaft ist. Geschichten hingegen, die von Organisationen berichten, die hundert oder gar Tausende Jahre alt seien, sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erfunden - dies auch deshalb, weil sich bei zunehmendem Alter die Frage verschärft, weshalb bisher niemand die in Frage stehende Gruppe wahrgenommen hat resp. aus dieser ausgestiegen ist.
Ferner ist klar, dass eine jahrzehntelange Aktivität auf der okkulten Szene die organisatorischen Brüche des Milieus spiegeln muss, um erhöht glaubwürdig zu sein: Wer jahrzehntelang Okkultist war, wird in dieser Zeit in der Regel ganz verschiedenen Organisationen angehört haben.
Kein Wissen - kein Okkultismus
Okkultismus vermittelt Wissen, das Wissen vom Umgang mit verborgenen ("occultus") Kräften. Mitgliedschaft in okkulten Organisationen ist deshalb immer auch eine Angelegenheit des Lernens. Wer Okkultist wird, hat Wissen zu beigen, und meist darüber auch Prüfungen abzulegen.
Auch Jugendokkultisten, in Sachen Lernstoff eigentlich meist ausgelastet, versuchen in der Regel, an Wissen zu kommen, durchforsten das Internet nach brauchbaren Texten und gestalten diese z.T. nach eigenem Dafürhalten um.
Wer in einer okkulten Organisation dabei war, hat folglich einiges an Lernstoff hinter sich gebracht, und muss diesen auch nach Austritt mindestens teilweise noch präsent haben. Zeigt sich da nichts, leidet die Wahrscheinlichkeit der Geschichte ganz erheblich.
Je höher der Rang der berichtenden Person innerhalb der Gemeinschaft war, desto unwahrscheinlicher ist deren Existenz
Ein häufiges Merkmal erfundener Geschichten ist eine Hervorhebung der eigenen Person innerhalb der Gemeinschaft. Da das Erzählen der Geschichte der Gewinnung von Bedeutung dienen soll, ist dieses Element auch sehr naheliegend: Die Sehnsucht nach Bedeutung pflanzt sich ins Berichtete hinein fort. Der Zeuge ist nicht einfaches Mitglied, sondern "etwas Besonderes", Priesteramtskanditat, oder gar auserwählt zur Hohepriesterschaft. Die erfundene Gruppe räumt der phantasierenden Person einen Rang ein, welchen sie im Leben gerne beanspruchen würde, zu erreichen aber keine Chance sieht. Eine Okkultgeschichte kann so einen ins Dunkle gewendeten Prinzessinnen-Wahn darstellen, s. dazu unten.
Je intensiver die Verfolgung, desto geringer die Wahrscheinlichkeit
Okkulte Gruppen können Geheimnisverrat mit Strafe bedrohen, wobei im Allgemeinen eine Selbstverfluchung zum Einsatz kommt. Von jugendokkultistischen Gemeinschaften sind handfeste Drohungen gegenüber missliebigen Personen bekannt, die im Fall von Sondershausen gar zum Mord geführt haben.
Des ungeachtet ist eine Verfolgung von Aussteigern entgegen der landläufigen Meinung nicht die Regel. Auch Hardcore-Satanisten haben beschränkte Ressourcen und wenden diese nur dann für eine personalintensive Verfolgung auf, wenn sie sich wirklich bedroht fühlen. Daraus folgt, dass eine geschilderte Verfolgungssituation des Zeugen mit der Bedrohung, die von ihm für die Gruppe ausgeht, in zumindest halbwegs vernünftiger Relation stehen muss.
Aus diesem Grund können Berichte von Menschen, die sich von Satanisten verfolgt fühlen, ohne je Mitglied einer diesbezüglichen Organisation gewesen zu sein noch mit einer solchen irgendwie zu tun gehabt zu haben, klar in den Bereich des Verfolgungswahns eingeordnet werden. Dasselbe gilt, wenn sich jemand permanent von Satanisten verfolgt fühlt, obwohl seine angebliche Mitgliedschaft Jahre oder gar Jahrzehnte zurückliegt und er über die Gemeinschaft im Grunde nichts weiss, also dieser - wenn sie denn existiert - auch in keiner Weise gefährlich werden kann.
Glaubwürdigkeit gewinnen hingegen Geschichten, die das Element der Verfolgung kaum ausgestalten - gerade deshalb, weil dieses Element in der landläufigen Vorstellung zu einer Satanismusgeschichte vermeintlich unabdingbar dazu gehört.
Möglichkeiten der Ueberprüfung
Wenn ein Bericht nach obigen Kriterien eher als glaubhaft erscheint, ist es sinnvoll, ihn einer näheren Ueberprüfung zu unterziehen. Dazu eignen sich folgende Vorgehensweisen, die allerdings mit einem gewissen Aufwand resp. der Notwendigkeit von Fachkenntnissen verbunden sind:
Lokaltermin
Okkulte Rituale brauchen einen geeigneten Ort. Manche Organisationen haben einen festen Standort, bei andern kommen alte Kultplätze, alte Ruinen oder, wenn es drinnen sein soll, allf. gemietete Räume oder auch Privatwohungen zum Einsatz. Jugendokkultisten treffen sich gerne in Waldhütten oder verlassenen Industriebauten.
Da regelmässige Besucher okkulter Rituale den Ort des Geschehens kennen müssen, lassen sich diesbezügliche Angaben in der Regel gut überprüfen. Stimmen die Angaben des Zeugen mit den vorfindlichen Eigenschaften des Ortes überein? Ist denkbar, dass an der genannten Stelle Rituale stattfinden, ohne die Aufmerksamkeit Aussenstehender zu erwecken? Stimmt die Infrastruktur mit dem überein, was der Zeuge berichtet (es sind schon falsche Geschichten wegen fehlender Stromversorgung aufgeflogen), und existiert die Räumlichkeit lange genug resp. stand lange genug leer, um den berichteten Zeitraum abzudecken?
Häufig verlegen erfundene Berichte, sicher inspiriert von diesbezüglichen Filmen, die Rituale in uralte, katakombenartige Räume, welche sich jeweils im Gelände nicht auffinden lassen. Nicht selten kommt auch das Motiv vom Treffpunkt in der Kirche oder deren Krypta vor, ausgelöst durch den gerade für in Sachen Okkultismus weniger bewanderte Menschen naheliegenden Zusammenhang Ritual - Kirche. Hier wird das Problem der Aufmerksamkeit einer breiteren Oeffentlichkeit allerdings beinahe unlösbar. Eine okkulte Organisation, die sich regelmässig in der Dorfkirche trifft, kann nicht verborgen bleiben.
Schriften
Da okkulte Organisationen Wissen vermitteln, produzieren sie schriftliches Material (und seien es bloss Ausdrucke von Websites, die weiter gegeben werden). Ein ehemaliges Mitglied einer okkulten Gruppe kann, wenn es länger dabei war, über das Schrifttum der Gemeinschaft detailliert Auskunft geben, weil es einen Teil davon selbst gelesen hat. Dieses Schrifttum wird, da auch Okkultisten das Rad nicht neu erfinden, in der Tradition bekannter okkulter Schriften stehen (wenn es nicht gar ausschliesslich aus solchen besteht). Die Angaben eines ehemaligen Mitglieds über das Schrifttum der Gemeinschaft können folglich zur Prüfung der Geschichte herangezogen werden, wenn die prüfende Person sich in der okkulten Literatur einigermassen auskennt.
Erfundene Geschichten weisen nicht selten auf Phantasieschriften hin, die nirgendwo bekannt sind und dem Zeugen leider nicht mehr vorliegen. Seine Angaben über den Inhalt dieser Schriften sind typischerweise summarisch und dürftig, so dass sich gern ein Widerspruch zwischen der (hohen) Bedeutung der Schrift für die Gruppe und der (geringen) Kenntnisse des Zeugen ergibt.
Warum werden Okkult-Geschichten erfunden?
Es war im Obigen viel von erfundenen Okkult-Geschichten die Rede. Und in der Tat ist es so, dass die Mehrzahl der Erfahrungsberichte aus dem Bereich Satanismus (und um diesen geht es bei erfundenen Geschichten fast immer), welche bei Beratungsstellen anfallen, erfunden ist.
Die Frage drängt sich da natürlich auf, weshalb eine solche Geschichte erfunden werden soll. Drängender wird die Frage dadurch, dass es sich meist - aber keinesfalls immer - um Geschichten mit recht horriblem Inhalt handelt. Wie kommt ein Mensch dazu, sowas zu erfinden?
Es scheint sinnvoll, vom häufigsten Fall auszugehen, der Phantasie-Geschichte eines Teenagers. Dass Teenager bei Erzählungen vor KollegInnen zu Uebertreibungen neigen und mitunter ganze Geschichten erfinden, weiss jeder noch aus eigener Erfahrung. Das Image bei KollegInnen ist in diesem Alter derart wichtig, der Selbstwert, welcher aus real Erlebtem geschöpft werden kann, hingegen naturgemäss noch so wenig entwickelt, dass das Phänomen nahe liegt. Wesentliche Funktion von Teenager-Geschichten ist die Aufmerksamkeit der Kollegen, die Geschichte soll die erzählende Person eine Zeitlang ins Zentrum des Interesses stellen. Sie muss deshalb von Alltags-Erfahrungen genügend entfernt sein, und horrible Elemente sind auf jeden Fall zweckdienlich.
Satanismus-Geschichten werden von Teenagern gern dann zum Vortrag gebracht, wenn neben dem Horror-Effekt eine Opferrolle gewünscht ist, wenn das Mitleid und die Fürsorge der KollegInnen geweckt werden sollen. Nicht selten wird - aus dem Bedürfnis nach Bedeutung heraus - in solche Geschichten ein besonderer Rang der berichtenden Person innerhalb der Gruppe eingebaut.
Manchmal werden von Teenagern Satanismus-Geschichten auch dann gewählt, wenn eigenes Verhalten erklärt werden soll, so dient schon die Story "Vier Jahre Hölle und zurück" des Lukas dazu, seine Aggressionsschübe zu entschuldigen. Die Idee wird aus Lukas ab und an von jungen Menschen mit ähnlicher Problematik übernommen. Ebenso kann kriminelles Verhalten als Befehl von Satanisten motiviert werden u. dgl.
Meist verlaufen solche Phasen des Geschichten-Erzählens harmlos, insbesondere dann, wenn die Geschichte von der sozialen Umgebung als Symptom eines Bedürfnisses nach Zuwendung, Interesse und Bedeutung gelesen wird. Nimmt die Umgebung hingegen die Geschichte inhaltlich ernst, kann es geschehen, dass der junge Mensch auf die Story fixiert wird und vielleicht gar gezwungen ist, seine Geschichte weiter auszubauen, um sein Gesicht nicht zu verlieren (ein solcher Verlauf ergab sich im Zusammenhang mit Ramona K.s Bericht von einer erfundenen Gemeinschaft namens T.B.O. Anfang der Neunzigerjahre).
Die Strategie der Bedeutungsgewinnung durch Phantasiegeschichten kann sich aber, bei einzelnen Menschen, im Teenie-Alter auch verfestigen und sich ins Erwachsenenalter hinein verlagern. Es ergibt sich dann ein Bild, das gern mit dem Begriff der Pseudologia Phantastica beschrieben wird: Das soziale Umfeld wird mit einer erfundenen Geschichte nach der andern eingedeckt, die inhaltlich nicht selten zwischen Opferrolle und hervorgehobener Bedeutung hin und her oszillieren. Satanismus passt da natürlich recht gut, und manche Menschen, die mit einer Satanismus-Geschichte Beratungsstellen aufsuchen, haben vorher mit ganz anderen Geschichten andere Menschen beglückt. Es kommt auch vor, dass die Strategie des Erzählens erfundener Geschichten zu Bedeutungsgewinn und Entlastung von Konflikten familiär gehäuft auftritt, so dass der Eindruck entsteht, dass Kinder diesen Umgang mit Geschichten von ihren Eltern oder älteren Geschwistern lernen.
Davon zu unterscheiden, wenn auch im Einzelfall vielleicht schlecht zu trennen, sind Geschichten, die mit einer Erkrankung aus dem psychotischen Formenkreis einhergehen. Der Ansatzpunkt ist hier ein anderer. Hier ist es die Bedrohungssituation, die dem Menschen mit einer Psychose paranoiden Typs gewiss ist. Auf der Suche nach der Herkunft dieser Bedrohung bieten sich (nebst Geheimdiensten, der Mafia, den Freimaurern u.a.) auch Satanisten an. Die intensive Beschäftigung mit den Verfolgungstheorien, welche für Paranoia typisch ist, kann dazu führen, dass auch Bilder auftauchen, die dann als Erinnerungen gedeutet werden. Ohne Behandlung kann sich ein solches Konstrukt über die Jahre immer weiter ausbauen, so dass sich die betroffene Person am Ende umstellt sieht von einer umfassenden Verschwörung von Satanisten, die offenbar nichts anderes zu tun haben, als die eigene Person zu verfolgen.
Beide Varianten, eine Satanismus-Geschichte psychotischen Typs wie auch eine "verspätete" Teenie-Geschichtenproduktion, kann durch das soziale Umfeld verstärkt werden, wenn es so strukturiert ist, dass es Satanismus-Opfern erhöhte Aufmerksamkeit und Zuwendung zukommen lässt. In diesem Zusammenhang ist es schon vorgekommen, dass z.B. freikirchliche Gruppen (die den Satanismus nicht selten als den grossen Feind wahrnehmen, aber kaum kennen, und deshalb schlecht in der Lage sind, Geschichten auf ihre Authentizität zu überprüfen) von vermeintlichen Satanismus-Opfern über längere Zeit genarrt wurden. Leider fand mancher Bericht dieser Art sogar Eingang in freikirchliche Literatur. Der Glaubwürdigkeit der freikirchlichen Literatur bei Menschen, die den Okkultismus kennen, tut dies selbstredend nicht gut.
In den genannten Fällen ist es unter dem Gesichtspunkt einer seelsorgerlichen Betreuung richtig, mit dem Zeugen die Frage der Authentizität seiner Geschichte nicht zu diskutieren. Sie ist als Symptom zu lesen, welches für tiefer liegende Defizite steht. Diese sind es denn auch, die seelsorgerlich angegangen werden müssen. Keinesfalls gut tut es dem Zeugen aber, wenn er durch ein inhaltliches Ernstnehmen der Geschichte gezwungen ist, seine Story weiter auszubauen - und sich am Ende vielleicht gar in der Situation sieht, eine bloss halbwahre oder gar nicht stimmige Geschichte in diversen Publikationen wiederzufinden, so dass er von seinem Umfeld zunehmend aus den vermeintlichen Erlebnissen heraus definiert wird. Dies kann keine Basis für ein gesundes Selbstbewusstsein abgeben.
Georg Otto Schmid, 2004
Letzte Aenderung 2004, © gos 2004, Infostelle 2000
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