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  Wie kann ich religiösem Wahn begegnen?
aus: Informationsblatt Nr. 2/96
Ein ganz normaler Lebenslauf
Bis vor kurzem war sie eine bodenständige, klar denkende, sogar kühl rechnende Karrierefrau. Die Kinder hatte sie vergleichsweise problemlos grossgezogen. Sohn und Tochter haben anständige Berufe und eigene Familien. Ihre Ehe war, wie man so sagen könnte, "durchschnittlich glücklich" - bis ihr Gatte sie vor fünf Jahren wegen einer Jüngeren verliess. Inzwischen ist er aber wieder zu ihr und zur ehelichen Normalität zurückgekehrt. Scheinbar führte sie ein rundum zufriedenes Leben. Zugegeben - wahrscheinlich hat sie schon seit einigen Jahren ihre tiefste Lebenserfüllung nicht mehr in der Zweisamkeit der Ehe gesucht und gefunden. Schliesslich führte sie auch ein eigenes Geschäft und zeigte politisch nicht nur Ambitionen, sondern auch Talente. Sie war für alle, die sie kannten, eine Frau, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand. Bis zum Tage, als sie dieser theosophischen Gruppierung begegnete.
Das plötzliche Ende der Normalität
Sie behauptete später, die erste Begegnung sei eine Fügung des Himmels gewesen. In einem Buchladen stiess sie auf ein Buch, das ihr - wie sie sagte - "neue Dimensionen der eigenen Seele erschloss". Die neuen Dimensionen waren, wie sich später herausstellte, gechannelte Weisheiten eines modernen Mediums, Einsichten aus lichten Himmelshöhen, die ein besonderer "Kanal" in angeblicher Tieftrance der staunenden Jüngergemeinde zufliessen lässt. Zu dieser Gemeinde stiess sie kurz nach der Lektüre der theosophischen Schrift. Und seither hat die hö here Erkenntnis die bisherige Realität beinahe ausgeblendet. Sie ist zwar immer noch Ge schäftsfrau, aber nur noch mit halbem Herzen. Ihr Herz gehört einer Gruppe, zu der wir Aussenstehenden keinen Zugang haben, und einer Weisheit, die nach unserem Empfinden dieses Opfer an Zeit und Geld nicht verdient. Kurz, sie war fünfzig Jahre lang ein vernünftiger, realistisch denkender Mensch. Doch seit einem Jahr hat sie - so formulieren die Angehörigen - "offensichtlich den Verstand verloren".
Jeder Wahn hat seine eigenen Gründe
Nun sitzt ihr Gatte mir gegenüber und schildert mir ratlos die spirituellen Exzesse seiner Frau: "Sie verbringt ihre ganze Freizeit mit ihren spirtuellen Freundinnen und Freunden. Wahrscheinlich beschenkt sie die Gruppe auch grosszügig aus ihrem nicht unerheblichen Vermögen."

Der Gatte sucht nun nach Mitteln und Wegen, diesen Wahn schnell und sicher aufzulösen. Aber religiöser Wahn ist keine Seifenblase, in die sich einfach stechen lässt. Jeder Wahn hat seine Vorgeschichte und seinen Grund.

Aus der Normalität ausbrechen
Unser Gespräch über die Vorgeschichte dieses für den Gatten offenkundigen spirituellen Wahns zeigt ihm, dass die jahrzehntelange Normalität für seine Gattin wahrscheinlich langsam und zusehends unlebbar wurde. Seine Frau hielt diese reale und für sie irgendwo zutiefst seelenferne Realität kaum mehr aus. Kann frau ohne Träume leben? Und kann man leben ohne Erfahrungen, die immer wieder neue Dimensionen erschliessen? Eingeschlossen in eine Realität, die so kalt und hart ist wie eine Betonmauer, muss die frustrierte Seele irgendwo ausbrechen. Sektenmystik ist ein verzweifelter Ausbruch aus einer unlebbar gewordenen Normalwelt. Das heisst nicht, dass wir diese Ausbrüche stillschweigend hinnehmen oder gar begrüssen würden. Nicht alles, was seinen guten Grund hat, hat auch sein gutes Recht.

Wir suchen gemeinsam nach Wegen, wie wir dieses Bedürfnis des wahnbefallenen Menschen nach himmlischer Weite und mystischer Tiefe in lebensnähere und weniger wahnbefallene Bahnen lenken können. Diese Aufgabe ist nicht einfach zu lösen. Denn der Erleuchtete lässt sich ungern von Unerleuchteten korrigieren. Wenn diese Unerleuchteten dann gar noch an seiner Erleuchtung herumflicken möchten, schützt er sich häufig durch Kontaktabbruch. Die höchsten Einsichten und Erfahrungen lässt er sich nicht madig machen. Wer diese empfindlichste Stelle seiner Seelenlandschaft berührt, wird fortan gemieden.

Was würde ich an deiner Stelle tun?
Nachdem ich mich mit dem irritierten Gatten in die Situation seiner Frau hineinzufühlen suchte, versuche ich nun als Ratgeber und Seelsorger, ihm mit der gleichen Verständnisbereitschaft zu begegnen. Ich versetze mich in seine schwierige Lage, überlege mir seine Möglichkeiten und Grenzen und versuche, mit ihm alle Verhaltensvarianten durchzudenken, die ich an seiner Stelle als Möglichkeit erkenne. Das heisst nicht, dass der Ratsuchende dann all diese Möglichkeiten auch realisieren kann. Manche wird er sofort ausschlagen, weil sie seinem Typ nicht entsprechen oder weil er für diesen oder jenen Schritt noch nicht reif ist. Aber ich decke verschiedene Möglichkeiten auf und zeige auch verschiedene Grenzen. Methoden, die sich nicht bewähren, bespreche ich offen und nach meinem persönlichen Empfinden.
Dispute lohnen sich nicht
Wir wissen beide, wie allergisch Wahnbefallene auf Wahnkritik reagieren. Heisst das, dass ich mir jede Bemerkung zur wahnhaften Spiritualität meines Mitmenschen verbieten muss? Nein, ehrliche Kommunikation wird früher oder später das Thema berühren, das mir derart zu schaffen macht. Aber ich suche zum einen dieses Thema nicht. Und wenn ich über dieses Thema spreche, dann argumentiere und streite ich nicht. Im Gespräch mit wahnhaft religiösen Menschen entartet jedes Argumentieren früher oder später in Streit. Ich stelle keine Argumente gegen den religiösen Wahn. Argumente erreichen das Bewusstsein des wahnbesetzten Mitmenschen meistens nicht.
Den Wahn als Wahn bezeichnen
Ich argumentiere nicht, ich bezeichne. In einem einzigen kurzen Satz, ruhig gesprochen, zeige ich meine Sicht der Dinge. Aber ich gebe dem wahnbesetzten Mitmenschen sofort zu verstehen, dass ich von ihm nicht verlange, dass er so denkt wie ich. Ich kann auch ehrlicherweise von keinem Menschen verlangen, dass er die Wahngebäude verlässt, die er sich selber errichtet hat oder in die er sich einschliessen liess. Ich kann nur durch punktuelle kurze Bemerkungen zu meiner sehr persönlichen Sicht der Dinge meinen Mitmenschen daran erinnern, dass irgendwo in ihm auch noch eine sehr persönliche, kritikfähige Sicht der Dinge möglich wäre.
Der kurze Appell an die verdrängte Kritikfähigkeit
Der sektenhaft Gläubige hat seine Kritikfähigkeit gegenüber seiner Gruppe - davon bin ich zu tiefst überzeugt - nicht definitiv verloren. Er hat seine Kritikfähigkeit nur vorübergehend verdrängt oder sich verbieten lassen. Jede wahnhaft religiöse Gruppe entwickelt Methoden, die die eigene Kritikfähigkeit unterdrücken. Aber unterdrückte Kritikfähigkeit kann wieder er wachen. Ich zwinge mit meinen Bemerkungen niemanden zur Aufgabe seines Wahns. Ich bezeichne nur höflich und bestimmt, sehr subjektiv und ohne lange Argumente Wahn als Wahn. Das muss und wird vorerst als mein Gesprächsbeitrag genügen. Der wahnbefallene Mitmensch wird mir durch lange Argumentationsreihen beweisen, dass meine kurze Bemerkung völlig deplaziert war. Ich lasse ihn argumentieren. Der Sektierer muss immer das letzte Wort haben. Ich gestehe es ihm zu. Aber ich bleibe ruhig bei meiner Meinung. Ich ereifere mich nicht. Denn ich bin mir mir völlig sicher. Ich muss nicht weinen oder schreien oder verzweifeln. Ich sage ruhig und bestimmt: "Für mich ist das Wahn. Aber ich weiss, dass du dies anders siehst." Ich lasse mich auf keine weiteren Dispute ein. Im Disput muss der Wahn zwanghaft immer siegen. Der Wahn kann nie unterliegen. Aber diese zwanghaften Siege offeriere ich ihm nicht.
Ich weiss mehr als ich sage
Über die Gruppe, zu der mein wahnbesetzter Mitmensch gehört, informiere ich mich so um fassend wie möglich. Ich kenne alle kritischen Publikationen zum Thema. Aber ich schlage mein Wissen dem wahnbefallenen Mitmenschen nicht um den Kopf. Ich brauche mein Wissen nur wie ein Arzt seine stärkste Medizin: tropfenweise. Immer zur rechten Zeit - wenn ich einen seltenen Moment der Offenheit erahne - lasse ich ruhig und gelassen eine kritische Bemerkung fallen: Kritische Information zum falschen Moment verhärtet die Fronten. Kritische Information im rechten Moment trifft den Wahn an seiner empfindlichsten Stelle.
Vom Wahn des Sektierers zum Wahn des Sektenkritikers
Auch bei längerer Beratung stelle ich fest, dass verzweifelte Angehörige immer wieder auf die schon erwähnte utopische Meinung zurückfallen, Wahn lasse sich zum Platzen bringen wie eine Seifenblase. Träume und Illusionen - meinen sie - verfliegen, wenn es uns gelingt, den Men schen die Realität vor Augen zu stellen. Diese These ist fast so wahnhaft wie der Wahn des Sek tenmitglieds. Illusionen und Träume lassen sich selten durch blosse Kritik und Aufdecken der Realität auflösen. Der Wahn verfliegt erst, wenn der vom Wahn befallene Mensch den Wahn nicht mehr braucht.
Wie wird Wahn überflüssig
Wahn ist die einfachste Antwort der Seele auf eine seelenlos dürre Welt. Solange ich meinen Wahn für mein Leben und Überleben brauche, lasse ich mir durch keinen Lebenspartner, durch keinen Sektenexperten, durch keinen noch so kritischen Einwand der Realität meinen Wahn rauben. Ich lasse meinen Wahn erst fallen, wenn ich spüre, dass ich keinen Wahn mehr brauche. Das dürre seelenlose Leben hat mich in meinen Wahn getrieben. Erst die lebendige, seelennahe Existenz wird mich aus meinem Wahn befreien.
Die bessere Mystik ersetzt den mystischen Wahn
Was aber kann im erwähnten Beispiel ein irritierter Gatte dazu beitragen, dass das Zusam menleben mit seiner Frau lebendiger, seelennaher, kurz spiritueller und interessanter wird? Seine Hände sind ihm fast vollständig gebunden. Seine Frau verbringt beinahe ihre ganze Frei zeit in der Sekte. Sogar von gemeinsamen Ferien will sie nichts mehr wissen. Die Kurse im amerikanischen Sektenzentrum sind ihr viel wesentlicher als ein gemeinsamer Aufenthalt im italienischen Badehotel. Wie kann er seelennahes Miteinander offerieren, wenn sie faktisch von ihm kaum mehr etwas wissen will?
Das eigene Verhalten ändern
Er kann - wenn das eheliche Zusammenleben sich auf ein Minimum an Kontakten beschränkt - nur sein Leben so verändern, dass sie sich über ihn zu verwundern beginnt. Sagen kann er ihr wenig. Worte dringen kaum mehr in ihr Bewusstsein. Wahn ist Unfähigkeit zu normaler Kommunikation. Aber durch sein Verhalten kann er sie positiv verunsichern. Sein Verhalten wird in ihr Fragen wecken.
Mystiker werden
Durch sein Verhalten kann er ihr z.B. eine Mystik näherbringen, die lebendiger und lebensnaher ist als alles, was die sektenhafte Gruppe ihr anbietet. Natürlich muss er, wenn er dies will, spirituell noch einiges zulegen. Aber dazu ist etwa in kirchlichen Kursen und Zentren reichlich Gelegenheit. Wenn er dies tut, wenn er aufbricht, um eine eigene Mystik zu entdecken, wird er sie plötzlich sehr irritieren. Sie hat sich bisher von ihm ein Bild gemacht, das ihn gelinde gesagt unter seinem Wert verkauft. Er war für sie der Inbegriff einer seelenlosen, spirtuell verkümmerten Existenz. So wie er war auch sie bis vor der grossen Wende. Nun ist sie er leuchtet, währenddessen er immer noch in der Banalität des Materiellen verkommt. Plötzlich aber muss sie feststellen, dass er sich spirituell seltam entfaltet, dass er ganz neue Wege der Kreativität und Innerlichkeit entdeckt. Und verwundert stellt sie fest, dass er sich diesen Reichtum nicht in ihrer sektenhaften Gruppe holte. Offenbar kann nicht nur die eigene Gruppe den Geist des Menschen entfalten. Sie wird hellhörig für seinen spirituellen Weg. Und sobald sie andere spirituelle Wege auch nur erwägt, ist sie bereits nicht mehr sektenhaft gebunden. Er wird Mystiker. Und sie wird langsam aber sicher aus ihrem mystischen Wahn befreit.
Keinen Wahn kopieren
Einen Irrtum müssen wir hier noch speziell ansprechen. Es lohnt sich nie, einer Sekte auch nur zum Schein beizutreten, nur um einen geliebten Menschen aus seinem Sektenwahn zu befreien. Dies wäre eine Fehlspekultation. Wenn der sog. Banause dem sog. Erleuchteten einfach nach rennt, wird der Banause nie wirklich interessant. Er wird im Kreise dieser sektenhaft Erleuchteten immer die Nummer zwei, der Kritiker, der Unverständige sein. Viel weiser ist es, wenn der spirituelle Nobody eigene mystische Pfade entdeckt, ebenso geheimnisvoll und inhaltsreich wie die sektenhaften, aber viel humorvoller und weit weniger wahnanfällig. Wenn sie am Sonntagabend ihm gnädig den letzten Stand ihrer im Sektenworkshop geschenkten Erleuchtungen mitteilt, erzählt er gerne von den Erfahrungen auf seinen Wegen der Bildungshausmystik oder seiner naturnahen Spiritualität.
Einladung zum Umdenken
Wenn er weise vorgeht, wird er die Sektenmystik seiner Frau in keiner Weise miesmachen. Er wird nur mit seinen Erfahrungen nicht hinter dem Berg zurückhalten. Nicht nur die Sekten gurus und Workshopleiter sind erlebnisfähig und geistbewegt. Er selbst ist anders, als sie dachte. Er ist ein Mystiker ohne Gurus und Rezepte. Er ist ein Mystiker eigener Art. Kurz - er ist ein lebendiger spiritueller Mensch. Wie kam es bloss, dass sie das bisher nicht bemerkte? Sie muss umdenken. Und wer umdenkt, schadet seinem Wahn.
Georg Schmid, 1996
Letzte Aenderung 1996, © gs 1996, Infostelle 2000
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