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Aurobindo und die Mutter
Aravind (Aurobindo) Ghose, geboren am 15. 8. 1872 in Kalkutta als 3. Kind des Arztes Krishna Dan Ghose und der Svarnalatha Ghose, wird zusammen mit zwei Brüdern nach dem Willen ihres anglophilen Vaters zuerst in der Internatsschule Loreto Convent in Darjeeling und dann in einer Familie eines englischen Pfarrers in Manchester, England, möglichst westlich erzogen. Er besucht zuerst eine öffentliche Schule in Westlondon und dann das King's College in Cambridge, wo er sich für den Eintritt in den indischen Staatsdienst vorbereitet. Da die Geldsendungen des Vaters lange Zeit ausbleiben, und da sie die Frömmelei ihrer Pensionsmutter nicht mehr aushalten und ausziehen, fristen die drei Brüder zeitweilig ein mehr als nur karges Dasein. Schon als Student in England träumt Aurobindo von einem unabhängigen Indien. Er tritt einer nationalen Studentengruppe und der Organisation "Lotus und Dolch" bei. War es Absicht, dass der brilliante Student durch das für Kolonialbeamtenlaufbahn entscheidende letzte Examen fiel? Schon in England hatte Aurobindo den Maharaja von Baroda kennen gelernt. 1893 kehrt er nach dem Tod seines Vaters nach Indien zurück und tritt in die Dienste des Fürstentums Baroda. Zuerst arbeitete er in der Verwaltung des Fürstentums, dann wurde er Lehrer für Französisch am Borada-College, später Englisch-Professor und Mitglied im Vorstand des Colleges. Während seiner Zeit in Baroda lernte er Sanskrit, Bengali, Marathi und Gujarati. 1901 heiratet er die ihm praktisch unbekannte Mrinalini Bose. Auch nach der Hochzeit lebt das Paar die meiste Zeit auf Distanz. Später verbietet ihm sein Yoga eine intensive Beziehung zu Mrinalini. Aurobindo engagiert sich immer offenkundiger im Kampf für die Unabhängigkeit Indiens. 1906 wird er Principal im neuen Bengali College in Kalkutta, und beginnt als Herausgeber mit der Publikation der Zeitschrift „Bande Mataram", die zum Sprachrohr der "Nationalist Party" wurde. Aurobindo forderte als einer der ersten "svaraj", völllige Unbhängigkeit von Grossbritannien, und wurde durch die Zeitschrift zu einem der bekanntesten Kämpfer für die Unabhängigkeit Indiens. Das intensive politische Engagement verband er immer offenkundiger mit einem nicht weniger intensiven Studium des Yoga, ein Studium, das durch die Begegnung mit dem Guru Vishnu Bhaskar Lele aus Maharashtra im Dezember 1907 vertieft und bereichert wurde. Lele löst in Aurobindo in wenigen Tagen intensivster Meditation Erfahrungen aus, die den Lehrer in ihrer Intensität und Spontaneität erschrecken, die Aurobindo aber als Schüler als Analogie zum buddhistischen Nirvana-Erleben oder zum Einssein mit allem im Erlöschen der phänomenalen Welt im Sinne des radikalen Vedanta versteht. Trotz dieser mystischen Erfahrungen gibt er sein politisches Engagement nicht auf. Nach einem von radikalen Unabhängigkeitskämpfern inszenierten Bombenattentat, das einem englischen Distriktsmagistraten gilt, dem aber zwei Frauen zum Opfer fallen, wird Aurobindo 1908 zusammen mit einer grossen Zahl seiner Gesinnungsgenossen verhaftet. Während der langen Untersuchungshaft Im Gefängnis in Kalkutta wandelt er sich in der Einzelzelle im intensiven Studium der Bhagavadgita und des Yoga und im Erleben intensiver Gottesnähe immer offenkundiger vom aktiven Nationalisten zum indischen Yogin und Weisen. 1910 wurde er nach einem langen Prozess freigesprochen. Freunde mit guten Kontakten zur englischen Kolonialverwaltung melden ihm aber, dass ein neues Verfahren mit Hausdurchsuchungen gegen ihn anläuft. Angesichts dieser neuen Bedrohung hört er in sich eine Stimme, die ihm sagt: Geh nach Chandermagore". In dieser französischen Minikolonie konnte ihn die englische Kolonialmacht nicht mehr behelligen. Die gleiche Stimme heisst wenig später, nach dem ebenfalls französischen Pondicherry zu ziehen, wo am 4.April 1910 ankommt und für den Rest seines Lebens bleibt. Die englische Kolonialverwaltung versucht in den nächsten Jahren vergebens, mit List oder Gewalt seiner doch noch habhaft zu werden. Weil die bisherigen Publikationen Aurobindos wenig einbringen und die Spenden aus Kalkutta nur sporadisch eintreffen, führen die wenigen Gefährten, die ihn begleiteten, zusammen mit ihrem Vorbild zuerst ein karges Leben. Die Situation verbessert sich, wie der Franzose und Indienfan Paul Richard Aurobindo die gemeinsame Herausgabe der Zeitschrift Arya vorschlägt. Die Zeitschrift erscheint 1914 und wird auch wirtschaftlich ein Erfolg. Während des ersten Weltkrieges weilt Richard in Europa. Aurobindo zeichnet allein für die Publikation verantwortlich und lässt viele Artikel erscheinen, die in späterer Neuauflage zu seinen wesentlichsten Schriften zählen. Durch die Zeitschrift wird Aurobino weit über den Kreis seiner ehemaligen politischen Gesinnungsfreunde hinaus bekannt. Am 29. Mai 1914 trifft er zum ersten Mal Mira Richard, die Gattin von Paul Richard, eine Französin mit türkischem Vater und ägyptischer Mutter und mit jüdischer Verwandschaft, vertraut mit okkulten Zirkeln und beschenkt mit angeblichen oder wirklichen paranormalen Fähigkeiten. Aurobindo und Mira Richard, später "die Mutter" genannt, verstehen sich sofort als für einander bestimmtes geistiges Paar. 1920 kommt Mira Richard definitiv nach Pondicherry und betreut und organisiert kompetent die kleine Gemeinschaft, die sich um den Meister schart. Nachdem Aurobindo sich ab Ende 1926 aus der Öffentlichkeit ins Schweigen zurückgezogen hatte - er zeigt sich nur noch während besonderer Tage schweigend seiner Schülerschar - wird Mira Richard zum eigentlichen Sprachrohr des Meisters, zu eigentlichen Brücke zwischen ihm und der Welt. Kurz vor dem Eintritt ins grosse Schweigen, am 24.November1926, später als, „Siddhi Day“ gefeiert, will Sri Aurobindo die Bewusstseinsebene des Overmind (Übergeistes) verwirklicht haben. Der kleine Ashram, der sich um Aurobindo und die Mutter schart, wird ab1940 allmählich zum damals grössten Ashram Indiens. Gegen Ende seines Lebens planen Aurobindo und die Mutter nicht nur die Gründung einer internationalen Sri-Aurobindo-Universität, sondern auch den Bau einer zukunftsorientierten und die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins förderlichen Stadt für Menschen aus aller Welt. Das eigentliche Ziel des Meisters, im Sinne einer weiteren Evolution des Menschseins hin zum Übermenschen den "Übergeist" oder das "Supramentale" in das Erdbewusstsein herabzubringen oder diese Herabkunft zumindest zu ermöglichen, verliert er auch in den letzten Jahren seines Lebens nie aus den Augen. Aurobindo stirbt am 5.12.1950 nach kurzer Krankheit. "Die Mutter" überlebt den Meister um 23 Jahre und betreut und begleitet engagiert den Bau von Auroville im Nordosten von Pondicherry, der Stadt des Zukunftsmenschen für alle Nationen. Auch Mirapuri, das wesentlich kleinere europäische Experiment eines Projekts gemeinsamer evolutionärer Existenz, beruft sich auf "die Mutter." In ihren vielen Gesprächen mit Schülern - später publiziert - variiert die Mutter die Gedanken Aurobindos in schülernaher Spontaneität. Auch die Mutter erlebte, ähnlich wie seinerzeit Aurobindo, neue Durchbrüche des Supramentalen hinein in die Welt. In der Meditation im Anschluss an das Gespräch vom 29. Februar 1956, "dem Goldenen Tag" erlebte die Mutter "die erste Manifestation der supramentalen Licht-Kraft in der Erdatmosphäre". Die supramentale Kraft fliesse nun ununterbrochen zur Erde.
Erwägungen zu Aurobindos Spiritualität und Philosophie
Die anspruchsvolle, detailreiche und unter den verschiedenen Schülern des Meisters kontrovers verhandelte Philosophie und Mystik von Aurobindo - vom Meister selbst unter den Titel "Integraler Yoga" gestellt - lässt sich behelfsmässig am besten verstehen, wenn wir davon ausgehen, dass Aurobindo gerade in seiner westlich orientierten Schulung sich um alles in der Welt den Geist Indiens erschliessen möchte. Verleugnen kann und will er nie die möglichst weitgehende Weltoffenheit, die grundsätzlich Bejahung auch der materiellen Welt und - gebildet im ausgehenden 19.Jahrhundert - den damals in der westlichen Welt vorherrschenden Fortschrittsglauben. Die Mitte aber seines Suchens, Denkens und spirituellen Erlebens bleibt - hierin ganz auf den Spuren der indischen Mystik wandelnd - Gott, und zwar Gott nicht als fernes Etwas, sondern als erlebbare Wirklichkeit. Denn nur was erfahren wird, kann auch wirklich bedacht und gelehrt werden. Dass seiner Gottsuche aber Nirvana-Erfahrungen - so umwerfend sie sein mögen - letztlich nicht genügen, zeigt der Umstand, dass Aurobindo nicht in den Erfahrungen stehen bleiben kann, die er bei seinem Lehrer sich erschloss. Aurobindo ist zwar von innen heraus und um jeden Preis indischer Mystiker, aber die Welt des Vielen, das Universum, darf im Erleben des Einen nicht entschwinden und sich auflösen. Das Eine und das Viele stehen dynamischer Verbindung miteinander. Das Eine ist die Kraft der Verwandlung für das Viele. Nur in dieser dynamisch-fortschrittsgläubigen Variante kann Aurobindo den in der indischen mystischen Tradition allgegenwärtigen Monismus aufgreifen So sieht Aurobindo nicht - wie dies radikale indische Advaita-(Nichtzweiheit)-Philosophen vorzeichnen - nur das Sein des Absoluten, des göttlichen Einen, gegeben und alles Phänomenale, die Welt des Vielen und des vom Einen Verschiedenen als blosses trügerisches Spiel. Der Welt der Phänomene kommt in der Sicht Aurobindos abgeleitete, relative Realität zu, denn sie ist mit dem einen - der tradierten Bhedabheda-Lehre („Gesondert und nicht gesondert“) ähnlich - gleichzeitig eins und von ihr verschieden. Auch der Prozess grundlegender Verwandlung des Relativen ins Absolute löst die Welt des Relativen nicht auf, sie führt nur weit über ihre bisherigen Grenzen und Widersprüche hinaus. Diese dynamisch erlebte und gedachte Beziehung Gottes zum Universum gleicht sich in konkreten Lebensvollzug gleichzeitig der indischen Bhakti und dem christlichen Glauben an, indem Gott zu einer Kraft wird, die sich völlig auf die Welt einlässt, und die den Menschen inspiriert, sich nun auch völlig ihm hinzugeben. In seinen Aussagen über den Herabkunft Gottes in die Welt, ein Geschehen, dass nicht nur einmal geschah, sondern das zum Wesen Gottes gehört, und über die völlige Hingabe an Gott, mit der der wache menschliche Geist nun Gott antwortet, wandelt Aurobindo auf beinah christlichen Pfaden, auch wenn das Vokabular, dessen er sich bedient, und das spirituelle Umfeld, das ihn zu dieser Hingabe beflügelt und das wesentlich durch die indische Bhakti - die indische Liebe zum persönlichen Gott - geprägt wird, Kirchenchristen befremdet. Schwieriger werden Aurobindos Anleitungen und Perspektiven, wenn er den westlichen Fortschrittsglauben des ausgehenden 19. Jahrhunderts ins Spirituelle transformiert und in entfernter Anlehnung an Nietzsche vom Übermenschen spricht, der durch die Herabkunft der göttlichen Kraft ins Erleben des Menschen früher oder später Wirklichkeit werden wird. Besonders schwierig werden für christliche Beobachter diese Übermenschperspektiven, wenn - etwa in den Gesprächen mit der Mutter nach dem Tod des Meisters - dieser Übermensch an manchen Stellen als göttliches Wesen in einem göttlichen Körper verglichen mit dem materiellen gegenwärtigen Körper körperlos gedacht wird. Wird hier nicht eine Vision vorgezeichnet, die nicht mehr "integral" alle Aspekte des Menschseins verwandelt, sondern wesentliche Aspekte in einer Art fortschreitender Vergeistigung hinter sich zurücklässt? Wie immer diese Ablösung des Menschen durch den Übermenschen gedacht werden soll, diese "Supramentalisierung des Menschen" - das Supramental ist in Aurobindos Sprache eine wesentliche Dimension des Göttlichen - ist das eigentliche Anliegen Aurobindos und mit ihr auch die Transformation des Menschen zum Übermenschen und mit ihr der Anbruch einer neuen Zivilisation.

Probleme zeigten sich im Verlauf der Entfaltung von Aurobindos Philosophie und Spiritualität in der Optik des kritischen Betrachters erstens in der mehr als nur auffallenden Konzentration dieser Zukunftsschau auf das Erleben des Meisters und der Mutter. Sie erlebten ansatzweise diese Transformation ins Übermenschliche. Ihre mystischen Erfahrungen gewinnen Heilscharakter für den Rest der Menschheit. Sie sind die Leitbilder und Bahnbrecher für eine neue Menschheit. Welchen Dienst aber leisten wir Menschen, wenn wir sie ins Übermenschliche erheben? Wir dienen ihnen und überfordern sie.

Zweitens überfordert der Anspruch, im Gefolge Aurobindos und seiner Mutter, neues, zukünftiges Menschsein zu gestalten oder doch anzusteuern, wie jede Utopie auch die Jüngerschar. Nicht dass Streitigkeiten unter Nachfolgern nicht auch andernorts sich fast zwangsläufig einstellen. Die Nachgeborenen sind in ihren eigenen Augen immer je die authentischsten Schüler des Meisters. Aber in einer Gemeinschaft, die Utopie leben will, stossen jede Rechthaberei und jeder Zwist besonders hart auf die spirituelle Vorgabe. Die langen Auseinandersetzungen zwischen dem Aurobindo-Ashram in Pondicherry und den Aurovillianern und zwischen dem Ashram und der Gruppe, die sich ums Projekt Mirapuri schart, rückt die Vision vom Übermenschen kritisch betrachtet wieder in jene utopische Ferne, aus der Aurobindo sie in seiner Vertrautheit mit dem Göttlichen seinerzeit befreite.

Drittens zeigt die Aurobindo-Schülerschaft wie jede radikal guruorientierte Bewegung auch in ihren durchaus verschiedenartigen Ausprägungen ein gewisser Hang zur Sterilität. Der Meister und die Mutter können und dürfen kaum überboten werden, auch wenn das Konzept einer fortlaufenden Transformation ins Göttliche dies grundsätzlich zugestehen würde. Der Meister und die Mutter bleiben trotzdem das Mass aller Dinge. Was die Schülerschaft leistet, ist im besten Fall Kopie und Repetition. So wirkten und wirken Aurobindo und die Mutter nicht nur inspirativ, sondern auch in mancher Hinsicht normativ. Normierte Schüler aber sind klägliche Vorboten des Übermenschen.

Georg Schmid, 2006
Letzte Aenderung 2006, © gs 2006, Infostelle 2000
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