#WWG1WGA. Religiöse Elemente in der QAnon-Bewegung

I feel God led me to Q. I really feel like God pushed me in this direction. I feel like if it was deceitful, in my spirit, God would be telling me ‹Enough’s enough.› But I don’t feel that. I pray about it. I’ve said, ‹Father, should I be wasting my time on this?› … And I don’t feel that feeling of I should stop. (vgl. LaFrance 2020)

Hauptseminararbeit Religionswissenschaft

Kultur- und Sozialwissenschaftliche Fakultät 

Asia Petrino

09. Juli 2021

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Von Pizzagate zu QAnon

Basic Story

Religiöse Elemente

Gemeinschaft und kollektives Zugehörigkeitsgefühl

Dualismus Gut – Böse

Q und Trump als Propheten

Apokalyptische (Bild-) Sprache

Fazit

Literaturnachweis

Einleitung

Q, der 17. Buchstabe des Alphabetes, ist nicht länger nur ein Buchstabe, sondern Bezeichnung für einen Verschwörungsglauben mit AnhängerInnen weltweit. Aussergewöhnlich schnell hat sich das «Q-Fieber» von den Vereinigten Staaten aus global verbreitet, sodass die herkömmliche Annahme, bei VertreterInnen von Verschwörungstheorien handle es sich um ein paar einsame Nasen, die mit von Fettflecken übersäten Kleidern den lieben langen Tag vor ihren Laptops sitzen und eine obskure Website nach der anderen anklicken, die bunt gemischte QAnon-Anhängerschaft längst nicht mehr ergreifen mag. Mit hoher Wahrscheinlichkeit bist du (bewusst oder unbewusst) schon jemandem begegnet, der sich mit der Bewegung identifiziert, vielleicht deine nette Nachbarin oder der Typ neben dir im Bus. 

Je grösser die Gemeinschaft wird, desto mehr rückt sie auch in den Fokus der Medien. Dabei fällt besonders auf, dass die Gruppierung bei einer grossen Anzahl der Berichterstattungen als (neue) Religion bezeichnet, oder zumindest damit verglichen wird: «Die Bewegung ‹QAnon› wird zur Religion» (vgl. Röther 2020), «Verschwörungsglaube ‹QAnon›: Entsteht da eine neue Religion?» (vgl. Eimuth 2020) und «‹QAnon ist eine Ersatzreligion›: Ein Experte sagt, warum so viele Schweizer an Verschwörungstheorien glauben» (vgl. Eiholzer 2020a) sind nur zwei von zahlreichen Beispielen. Ob als Ersatz-, Quasi-, oder «vollwertige» Religion, der mediale Diskurs bringt die beiden Phänomene miteinander in Verbindung. Erstaunt über diese Beobachtung entschied ich mich dazu, ihr im Rahmen dieser Seminararbeit näher auf den Grund zu gehen und Antworten auf entstandene Fragen zu finden. Ich sah mich nämlich mit der Unsicherheit konfrontiert, in welche Kategorie QAnon überhaupt einzuordnen ist, denn entgegen meinen Erwartungen las und hörte ich von der jungen Bewegung nicht nur als Verschwörungstheorie, sondern auch immer wieder als neuer (amerikanischer) Stern am Religionshimmel. Wie jetzt? Sind wir live bei der Geburtsstunde einer neuen Religion dabei? Oder handelt es sich bei solchen Argumenten doch nur um übereilig getroffene Konklusionen? Je mehr ich über das Thema recherchierte, desto mehr Parallelen fielen mir auf zwischen der Organisation und den Inhalten von QAnon auf der einen, und religionswissenschaftlichen Definitionsansätzen und Themenbereichen auf der anderen Seite. 

Ziel dieser Hauptseminararbeit ist deshalb herauszufinden, inwiefern die QAnon-Bewegung als Religion bezeichnet oder mit Religion(en) verglichen werden kann und inwieweit eine solche Korrespondenz aus religionswissenschaftlicher Perspektive untermauert werden kann. Lassen sich im religionswissenschaftlichen Diskurs häufig verwendete Bestimmungen von Religion und religiöser Ausübung finden, die auch auf die Bewegung und ihre AnhängerInnen zutreffen (siehe Kapitel «Religiöse Elemente»)? 

Die Relevanz obengenannter Fragestellungen ergibt sich schon allein aus der Tatsache, dass es sich bei QAnon um eine sehr junge Bewegung handelt. Folglich ist sie im medialen, öffentlich-politischen sowie wissenschaftlichen Diskurs auch heute noch ein aktuelles und stark diskutiertes Thema. Gerade im Bereich der Wissenschaft lassen sich die Artikel und Forschungsberichte über die Verschwörungstheorie an einer Hand abzählen, weshalb auch diese Seminararbeit zu einem grossen Teil auf Zeitungsberichten und anderen nicht-wissenschaftlichen Veröffentlichungen basiert. Angesichts der in rasantem Tempo ablaufenden Verbreitung von QAnon und den damit verbundenen Auswirkungen, die sich nicht mehr nur auf den digitalen Raum beschränken, sehe ich eine Auseinandersetzung mit der Gruppierung jedoch als notwendig an. 

Von Pizzagate zu QAnon

Um die Entstehungsgeschichte von QAnon grundlegend erfassen und auch verstehen zu können, muss bis zum Oktober 2016 ausgeholt werden. Auf der Website 4chan[1] kursierte damals die heute als Pizzagate bekannte Verschwörungserzählung, Hillary Clinton betreibe im Keller der Pizzeria Comet Ping Pong in Washington, D.C. einen Kindersexring. Das Gerücht entstand, als auf Wikileaks mehrere Emails von John Podesta, ehemaliger Stabschef des Weissen Hauses und Vorsitzender von Clintons Wahlkampagne, veröffentlicht wurden, in welchen er sich unter anderem mit dem Restaurantbesitzer James Alefantis über geplante Spendenaktionen ausgetauscht hatte. Dabei wurde der Comet Ping Pong mehrmals erwähnt. Die Verknüpfung zwischen den publizierten Emails und Clintons angeblichem Kindersexring kam schliesslich durch bekannte Trump-Anhänger wie Mike Cernovich und Alex Jones zustande, die behaupteten, die Nachrichten seien ein Beweis für den in der Pizzeria stattfindenden rituellen Kindermissbrauch. Zur Untermauerung ihrer These führten die beiden verschiedene Argumente auf, bspw. dass einzelne in den Mails verwendete Wörter wie «Pizza» und «Pasta» in Wahrheit Codewörter für «Mädchen» und «Jungs» seien. Ihre Annahmen verbreiteten sich, wenn auch vorerst nur im Internet, wie ein Lauffeuer und fanden schliesslich auch auf besser bekannten und disponiblen Seiten wie YouTube und Twitter Zugang (vgl. LaFrance 2020).

Für einige User stellten Cernovichs und Jones Anschuldigungen gar Anlass zum Handeln dar. So entschied sich Edgar Maddison Welch, ein mittlerweile bekannter Anhänger von Pizzagate, am 4. Dezember 2016 dazu, « […] to sacrifice ‹the lives of a few for the lives of many› and to fight ‹a corrupt system that kidnaps, tortures and rapes babies and children in our own backyard›» (vgl. ebd.). Bewaffnet betrat er an diesem Tag die Pizzeria Comet Ping Pong, um die angeblich festgehaltenen und missbrauchten Kinder aus den Händen des Clinton Kindersexrings zu befreien. Als er dann aber bemerkte, dass die Pizzeria gar keinen Keller besitzt, stellte er sich freiwillig der Polizei. Nun könnte man meinen, dass Welch’s gescheiterte Rettungsmission auch der im Internet kursierenden Pizzagate-Erzählung ein Ende gesetzt hat, doch viele der Sympathisanten hatten einen Weg gefunden, um über die Comet Ping Pong-Episode hinauszugehen. Die Kernprämissen von Pizzagate wurden auf 4chan und Reddit recycelte, überarbeitet und uminterpretiert, sodass der Glaube an eine mächtige Elite mit bösartigen Absichten und Verbindungen zum linken Flügel, den Demokraten und vor allem zu Hillary Clinton weiter auflebte. Schliesslich entstand aus Pizzagate eine Bewegung, die heute unter dem Namen QAnon bekannt ist (siehe Kapitel «Basic Story») (vgl. ebd.).

Ihren Anfang nahm sie im Oktober des darauffolgenden Jahres, als die anonyme Internetfigur Q die ersten Nachrichten auf dem message board 4chan postete. Q behauptet von sich, ein Geheimdienstoffizier bzw. Militärbeamter mit «Q Clearance» zu sein, einer Freigabestufe für Geheiminformationen einschliesslich Nuklearwaffenplänen und anderem hochsensiblen Material. Wer hinter dem Pseudonym steckt und ob es sich dabei um eine Einzelperson, oder aber eine ganze Gruppe handelt, ist bis heute nicht bekannt (vgl. ebd.). 

Als sich auf Trumps Kundgebungen immer mehr Menschen mit Slogans und T-Shirt Aufdrucken wie «We are Q», oder dem Hashtag #WWG1WGA (Where We Go One We Go All) finden liessen, wurde dann spätestens im Sommer 2018 auch die allgemeine Öffentlichkeit auf die Bewegung aufmerksam. QAnon hatte sich in der realen Welt manifestiert und konnte nicht länger als blosse Social-Media-Erscheinung aufgefasst werden. Zeitungen und Fernsehsender, darunter die New York Times, Washington Post und NBC News berichteten von der Verschwörungserzählung, die sich mit einer enormen Geschwindigkeit in verschiedensten (digitalen) Bereichen ausbreitet (vgl. ebd.). Auf Apple Store kam es zu einer Download-Welle von mit QAnon in Verbindung stehenden Apps und auch ein damit zusammenhangendes YouTube-Video erhielt bis August 2018 rund 203’000 Views (Fee 2019: 525). 

Basic Story

Das QAnon-Universum zeichnet sich durch eine Vielfalt von Annahmen, Themenschwerpunkten und einer heterogenen Anhängerschaft aus. Trotzdem lässt sich bei umfassender Betrachtung eine gemeinsame Kernerzählung erkennen: In Wahrheit wird die Welt von einer Elite gesteuert und kontrolliert, die sich zusammen mit dem sogenannten Tiefenstaat (engl.: Deep State) gegen die noch ahnungslose Globalbevölkerung und ganz besonders gegen Donald Trump verbündet hat. Dabei setzt sich diese Gruppe von BösewichtInnen aus satanistischen und pädophilen PolitikerInnen, Promis, besonders wohlhabenden und/oder einflussreichen Personen, Medienschaffenden und anderen unbekannten DrahtzieherInnen zusammen (vgl. Eiholzer 2020a). Trotz angeblicher Demokratie regiert allein diese Gruppe und beeinflusst als Verschwörung alle Bereiche unseres Lebens (vgl. LaFrance 2020). Um dies noch lange tun zu können, halten sie in Kellern und Tunnelsystemen Kinder gefangen und zapfen ihnen mittels Folterritualen Blut ab, um daraus das verjüngend wirkende Adrenochrom[2] zu gewinnen (vgl. Eimuth 2020). Trump wiederum wurde von hochrangigen Personen des Militärs zur Kandidatur für das Präsidentenamt überredet, damit er gemeinsam mit dem Geheimdienstler Q gegen den Komplott vorgehen kann[3] (Fee 2019: 525f). Dieser Kampf wird zu einem Tag der Abrechnung mit Massenverhaftungen, Inhaftierungen nach Guantanamo Bay und Erschiessungen von Elitemitgliedern führen, bei welchem die Welt von diesen Verbrechern befreit werden wird (vgl. Eiholzer 2020b). 

Das ist die Grundbotschaft, die sich als roter Faden durch die unzähligen Mitteilungen und Theorien des QAnon-Universums zieht und somit das vereinende Moment der Bewegung bildet. 

Religiöse Elemente 

Die beiden vorhergehenden Kapitel dienen einer ersten Charakterisierung von QAnon. Diese ist aufgrund der dünnen Forschungslage und starken (organisatorischen und inhaltlichen) Heterogenität der Gruppe notwendig, um auf weitere Fragen eingehen zu können. Nun grenze ich den geweiteten Blick wieder ein und widme mich in einem nächsten Abschnitt der Hauptfragestellung: Inwiefern kann QAnon als Religion bezeichnet werden bzw. kann ein Vergleich der Bewegung mit Religion(en) aus religionswissenschaftlicher Perspektive legitimiert werden? 

Um die Frage(n) am Ende der Arbeit beantworten zu können, habe ich innerhalb der QAnon-Gruppierung, d.h. betreffend ihrer Organisation und ihren Überzeugungen, nach bestimmten religiösen Elementen gesucht. Unter einem solchen religiösen Element verstehe ich Definitionsansätze und Theorien über Religion und Religionsausübung, die sich in der Religionswissenschaft etabliert haben und innerhalb der Disziplin dementsprechend oft anzutreffen sind. Dabei beschränke ich mich nicht einzig auf substanzielle[4] oder funktionale Religionsbegriffe[5], sondern mache von beiden Gebrauch. Auch fokussiere ich mich nicht nur auf Ansätze und Theorien eines/einer spezifischen AutorIn oder eine konkrete religionswissenschaftliche Strömung. Verwendete substanzielle Elemente beziehen sich alle auf das Christentum, sind aber genauso bei anderen Religionen als Definitionsansätze üblich. 

Die folgenden fünf Unterkapitel behandeln jeweils ein solches religiöses Element. Dabei sind alle nach demselben Schema aufgebaut: Für jeden Abschnitt habe ich in einem QAnon gewidmeten Telegram-Gruppenchat Nachrichten herausgesucht, die den entsprechenden religionswissenschaftlichen Ansatz innerhalb der Bewegung und ihren Überzeugungen widerspiegeln. Die Screenshots befinden sich am Anfang der Passagen und leiten in die Thematiken ein (Aus Datenschutzgründen wurden die Screenshots gelöst). Danach erläutere ich auf einer theoretischen Ebene das jeweilige Element im Kontext der Religionswissenschaft und wende den Ansatz dann auf die QAnon-Bewegung an. Immer mit der Frage im Hinterkopf, ob die substanziellen und funktionalen Definitionsansätze auch auf die Gruppierung zutreffen, arbeite ich im Zuge dessen mögliche Vergleichspunkte und Parallelen heraus. Die Unterkapitel hängen stark miteinander zusammen und ergänzen sich zum Teil gegenseitig. Eine ausführliche Beantwortung obengenannter Fragen würde den vorgegebenen Rahmen einer Hauptseminararbeit sprengen, weshalb sich meine Ausführungen nur oberflächlich halten. 

Gemeinschaft und kollektives Zugehörigkeitsgefühl

Die gemeinschaftsbildende Funktion von Religion ist nebst der weltanschaulichen, ethnischen und psychischen Wirksamkeit eines der populärsten und meistgenannten Kriterien im Bereich der funktionalistischen Religionsdefinition. Diese bestimmt Religion nicht über ihren Inhalt, sondern versteht sie als menschliche Institution mit einer Funktion für die Gesellschaft. Einer der bedeutsamsten Wegbereiter für diesen Ansatz war Émile Durkheim mit seinem Werk Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Durkheim mass der Religion für das gemeinsame Leben und Gefühl der Zusammengehörigkeit eine zentrale Rolle bei und stellte sie infolgedessen in den Mittelpunkt seiner soziologischen Studien. Durch die Verbindung von Gruppenemblemen, Symbolen und Riten mit bestimmten Verhaltensregeln, werden in Religionen Glaubens- und Handlungsorientierungen geschaffen, die den Gemeinschaftssinn und die Verbundenheit einer Gruppe stärken und aufrechterhalten (Pickel 2011: 80). Durkheims Religionsverständnis kreist damit weniger um eine transzendente Göttlichkeit, sondern basiert viel mehr auf religiösen Praktiken und ihren Wirkungen:

In diesem Sinne definiert Durkheim Religion folgendermassen: ‹Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören› (Durkheim 1912:75). (Heiser 2018: 59)

Betrachtet man das QAnon-Universum aus dieser funktionalistischen Perspektive und bezieht man dabei Durkheims Überlegungen mit ein, lässt sich die Anziehungskraft der Bewegung für die Millionen von Anhängern zu einem grossen Teil erklären. Dieses Verständnis ist angesichts der in rasantem Tempo ablaufenden Verbreitung von QAnon und den damit verbundenen Auswirkungen dringend wichtiger geworden. In einem nächsten Schritt soll also ebenjene funktionalistische Brille aufgesetzt und die QAnonBewegung aus diesem spezifischen Blickwinkel genauer untersucht werden. 

Die Mitteilungen von Q und der Austausch der QAnons auf Nachrichtendiensten wie Telegram nachverfolgen und überhaupt erst verstehen zu wollen, gleicht dem Vokabellernen bei der Aneignung einer Fremdsprache. Treffend dazu hält Adrienne LaFrance in ihrem Online-Artikel folgende Beobachtung fest: 

The QAnon universe is sprawling and deep, with layer upon layer of context, acronyms, characters, and shorthand to learn. (vgl. LaFrance 2020)

So ist mit «castle» das Weisse Haus und mit «crumbs» die angeblichen Hinweise in den von Q geposteten Nachrichten (sogenannte Q-Drops) gemeint. «Calm before the storm» wird mit CBTS abgekürzt und WWG1WGA steht für den Slogan «Where We Go One We Go All», welcher als Solidaritäts- und Zugehörigkeitsbekundung unter den AnhängerInnen verwendet wird und in vielen ihrer digitalen Nachrichten als Abschlussformel zu lesen ist. Weiter gibt es auch eine «Q clock». Diese impliziert einen Kalender, der auf Basis von Zeitangaben und -stempeln zur Decodierung von Q-Drops und Trump-Tweets verwendet wird. Kurz: Für eine aussenstehende Person erscheint der Austausch nicht nur zwischen Q und seinen AnhängerInnen, sondern auch unter den FollowerInnen selbst verschlüsselt und zusammenhangslos. Das wiederum bedeutet, dass man sich der Bewegung umso mehr zugehörig fühlt, hat man das QAnon-Einmaleins gelernt. Zu dessen Grundlagen zählen nicht nur die obengenannten Codewörter und Abkürzungen, die von QAnons fast schon rituell in Posts zitiert und auf Kleidung und Plakate für Demonstrationen gedruckt werden, sondern auch Symbole wie der Buchstabe Q, ein weisser Hase, oder eine Kombination der beiden. Der Hase als QAnon-Gruppentotem erscheint oft zusammen mit Phrasen wie «down the rabbit hole» und «follow the white rabbit» (siehe Abbildung 4), beides Anspielungen auf die Erzählungen Alice im Wunderland und The Matrix. Ob bei den Phrasen oder den beiden Filmen, die Kernbotschaft ist dieselbe: Bist du genug wachsam und gehst dem noch so kleinsten Zweifel nach, wirst du die verborgene Welt der Verschwörungen und die allen Dingen zugrundeliegende Wahrheit erkennen. Die Metapher des/der wachsamen Hasen/Häsin impliziert dabei die Aufforderung, als AnhängerIn der Bewegung jeglichen Medien, dem Staat und seinen Eliten zu misstrauen und infolgedessen Zeitungen zu deabonnieren, durch keine Tagesschauen zu zappen und Informationen exklusiv aus QAnon-message boards, Foren und Chats zu beziehen (vgl. Röther 2020). An diesem Punkt lässt sich nun ein klarer Bogen zur Anfangs erläuterten Theorie Durkheims schlagen: Durch die unzähligen Abkürzungen, Codewörter, Metaphern und Symbole und deren Zusammenwirken mit bestimmten Verhaltensregeln, wird dem/der einzelnen Gläubigen eine Identifikationsgrundlage sowie Orientierungshilfe für das eigene Handeln und den eigenen Glauben bereitgestellt. Auf die gesamte Bewegung bezogen, wird damit der Zusammenhalt unter den AnhängerInnen gestärkt. Dadurch, dass untereinander in einer Art Geheimsprache kommuniziert wird, tritt auch die Grenze zwischen «Wir» und «Ihr» unverkennbar hervor: Das Erlernen des QAnon-Einmaleins kommt einer Eintrittskarte in die Gruppe gleich und ermöglicht den Austausch mit Gleichgesinnten. Auch ist es die Basis dafür, die Q-Drops entschlüsseln und darin enthaltene Handlungs- und Glaubensanweisungen verstehen und befolgen zu können.  

An dieser Stelle soll jedoch auch darauf hingewiesen werden, dass genannte Begriffe wie «Gemeinschaft», «Bewegung» und «Wir» mit einer Prise Skepsis gelesen und verwendet werden müssen. Solche Wörter suggerieren eine homogene Gruppe von Menschen, die im Falle der QAnon-Bewegung (und bei vielen anderen Gruppierungen auch) nicht der Realität entspricht. Passend dazu hält LaFrance in ihrem Artikel folgende Beobachtung fest: 

You can’t always tell what kind of Q follower you’re encountering. Anyone using a Q hashtag could be a true believer, like Shock [Teilnehmer einer Wahlkampfveranstaltung Donald Trumps], or simply someone crusing a site and playing along for a vicarious thrill. Surely there are people who know that Q is a fantasy but participate because there’s an element of QAnon that converges with a live-action role-playing game. (vgl. LaFrance 2020)

QAnon-AnhängerIn ist also nicht gleich QAnon-AnhängerIn. Auch bezüglich der Glaubenssätze besteht eine grosse Heterogenität, nicht alle QAnons halten dieselben Dogmen und Deutungen für wahr. So herrscht zwar ein weitgehender Konsens hinsichtlich des bevorstehenden Erwachens der Menschheit (siehe Kapitel «The Great Awakening»), bei Annahmen im Hinblick auf das Hier und Jetzt gehen die Meinungen allerdings wieder auseinander (vgl. ebd.). Bspw. zählen zurzeit kursierende Theorien betreffend dem neuartigen Covid-19 Virus zu solchen unstrittigen Annahmen. Auch lassen sich länderspezifische Differenzen finden. Bei den Schweizer Q-FollowerInnen stellt Donald Trump als Heilsbringer denjenigen Teil der Erzählung dar, der sich am wenigsten durchzusetzen scheint. Viele von ihnen teilen zwar den Glauben an eine satanistisch-pädophile Elite, der USPräsident wird dabei aber nicht erwähnt. Im Gegensatz dazu wird er von der überwiegenden Mehrheit der amerikanischen VertreterInnen als Helden angepriesen (vgl. Eiholzer 2020a). 

Dualismus Gut – Böse

Abbildung 2: Q-Drop auf qanon.pub, eigener Screenshot vom 10.November 2020 

Abbildung 5 ist ein Beispiel eines Q-Drops, der am 6. Oktober 2020 auf qanon.pub gepostet wurde. Haben Sie verstanden, was Q mit diesem Post aussagen will? Ich auch nicht. Der Screenshot macht deutlich, weshalb von der Decodierung und nicht vom blossen Lesen dieser Drops gesprochen wird. Das Ganze läuft dabei wie ein Spiel ab: Q verfasst seine Nachrichten in verschlüsselter und kryptischer Form und veröffentlich diese als Rätsel, ohne weitere Hinweise oder Interpretationsansätze mitzugeben. Es liegt dann an den QAnons, die Q-Drops zu deuten und die angeblich darin enthaltenen Informationen, sogenannte crumbs, herauszufiltern. Nicht selten handelt es sich dabei um Bezüge zu apokalyptischen, religiösen Motiven wie dem prophezeiten Endkampf zwischen Gut und Böse. 

In den meisten uns bekannten Religionen stellt dieser Dualismus eine Kernsubstanz der jeweiligen Glaubenslehre dar. So kennt das Christentum im Kampf zwischen Himmelreich und Hölle eine solche Kontrastierung von Gut und Böse. Beiden Polen ist zusätzlich ein «Herr» zugeteilt, wobei auch diese zwei metaphysischen Wesen im Gegensatz zueinanderstehen: Gott hat den Chef Sitz im Himmel inne, Satan regiert das Reich der Finsternis. Von den meisten Theologen wird dabei jedoch betont, dass zwischen Gott und Satan kein Gleichgewicht besteht. Letzterer ist ein Geschöpf Gottes und ihm deshalb untertan. Das Ur-Gute und Ur-Böse ist für gläubige Christen nicht nur eine weitere Glaubensvorstellung, sondern wird auch als Orientierungshilfe für das eigene Handeln verstanden. Demnach ist jedem Menschen die Wahlmöglichkeit gegeben, sich zwischen einer guten und schlechten Tat zu entscheiden. Der Endkampf zwischen Gut und Böse ist im Christentum also, wie in vielen anderen Religionen auch, festes Dogma der Theologie und internalisierte Handlungsanweisung ihrer Glaubensmitglieder (Bossart 1992: 1f.). 

Im Falle der QAnon-Bewegung treten nicht Gott und Satan, sondern die Gruppe der Erwachten und die Player des Deep State den kosmischen Endkampf an. Let’s get ready to rumble! Auf der einen Seite haben wir also die Gruppe der Bösen. Dazu zählen all diejenigen, die sich den Staat insgeheim aufgeteilt haben: SatanistInnen, Juden/Jüdinnen, Homosexuelle, DemokratInnen, Massenmedien, korrupte Politiker wie Barak Obama und Hillary Clinton und einflussreiche Personen wie Bill Gates. Ihre Gegner erscheinen ebenso zahlreich: Zur Gruppe der Guten zählen (logischerweise) alle QAnons, die Dank Q und seinen Berichten die Wahrheit erkannt haben und sich somit als erwacht bezeichnen dürfen. Gemeinsam mit ihnen kämpft auch Donald Trump gegen die hinterlistige Elite. Vom Weissen Haus aus geht er den Kampf auf politischer Ebene an und wird, so Q, jeden/ jede PatriotIn in dieser Schlussrunde leiten (siehe Kapitel «Q und Trump als Propheten»). 

Was hierbei besonders spannend ist, ist das interaktive Moment. Als Alleinstellungsmerkmal unterscheidet es die QAnon-Bewegung von Verschwörungserzählungen, bei welchen die Anhängerschaft zwar von einer angeblichen Intrige weiss, jedoch keine Möglichkeit auf ein Mitwirken im Endkampf zwischen Gut und Böse hat. Im Gegensatz zu dieser passiven Haltung kommt den AnhängerInnen von Q eine aktive Rolle als RechercheurInnen und VerbreiterInnen der Wahrheit zu (Fee 2019: 525f.). Das folgende Zitat aus dem Video «Q for Beginners Part 1» von David Hayes, einem der bekanntesten QAnon-Evangelisten, verdeutlicht diese Charakterisierung: 

Some of the people who follow Q would consider themselves to be conspiracy theorists, I do not consider myself to be a conspiracy theorist. I consider myself to be a Q researcher. I don’t have anything against people who like to follow conspiracies. That’s their thing. It’s not my thing. (vgl. LaFrance 2020)

Die QAnons kennen zwei Selbstbezeichnungen für die Rolle, die sie in der Bewegung innehaben: Sie sind BäckerInnen (engl.: baker) und digitale SoldatInnen zugleich. Die Metapher des/ der BäckerIn bzw. des Backens verweist dabei auf eine Aufgabe, die ich bereits am Anfang dieses Unterkapitels erläutert habe: Die in den Q-Drops enthaltenen Krümel (engl.: crumbs) gilt es herauszupicken und zu einem ganzheitlichen Teig (engl.: dough) zusammen zu kneten. Oder andersgesagt: In verschlüsselter Weise enthüllt Q in seinen Nachrichten angebliche Regierungsgeheimnisse und Hinweise zum «finalen Programm», macht Prophezeiungen oder bietet Deutungsansätze für aktuelle Geschehnisse. All diese Hinweis-Krümel werden dann von den AnhängerInnen entschlüsselt und in das allumfassende QAnon-Weltbild integriert. Sie und Q stehen also via elektronischer Beiträge in ständigem Austausch miteinander. Als seine SoldatInnen sehen sie ihre Pflicht darin, die Botschaften von Q zu verbreiten und möglichst viele noch im Dunkeln tappende Menschen auf die Verschwörung aufmerksam zu machen. Dabei sind einige aktiver als andere. Q-FollowerInnen mit knappen Zeitressourcen können sich auf zusammenfassende Analysen und Updates verlassen, die von engagierteren BäckerInnen in Form von Artikeln, Textnachrichten oder Videos auf QAnonWebsites und -Chats geteilt werden (vgl. LaFrance 2020). 

Ebendieser Aspekt des Mitwirkens scheint auch die grösste Gefahr darzustellen, die von der Bewegung ausgeht. Denn treten von Q gemachte Prophezeiungen nicht ein, oder wird Trump an der Umsetzung des Erlösungsplans gehindert, könnten besonders radikale AnhängerInnen den Kampf gegen das Böse komplett selbst in die Hand nehmen (vgl. Huesmann 2020). Einige besonders aufsehenerregende Nacht-und-Nebel-Aktionen haben das bestehende Risiko aufgezeigt, wenn QAnons auf eigene Faust gegen an einer angeblichen Verschwörung beteiligte Einzelpersonen, Gruppen oder Institutionen vorgehen (ob geplant oder bereits umgesetzt). So hat das FBI die QAnon-Bewegung als Terrorgefahr eingestuft und in einem internen Memo unter anderem einen Mann erwähnt, bei welchem Materialien zum Bau einer Bombe gefunden wurden. Nach seiner Festnahme im Jahr 2018 sagt dieser aus, er habe die Hauptstadt von Illinois angreifen wollen, um auf Pizzagate und «The New World Order» (NWO) aufmerksam zu machen (vgl. LaFrance 2020). 

Q und Trump als Propheten 

Die vorhergehenden Ausführungen zum substanziellen Element des Dualismus zwischen Gut und Böse legen den Vergleich von Q und Trump mit Personen prophetischer Natur nahe, wie man sie aus dem Christentum, Judentum, Islam und anderen Religionen kennt. Wie beim Religionsbegriff selbst, hat sich in der Religionswissenschaft keine allgemein anerkannte ProphetInnen-Definition durchgesetzt. Es lässt sich jedoch eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Prophetenverständnis in der religionsgeschichtlichen Literatur der Zeit um 1900 finden. Darin dominiert die Auffassung eines/ einer ProphetIn als eine Persönlichkeit von ausgeprägter Individualität. Sie wirken von aussen in die Geschichte ein, wobei ihr Handeln nicht extrinsisch, sondern intrinsisch aufgrund eigener Überzeugungen und einem «inneren Zwang des Gewissens» motiviert ist (Lang 2001: 169). Ihrer Anhängerschaft verkünden ProphetInnen auf möglichst einfache Weise eine einheitliche Lebensauffassung, ein Lebensideal, das Teil der von ihnen vertretenen Lehre ist. Dazu schreibt der evangelische Theologe Wilhelm Bousset: 

Was den Propheten offenbar geworden ist, und was sie verkünden, das ist eine einheitliche, in sich geschlossene Überzeugung vom Inhalt und Wesen des Lebens, seinen tiefsten Fundamenten und seinen höchsten Zielen. Es ist ein wirklich einheitliches Ganzes, eine geschlossene Überzeugung, die in wenigen Sätzen zusammengefasst werden kann, nicht mehr ein buntes Vielerlei von Gewohnheiten, Herkommen, Volkssitten, kultischen und rituellen Forderungen, ekstatischen Äusserungen, moralischen Sätzen. (ebd.: 169f.)

Es sind auch die Anhänger*innen, die Menschen prophetischer Natur ihre fast schon göttliche Gestalt verleihen, so Bousset weiter (ebd.: 169). 

Auf diese um 1900 vorherrschenden Ansichten gestützt, weisst die QAnonBewegung mit der Internetfigur Q und Donald Trump gleich zwei Propheten auf. Der grosse Unterschied zwischen den beiden liegt dabei in der Art und Weise, wie sie sich ihren Gefolgsleuten zeigen: Q agiert anonym und kommuniziert ausschliesslich in der digitalen Welt. Weder ist bekannt, ob es sich dabei um eine Einzelperson oder eine ganze Gruppe handelt, noch weiss man, ob der Status «Q Clearance» wirklich zutrifft. Im Gegensatz dazu ist das prophetische Sein und Tun von Trump nicht nur auf das Internet beschränkt. Als Präsident der Vereinigten Staaten ist er der Prophet in Fleisch und Blut, der auch abseits des digitalen Raumes von QAnonFollowerInnen verehrt werden kann. Mehr noch, die Würdigung ihm gegenüber können sie an seinen Veranstaltungen, Auftritten und Wahlkämpfen ganz real und in Gemeinschaft ausleben. 

Schlicht und einfach wäre es, wäre der Vergleich damit getan. Doch obwohl nach der Definition von Bousset sowohl Q wie auch Trump als prophetische Personen bestimmt werden können, gibt es zwischen den beiden einen weiteren, entscheidenden Unterschied – mehr noch, eine hierarchische Aufteilung: Was die Umsetzung des finalen Plans betrifft, werden Q und Trump innerhalb der Bewegung gleichermassen eine Schlüsselfunktion zugesprochen. Doch als alleiniger Verfasser der Q-Drops (so scheint es zumindest) kommt es nur ersterem zu, die hungrigen QAnon-Mäuler mit breadcrumbs zu füttern (siehe Kapitel «Gemeinschaft und kollektives Zugehörigkeitsgefühl»). Das hat zur Konsequenz, dass Trump nicht darüber (mit-) entscheiden kann, was und wer in den Nachrichten erwähnt wird. Versteht man die digitalen Mitteilungen in diesem Kontext als Heilsbotschaften, die innerhalb der Gemeinschaft und über deren Grenzen hinweg verbreitet werden, so erfüllt also nur Q diese weitere prophetische Eigenschaft. 

Kommen wir nochmals genauer auf die Q-Drops zu sprechen – das hierarchische Gefälle zwischen den beiden Propheten spiegelt sich nämlich auch in deren Inhalt wider. Neben Updates über aktuelle Geschehnisse, Prophezeiungen bezüglich des bevorstehenden Endkampfes zwischen Gut und Böse und hochgeheimen (Regierungs-) Informationen, ist auch der Präsident der Vereinigten Staaten ein immer wiederkehrendes Motiv. In den Drops erinnert Q seine AnhängerInnen kontinuierlich daran, dass Trump als ihre Erlösungsfigur den Schlachtzug anführt und sie beim Kampf gegen die Mitglieder des Tiefenstaates unterstützt. Viele der crumbs beinhalten daher Hinweise für das von den beiden Propheten ausgetüftelte finale Programm und warnen vor dem Versuch des Deep States, Trump am Handeln zu unterbinden und dadurch den Endkampf für sich zu gewinnen. So sollen seine Mitglieder beabsichtigt haben, Trumps Gipfeltreffen 2018 in Nordkorea zu verhindern oder Flugzeuge der US Air Force abzuschiessen (Fee 2019: 525f.). Ich fasse den Gedankengang dieses Abschnittes nochmals zusammen: Auf der Propheten-Hierarchie befindet sich Trump also nicht nur deswegen weiter unten als Q, weil er schlichtweg keine Entscheidungsmacht über den Inhalt und die Form der Drops hat, sondern auch, weil es Q ist, der ihm seine Rolle und sein Ansehen innerhalb der Bewegung überhaupt erst verleiht. Die Wichtigkeit von Trump als QAnon-Prophet wäre bedeutend kleiner, würde Q das Narrativ nicht so auslegen, dass ihm die Heldenrolle in der analogen Welt zukommt. 

Diese Darstellung(en) verwendet Trump zu seinem eigenen Vorteil. Indem er mit der QAnon-Bewegung flirtet, stärkt er seine politische Macht, sichert sich die Loyalität seiner AnhängerInnen und gewinnt im selben Augenblick neue dazu. So sind zwar bis jetzt noch keine verlässlichen Zahlen publiziert worden, es kann aber mit Sicherheit behauptet werden, dass die allermeisten QAnon-Followers auch Donald Trump ihre Unterstützung zusagen. Nicht nur findet man an seinen Wahlkämpfen und anderen Veranstaltungen immer mehr Menschen mit QAnon Merch, auch betonen bei Interviews die meisten von ihnen, dass sie Q und Trump gleichermassen Vertrauen schenken – als Weltretter und verlässliche Informationsquelle. So berichtet LaFrance in ihrem Artikel «The Prophecies of Q. American conspiracy theories are entering a dangerous new phase» von einem Gespräch, welches sie mit zwei Personen an einer Trump Veranstaltung in Toledo, Ohio hatte. Dazu schreibt sie folgendes: 

Shock and Harger rely on information they encounter on Facebook rather than news outlets run by journalists. They don’t read the local paper or watch any of the major television networks. ‹You can’t watch the news›, Shock said. ‹Your news channel ain’t gonna tell us shit.› Harger says he likes One America News Network. Not so long ago, he used to watch CNN, and couldn’t get enough of Wolf Blitzer. ‹We were glued to that; we always have been,› he said. ‹Until this man, Trump, really opened our eyes to what’s happening. And Q. Q is telling us beforehand the stuff that’s going to happen›. (vgl. LaFrance 2020)

Aus diesen Aussagen werden zwei Dinge ersichtlich: Einerseits begegnen wir hier der weiter oben angesprochenen hierarchischen Differenz zwischen den beiden Propheten sowie ihren unterschiedlichen Aufgaben bzw. Rollen innerhalb der Bewegung. Andererseits veranschaulichen die Schilderungen, dass Q und Trump bezüglich ihrer Verehrung und Überzeugungskraft unter QAnon-AnhängerInnen gleichberechtigt sind. Schlussfolgernd ist es für Trump ein Kinderspiel, mit Hilfe von gezielten Anspielungen die Bewegung für sich zu gewinnen. Bspw. zeichnete er an einer Pressekonferenz vom 5. Oktober 2017 mit seinem Finger einen unvollständigen Kreis in die Luft und fragte anschliessend die anwesenden ReporterInnen, ob sie wissen, was diese Geste zu bedeuten hätte. Als diese verneinten, meinte Trump: «Could be the calm – the calm before the storm» (vgl. LaFrance 2020) (siehe Kapitel «Apokalyptische (Bild-) Sprache). Mittlerweile werden seinen Aussagen eine solche Gewichtung beigemessen, dass ihm die QAnon-Gemeinschaft den Spitznamen Q+ verliehen hat. Besonders in seinen Tweets sehen viele eine tiefere Bedeutung, sodass diese genau wie die Q-Drops decodiert und interpretiert werden. Zum Beispiel wurde die Vermutung laut, dass Trump mit den beiden Posts «I am a great friend and admirer of the Queen & the United Kingdom» und «I am giving consideration to a QUARANTINE» insgeheim das Geständnis «I am… Q» ablegt (vgl. ebd.) Aus einzelnen Buchstaben wurde also ein bahnbrechendes Bekenntnis zusammengebastelt – wenn auch völlig aus dem Kontext gerissen. 

An dieser Stelle noch eine kleine Beobachtung, die ich aber nicht weniger bemerkenswert finde: Obwohl Q in seinen Heilsbotschaften bereits einige Prophezeiungen gemacht hat, die schlussendlich nicht eingetroffen sind, hat das der Bewegung nicht geschadet. Auf den ersten Blick erscheint es zwar logisch, dass solche Falschaussagen zwingend eine Verkleinerung der Anhängerschaft zur Konsequenz haben müssen – doch aufgrund des Mottos «Trust the Plan. Enjoy the show. Nothing can stop what is coming» werden falsche Vorhersagen einfach als gewollte Täuschungen abgetan, die Teil des umfassenden Plans sind (vgl. ebd.). 

Apokalyptische (Bild-) Sprache 

Ob wahr oder falsch bzw. stattgefunden oder doch nicht eingetroffen – Prophezeiungen sind also ein fester Bestandteil der Drops und damit auch des umfangreichen QAnon-Narratives. Mehr noch, untersucht man seine einzelnen Bestandteile anhand des Fünf-Punkte-Erzählbogens[6] für die Erfassung chronologischer Konstruktionen in Romanen und Geschichten, so stellt man fest, dass eine ganz spezifische Vorhersage den Höhepunkt des Bogens bildet – die Prophezeiung der Ruhe vor dem Sturm. Sie ist Grundlage für die gesamte Verschwörungserzählung und Hoffnung für die Gläubigen zugleich. Als Spekulation über die Vorzeichen, den Zeitpunkt und Verlauf des Weltunterganges gehört sie zu den apokalyptischen Motiven, denen man in nahezu allen Kulturkreisen und während der gesamten fassbaren Geschichte der menschlichen Zivilisationen begegnet (Tilly 2012:7). 

Auch die christliche Theologie bzw. die Jesusbewegung des frühen Christentums lässt sich ohne Bezugnahme auf übernommene apokalyptische Motive aus dem antiken Judentum nicht verstehen. Michael Tilly schreibt dazu: 

 Apokalyptische Texte und Traditionen sind deshalb ein wichtiger Hintergrund für das umfassende Verständnis der frühchristlichen Religion. Die – zu den Grundlagen des frühchristlichen Glaubens gehörende – Erwartung des nahen Endes der Welt und die im Glauben an die Auferstehung Jesu aus Nazareth begründete Verheissung einer allgemeinen Auferstehung der Toten als Voraussetzung eines vergeltenden Endgerichts nahmen zentrale apokalyptische Motive auf[7]. (ebd.: 89)

Bereits der urchristliche Osterglaube beinhaltet solch aus dem Judentum erworbene Motive. Die Auferstehung des totgeglaubten Jesus wurde von den ersten ChristInnen mit Hilfe apokalyptischer Vorstellungen und Bilder als Machttat Gottes und Zeichen der anbrechenden Endzeit gedeutet. Auch erwarteten sie die Wiederkunft Christi und die bevorstehende Gottesherrschaft auf Erden in unmittelbarerer Zukunft, d.h. noch zu ihren Lebzeiten. Als Angehörige der vorösterlichen Jesusbewegung sahen sie sich als das von Gott exklusiv erwählte, wahre Volk Israels an und lebten in der enthusiastischen Überzeugung, nach dem Weltgericht ein neues Leben geschenkt zu bekommen (ebd.: 89f.).

Soweit die Verknüpfung zur Religionswissenschaft als theoretischer Hintergrund. Wie bereits angesprochen, lässt sich auch innerhalb der Bewegung das substanzielle Element der apokalyptischen Zukunftsvision finden. In diesem Kontext können die QAnon-AnhängerInnen sogar eins-zueins mit den ChristInnen der vorösterlichen Jesusbewegung verglichen werden. Denn mit der Erzählung «Ruhe vor dem Sturm» erwarten auch sie eine Art Weltgericht, bei welchem sie als auserwählte, exklusive Gemeinschaft ohne einen Kratzer davonkommen werden. Der anzunehmende Sturm steht dabei für den von Q angekündigten Tag der Abrechnung mit Massenverhaftungen und Erschiessungen von PolitikerInnen, JournalistInnen und anderen Mitgliedern des Deep States (siehe Kapitel «Basic Story»). Es wird der Tag sein, an welchem die schlafende Weltbevölkerung endlich erwachen und von Q, Trump und all ihren Gläubigen ein «Ha, was haben wir euch die ganze Zeit über gesagt!» zu hören bekommen wird. Die Welt wird danach nicht mehr dieselbe sein, sondern viel, viel besser. Gereinigt von allen BösewichtInnen, müssen sich die Menschen vor keine Verbrechen, Kindesentführungen und Korruptionen mehr fürchten – das Paradies auf Erden. 

Im Qanon-Fachjargon wird dieser Moment des zu sich Kommens «The Great Awakening» genannt. Dabei wird ein grosses Erwachen in doppelter Hinsicht erwartet: Nicht nur wird sich die Öffentlichkeit darüber bewusst werden, dass sie Sklavin eines korrupten Systems geworden ist, sondern durch die Erkenntnis über die Verdorbenheit der Elite werden sich die Menschen auch über die eigene Verwerflichkeit bewusst werden. Und diese Selbsterkenntnis ist fruchtbarer Boden für die zweite, spirituelle Erweckung. Zusammengefasst wird der ganze Prozess also nicht nur ein faktisches, sondern auch ein spirituelles Erwachen zur Folge haben (vgl. LaFrance 2020). 

Betrachtet man diese Überzeugung aus einer psychologischen Perspektive, lässt sich damit auch der Entstehungszeitpunkt und die Anziehungskraft der Bewegung zu einem grossen Teil erklären. In Zeiten gesellschaftlichen Wandels, wie wir sie jetzt erleben, haben Verschwörungserzählungen schon immer grossen Anklang gefunden. Sie bieten ein spezifisches Sinn- und Erklärungsangebot und befriedigen das menschliche Bedürfnis nach ersichtlichen Mustern und Verbindungen. Auch die vielen Ansichten und Überzeugungen von QAnon sind dermassen flexibel, dass die noch so unterschiedlichsten Handlungen, Aussagen und Entwicklungen in das umspannende Narrativ eingeordnet werden können. LaFrance schreibt dazu: 

There are QAnon followers out there, who suggest that what we’re going through now, in this crazy political realm we’re in now, with all of the things that are happening worldwide, is very biblical, and that this is Armageddon. (vgl. LaFrance 2020)

Unerklärliche und besonders (negativ) einschneidende Erlebnisse sind nicht mehr bloss Zufälle, sondern werden als intentionale Handlungen verstanden – schliesslich sind die Verschwörer schuld daran, dass es einem selbst so schlecht geht (Butter 2018: 106f.). Und da die gefürchteten Entwicklungen von Menschen gemacht sind, können sie auch von Menschen gestoppt werden. Dazu muss die Verschwörung lediglich erkannt, aufgedeckt und besiegt werden. Dabei wird in demselben Mass, wie die Gruppe der angeblich Bösen verteufelt wird, ein positives Bild der eigenen Gemeinschaft konstruiert (ebd.: 110f.). Dieses schafft Identität, Zusammenhalt und lässt in erster Linie hoffen. 

Fazit 

Das Ziel der vorliegenden Hauptseminararbeit war eine erste, allgemeine Annäherung an die Welt von QAnon sowie die Beantwortung folgender (Haupt-) Fragestellung: Lassen sich im religionswissenschaftlichen Diskurs häufig verwendete Bestimmungen von Religion und religiöser Ausübung finden, die auch auf die Bewegung und ihre AnhängerInnen zutreffen? Wie meine Recherchen und Darlegungen aufzeigen, können durchaus solch multipel anwendbare Definitionsansätze bestimmt werden – dafür braucht es auch keinen wirklich tiefen Taucher in die Materie. Bereits zu Beginn meiner Untersuchungen habe ich Parallelen zwischen der Gruppierung (ob auf organisatorischer oder inhaltlicher Ebene) und Konzepten feststellen können, die mir im Verlaufe des Studiums begegnet sind. Nach getroffener Auswahl konnte ich bei allen vier Elementen (siehe Kapitel «Religiöse Elemente») Verknüpfungspunkte zwischen religionswissenschaftlichen Themenbereichen und der Bewegung ausarbeiten, weshalb ich an dieser Stelle die Schlussfolgerung ziehe, dass die Bezeichnung von QAnon als (neu entstehende) Religion legitimiert werden kann – zumindest aus Sicht der Religionswissenschaft. 

Natürlich ist es damit aber noch nicht getan. Mein Fazit stützt sich auf Recherchen über ein paar wenige Referenzpunkte und dient aus diesem Grunde «lediglich» als ein erster Anhaltspunkt zur sehr jungen Bewegung. Die wissenschaftlichen Disziplinen haben sich noch kaum mit ihr und ihren AnhängerInnen auseinandergesetzt, es fehlen Sachbücher und wissenschaftliche Paper als verlässliche Quellen. Bereits die Erörterung der Frage, welchen diskursiven Unterschied verschiedene Bezeichnungen wie «Verschwörung» und «Religion» zur Folge haben, würde einen solchen Artikel füllen. Oder die Seiten einer weiteren Seminararbeit. 

Die (Wissens-) Lücken werden jedoch zunehmend geschlossen. Aufgrund aktueller Ereignisse rückt QAnon immer mehr in den Fokus von Öffentlichkeit und Wissenschaft. Erst vor wenigen Monaten, am 06. Januar 2021, hat die Bewegung mit der Erstürmung des Kapitols in Washington zum wiederholten Mal für Schlagzeilen gesorgt, da sich viele der beteiligten Personen als AnhängerInnen zu erkennen gegeben haben (vgl. Klaus 2021).

It is a movement united in mass rejection of reason, objectivity, and other Enlightenment values. And we are likely closer to the beginning of its story than the end. (vgl. LaFrance 2020)

Literaturnachweis 

Bossart, Adolf (1992): Der Dualismus von Gut und Böse – die Achillesferse des Christentums, in: Freidenker, Jg. 75, Nr.1, S. 1-2

Butter, Michael (2018): «Nichts ist, wie es scheint». Über Verschwörungstheorien. Berlin: Suhrkamp Verlag 

Eimuth, Kurt-Helmuth (2020): Verschwörungsglaube «QAnon»: Entsteht da eine neue Religion? [online] https://www.efomagazin.de/magazin/gottglauben/qanon/ [26.06.2021]

Eiholzer, Leo (2020a): «QAnon ist eine Ersatzreligion»: Ein Experte sagt, warum so viele Schweizer an Verschwörungstheorien glauben, [online] https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/qanonisteineersatzreligioneinexpertesagtwarumsovieleschweizeranverschwoerungstheorienglauben139068821 [26.06.2020]

Eiholzer, Leo (2020b): Die unheimlich netten Q-Schweizer: Radikale Verschwörungs-Bewegung breitet sich auch hierzulande aus, [online] https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/dieunheimlichnettenqschweizerradikaleverschworungsbewegungbreitetsichauchhierzulandeausld.1254908 [26.06.2021]

Fee, Christopher R. (2019): Conspiracies and conspiracy theories, in: American history. Santa Barbara, CA ABC-CLIO

Greelane (2019): Was ist der Erzählbogen in der Literatur? [online] https://www.greelane.com/geisteswissenschaften/literatur/whatisnarrativearcinliterature852484/ [09.07.2021]

Heiser, Patrick (2018): Religionssoziologie (1. Auflage). Paderborn: Fink

Huesmann, Felix (2020): QAnon: Wie eine gefährliche

Verschwörungserzählung in Deutschland Fuss fassen konnte, [online] https://www.nationalgeographic.de/geschichteundkultur/2020/09/qanonwieeinegefaehrlicheverschwoerungserzaehlungindeutschland  [26.06.2021]

Klaus, Julia (2021): Eskalation in Washington. Rechtsextreme und QAnons bei Kapitol-Sturm, [online] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/uswahlenrechtsextremekapitolproudboys100.html [26.06.2021]

LaFrance, Adrienne (2020): The Prophecies of Q. American conspiracy theories are entering a dangerous new phase., [online]

https://www.theatlantic.com/magazine/archive/2020/06/qanonnothingcanstopwhatiscoming/610567/ [26.06.2021]

Lang, Bernhard (2001): Prophet, Priester, Virtuose, in: Hans G. Kippenberg et al.: Max Webers Religionssystematik. Tübingen: Mohr Siebeck Verlag. S. 167-191

Pickel, Gert (2011): Religionssoziologie. Eine Einführung in zentrale Themenbereiche. 1st ed. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2011. Web.

Röther, Christian (2020): Die Bewegung «QAnon» wird zur Religion, [online] https://www.deutschlandfunk.de/verschwoerungsmythendiebewegungqanonwirdzurreligion.886.de.html?dram:article_id=478337 [26.06.2021]

Tilly, Michael (2012): Apokalyptik. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 

Wikipedia (2021): Adrenochrom, [online] https://de.wikipedia.org/wiki/Adrenochrom [26.06.2021]


[1]4chan ist ein englischsprachiges Imageboard, auf welchem anonym Bilder und Kommentare geteilt werden können.

[2] Adrenochrom ist ein Stoffwechselprodukt des Adrenalins und gehört zur chemischen Gruppe der Aminochrome (vgl. Wikipedia 2021)

[3] Teile dieser Seminararbeiten wurden vor den US-Präsidentschaftswahlen 2020 geschrieben, als Donald Trump das Präsidentenamt noch ausübte

[4] Der substanzielle Religionsbegriff definiert Religion über ihren Inhalt. Ein inhaltliches Merkmal von Religion kann bspw. die Auseinandersetzung des Menschen mit einer übernatürlichen Macht sein 

[5] Der funktionale Religionsbegriff definiert Religion über ihre (soziale) Funktion, da in diesem Fall davon ausgegangen wird, dass Religion eine wichtige Rolle für das Individuum und die Gesellschaft spielt und diese mitgestaltet 

[6] Bestehend aus den Elementen Ausstellung, Rising Action, Höhepunkt, Falling Action und Lösung (vgl. Greelane 2019)

[7] Übernommen wurden hauptsächlich traditionelle jüdische Zukunfts- und Gegenwartsaussagen, bei welchen das kommende bzw. anbrechende Reich Gottes thematisiert wird (Tilly 2012: 88)