Freikirchen

Freikirchen sind christliche Gemeinschaften , welche beginnend mit der Reformation aus dem Protestantismus herausgewachsen sind und sich durch die allen gemeinsame, sog. evangelikale Theologie verbunden wissen. Der Wortteil „Frei“ im Begriff „Freikirchen“ meint ihre Unabhängigkeit von landeskirchlicher Bindung an den Staat, nicht hingegen eine besondere Liberalität in theologischen oder ethischen Fragen.

Evangelikale Theologie bezeichnet sich als bibeltreu, damit ausdrückend, dass sie biblische Lehre, und nichts anderes vertreten möchte. Evangelikale sehen sich hier im Gegensatz zu anderen Strömungen des Protestantismus, welche aus Sicht des Evangelikalismus der Bibel nicht genügend Bedeutung beimessen würden. Die Bibeltreue äussert sich darin, dass der Bibel unbedingte Autorität in allen Glaubens- und Lebensfragen zukommt; sie gilt als vollständig, alles, was Christen wissen müssen, ist in der Bibel behandelt. Fundamentalistische Evangelikale gehen noch einen Schritt weiter: Ihnen gilt die Bibel als unfehlbar oder gar irrtumslos. Auf die Bibel ist unbedingt und in jedem Detail Verlass. Biblischen Texten in ihrer Wortgestalt widersprechende Thesen, etwa die Evolutionstheorie, werden abgelehnt.

Während liberales Christentum als Hineingestelltsein in eine sinnstiftende Ordnung erlebt werden kann, lebt evangelikales Christentum von einer persönlichen Glaubensbeziehung. Freikirchlicher Theologie ist die individuelle Erfahrung der Verbundenheit des Glaubenden mit Gott resp. Jesus Christus wichtig. Diese Erfahrung beruht auf einem strikt personalen Gottesbild, das dem Glaubenden ein Gegenüber gibt, mit welchem er über das Gebet im Dialog stehen kann.

Diese ausgeprägt persönliche Beziehung zu Gott hat wie jede Beziehung einen biographisch klar zu bestimmenden Anfang: Die Bekehrung, die bewusste Entscheidung fürs Christsein in evangelikalem Sinne. Die Bekehrung wird zum Schlüsselerlebnis des Lebens, auf welches in Zeugnissen und Gesprächen oft bezug genommen wird. Die Bekehrung trennt in der Theorie den Teil des Lebens ohne Gott vom späteren Leben, das in Beziehung zu Gott steht, und damit das Leben in Autonomie, das in die Irre geht, vom Leben unter der Autorität Gottes. Diese dualistische Struktur kann dazu führen, dass der Unterschied der beiden Lebensphasen im Rückblick überzeichnet wird, dies insbesondere bei Menschen, die schon im Evangelikalismus aufwuchsen.

Auf die Bekehrung des Menschen erfolgt von Gott her die Wiedergeburt, die gläubige Person ist ein neuer Mensch. Der Begriff „Wiedergeborener Christ“ resp. das englische „Born Again Christian“ kann deshalb in freikirchlichen Kreisen zur Bezeichnung eines freikirchlich orientierten Menschen verwendet werden.

Für die persönliche Glaubensbeziehung zu Gott sind Gebet und Bibellese von eminenter Bedeutung: sie sind die Wege, über welche der Dialog mit Gott geführt wird. Durch Gebet spricht der Evangelikale mit Gott, in der Bibellese erhält er Antwort. Gebet und Bibellese ermöglichen so die persönliche Beziehung zu Gott erst eigentlich. Es kann deshalb nicht erstaunen, dass Gebet und Bibellese in der Glaubenspraxis Evangelikaler eine grosse Bedeutung haben. Die meisten Evangelikalen üben Gebet und Bibellese am morgen, was traditionell „Stille Zeit“ genannt wird.

Aus der persönlichen Glaubensbeziehung, die ein bewusstes Sich-Unterstellen unter die Autorität Gottes beinhaltet, folgert das Bemühen, sich dem Willen Gottes zu unterstellen. Die Willensäusserungen Gottes findet der Evangelikalismus niedergelegt in der Bibel, deren Hinweise auf ein gottgefälliges Leben werden deshalb möglichst umgesetzt. Ziel ist hierbei insbesondere die Vermeidung von Verhaltensweisen, die in der Bibel negativ bewertet werden, etwa unter dem Begriff der Sünde. Eine Lebensführung, die sich an die Vorschriften, die der Evangelikalismus aus der Bibel gewinnt, hält und Handlungen, die in der Bibel kritisch gesehen werden, vermeidet, wird mit den biblischen Begriffen der „Heiligkeit“ oder der „Reinheit“ bezeichnet. Auf ein „heiliges“, „reines“ Leben zielt mithin die Bemühung des Evangelikalismus, wobei dem Evangelikalismus klar ist, dass sich dieses Ziel nicht auf einmal erreichen lässt. Es geht vielmehr um einen Prozess, der von Anfechtung, Versuchung und Scheitern gekennzeichnet ist, aber auch von einer allmählich besseren Uebereinstimmung des eigenen Verhaltens mit den Idealen des Evangelikalismus. Dieser Prozess wird mit „Heiligung“ bezeichnet.

Die Wichtigkeit der persönlichen Glaubensbeziehung und das Bemühen um Heiligung finden im Gemeindemodell des Evangelikalismus Eingang. Die Gemeinde soll der Raum sein, in welchem die Heiligung gelebt wird. Insofern ist es für den Evangelikalismus klar, dass nur Menschen, die zu Gott in einer persönlichen Glaubensbeziehung stehen und sich um Heiligung bemühen, Teil der Gemeinde sein sollen. Der Gemeinde kommt so selbst der Rang der Heiligkeit, der Reinheit zu.

Aufrechterhalten wird dieser Status traditionell durch die sog. Gemeindezucht: Menschen, die auf dem Weg der Heiligung scheitern, werden über Ermahnung und Busse auf diesen zurückgeführt. Menschen, die aus der Glaubensbeziehung herausfallen oder sich gar nicht mehr um Heiligung bemühen, werden ausgeschlossen. In letzter Zeit wird die Gemeindezucht in evangelikalen Gemeinden recht unterschiedlich gehandhabt. Viele Gemeinschaften üben sie nicht mehr, insbesondere gegenüber den Angehörigen zweiter Generation, dies nicht zuletzt aus Angst vor massiven Abgängen. Es kann so von einer Vervolkskirchlichung vieler Freikirchen gesprochen werden.

Der Evangelikalismus ist eine missionarische Bewegung, beruhend auf der missionarischen Ausrichtung des Neuen Testamentes. Evangelisation und Mission sind so für den Evangelikalismus wichtige Begriffe geworden. Während sich die Evangelisation an nichtevangelikale Christen richtet, zielt die Mission auf die Angehörigen einer anderen oder keiner Religion. Evangelisation und Mission sind Aufgabe einerseits der Gemeinde, andererseits jedes einzelnen Christen.

Die erfolgreiche Erfüllung ihres Missionsauftrages durch die einzelnen Gemeinden ist für manche Freikirchler beinahe zum Kriterium der Gottgefälligkeit der jeweiligen Gemeinden geworden. Wachsende Gemeinden gelten als gesegnet, ihre Verkündigung scheint dem Willen Gottes am meisten zu entsprechen. Kleiner werdende Gemeinden machen etwas falsch.

Der Evangelisationsauftrag des Einzelnen wird durch missionarische Einsätze, durch die finanzielle Unterstützung von Missionswerken, aber insbesondere durch Freundesevangelisation, d.h. durch Werbung im persönlichen Umfeld, wahrgenommen.

Wegen des schlechten Klangs der Begriffe „Mission“ und „missionarisch“ in manchen Teilen der Öffentlichkeit sind im freikirchlichen Bereich in den letzten Jahren Ersatzbegriffe in Verwendung gekommen, etwa „missional“.

Der Evangelikalismus geht davon aus, dass diese Welt irgendwann zu Ende gehen wird, worauf für die Gläubigen eine ewige Heilszeit in Gottnähe folgen wird. Viele Evangelikale versuchen den Ablauf dieser endzeitlichen Ereignisse näher zu erhellen, wofür die recht verschiedenen und z.T. symbolischen Aussagen des Neuen Testaments zum Thema der Endzeit in einen kohärenten Ablauf gebracht werden. Gerade weil die verschiedenen biblischen Hinweise zum Thema in sich nicht glatt aufgehen, besteht in dieser Frage im Evangelikalismus einiges an Uneinigkeit.

Ebenfalls ist strittig, wie nahe die Endzeit bevorsteht. Während manche Evangelikale in gegenwärtigen Ereignissen Prophezeiungen der Bibel erfüllt sehen und von einem ganz nahen Endzeittermin ausgehen, sind andere hier vorsichtiger. In den letzten Jahren hat sich die Endzeiterwartung im Evangelikalismus, die im 20. Jahrhundert phasenweise recht stark war, eher abgeschwächt. Einigkeit besteht im Evangelikalismus aber darin, dass diese Welt untergehen wird, dass also die Vorstellung einer allmählichen Verbesserung und Höherentwicklung von Mensch und Gesellschaft illusorisch ist.

Aus dem Bemühen um Heiligung und dem Konzept einer Gemeinde der Glaubenden folgt ein dualistisches Verhältnis zur nichtevangelikalen Gesellschaft, zur „Welt“, die durch die Begriffe des Unglaubens, Irrglaubens und der Unreinheit gekennzeichnet werden kann. Das Verhältnis zur so charakterisierten Welt ist spannungsvoll. Durch die Betonung der Bekehrung steht die Welt biographisch für eine überwundene Lebensphase, für einen Raum, aus dem man hinausgetreten ist, wobei dieses Hinaustreten als Befreiung erlebt wurde. Die Welt kann sich auf dem Weg der Heiligung durch Anfechtungen und Versuchungen bemerkbar machen, was ihre negative Wertung verstärken mag und einen Rückzug motivieren könnte.

Andererseits ist die Welt das Objekt der Mission, ein Sich-Einlassen auf die Welt, auf persönliche Kontakte ausserhalb der evangelikalen Szene ist Vorbedingung erfolgreicher Evangelisation. Als Hilfe, diese Spannung auszuhalten, dienen manchen Evangelikalen klare Regeln, wie weit auf „Weltliches“ eingegangen werden kann. Weil diese Regeln aber nur partiell aus der Bibel zu gewinnen sind, bestehen hier innerhalb des Evangelikalismus erhebliche Unterschiede.

Evangelikale wissen sich verbunden mit allen Menschen, die ebenfalls einen evangelikalen Glauben vertreten. Diese sind in den verschiedenen Freikirchen, aber auch in den evangelikalen Flügeln der Landeskirchen zu finden. Insofern ist für evangelikale Menschen der Bereich des richtigen Glaubens im Gegensatz zu exklusiven Gemeinschaften nicht auf die eigene Organisation beschränkt, was es Evangelikalen ermöglicht, niederschwellig die Gemeinde zu wechseln oder Angebote verschiedener Organisationen gleichzeitig in Anspruch zu nehmen. Das daraus resultierende Phänomen des „Gemeindetourismus“ ist insbesondere unter jungen Evangelikalen weit verbreitet. Die z.T. vorhandenen Lehrdifferenzen zwischen den einzelnen Gemeinschaften werden, soweit sie dem Publikum überhaupt bewusst sind, als für den Glauben nicht entscheidende „Nebendinge“ wahrgenommen.

Zu den Landeskirchen besteht ein spannungsvolles Verhältnis, da diese zwar selbst über einen evangelikalen Flügel verfügen, aber die Mehrheit ihres Publikums nichtevangelikal ist. Zusammenarbeit mit dem evangelikalen Flügel ist möglich und häufig.

Das Judentum wird von vielen Evangelikalen ausgesprochen positiv gesehen, ob unter Menschen jüdischer Religion evangelikale Mission gepflegt werden soll oder nicht, ist im freikirchlichen Bereich umstritten.

Der Islam, die östlichen Religionen und die z.T. östlich inspirieren spirituellen Richtungen der Gegenwart wie Theosophie und Esoterik werden in der freikirchlichen Literatur in aller Regel kritisch diskutiert.

Freikirchen finanzieren sich über Spenden.

Viele Freikirchen vertreten die Lehre des Zehnten nach Maleachi 3,10 und empfehlen ihren Mitgliedern, zehn Prozent des Einkommens im Sinne des Glaubens auszugeben. Manche Freikirchen erwarten von ihren Besuchenden, dass diese den ganzen Zehnten der eigenen Gemeinde geben – wobei dies aber nirgendwo überprüft wird – andere überlassen es den einzelnen Gläubigen, wie sie ihren Zehnten unter Gemeinden, Kirchen, Missionswerken und anderen christlichen Aktivitäten aufteilen.

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