Mormonentum

Unter den zahlreichen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, die der christlichen Bibel neue Offenbarungen zur Seite stellten und deshalb «Neuoffenbarer-Bewegungen» heissen, ist das Mormonentum bei weitem die erfolgreichste. Beeindruckend ist nicht nur die Zahl der einzelnen Gemeinschaften, die zum Mormonentum gerechnet werden können, es sind rund 70 Gruppierungen, sondern auch die Zahl ihrer Mitglieder, die in die Millionen geht. Verantwortlich für diese Summe ist allerdings vor allem eine Gemeinschaft, die «Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage», die bei weitem grösste der Mormonen-Kirchen, die allein über rund 10 Millionen Mitglieder weltweit verfügt.

Es erstaunt in Anbetracht dieser Tatsache nicht, dass der Name «Mormonen» weithin zu einem Wechselbegriff für die letztgenannte Gemeinschaft wurde, insbesondere in Österreich und der Schweiz, wo nur diese über organisierte lokale Gemeinden verfügt. Tatsächlich ist die «Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage» zwar die grösste der Mormonen-Gemeinschaften, ob sie aber die originärste ist, bleibt die Frage.

Als zum Mormonentum gehörig müssen vielmehr alle Gemeinschaften gerechnet werden, die das Buch Mormon als heilige oder wie auch immer wesentliche Schrift betrachten. Im deutschen Sprachraum trifft dieses auf drei Gemeinschaften zu, die schon erwähnte «Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage», auf die «Reorganisierte Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage» und auf die kleine, aber aktive «Kirche Christi mit der Elias-Botschaft». Die meisten der rund 70 Mormonen-Gemeinschaften sind hingegen bloss in den USA vertreten, was nicht nur damit zu tun hat, dass diese das Mutterland des Mormonentums sind, sondern auch damit, dass die USA im Glauben der Mormonen als Ort der Wiederkunft Christi eine besondere heilsgeschichtliche Bedeutung tragen.

Gemeinschaften, die sich auf das Buch Mormon berufen, kommen nicht umhin, auch einer Person einen herausgehobenen Rang zuzubilligen: Joseph Smith, dem Herausgeber des Buches Mormon, der in der Sicht der Mormonen der Übersetzer dieses Werkes ist, in kritischer Sicht aber dessen Verfasser.

Joseph Smith wurde 1805 in Vermont geboren, seine Familie zog aber im Jahr 1815 im Gefolge des britisch-amerikanischen Krieges von 1812 in den Westen des Staates New York. Dort betätigte sich Joseph Smith als Schatzsucher, wofür er einen Kristall als Wahrsagestein («peepstone») zwecks übersinnlicher Aufspürung verborgener Wertsachen einsetzte, eine Methode, die zu Joseph Smiths Zeiten nicht unüblich war. Trotz dieser aus heutiger Sicht esoterischen Betätigung wurde Smith von einer Erweckungswelle, die im Jahr 1823 seine Wohngegend erreichte, erfasst. Joseph Smith beteiligte sich in der Folge an Veranstaltungen der Methodistenkirche und war dort ein gern gesehener Redner.

Im Jahr 1827 behauptete Joseph Smith, durch einen Engel in den Besitz von Goldplatten gelangt zu sein, die antike Schriftzeichen – Smith sprach von einem verbesserten Altägyptisch (reformed Egyptian) – aufwiesen. Mit Hilfe seines peepstones, welchen Joseph Smith nun mit den alttestamentlichen Begriffen «Urim und Thummim» bezeichnete, sei es ihm möglich, die Schriftzeichen zu übersetzen, im Stein erscheine der Text in englischer Sprache. In den folgenden Jahren machte sich Smith an die Übersetzung der Goldplatten, wobei diese – so die Darstellung kritischer Zeitzeugen – allerdings in ein Tuch eingewickelt blieben, während er aus seinem peepstone die Übersetzung ablas.

Was Joseph Smith auf diese Weise übersetzte, stellt für den heutigen Aussenstehenden ein Kuriosum, für seine Zeit aber eine durchaus auch wissenschaftlich diskutierte und keinesfalls neue Hypothese dar: Die Platten berichteten davon, dass Amerika schon lange vor der Entdeckung durch Kolumbus resp. Leif Erikson von Israeliten besiedelt gewesen sei, und zwar in einer ersten «Besiedelungswelle», die gleich nach dem missglückten Turmbau zu Babel stattgefunden habe, gefolgt von einer zweiten Welle nach der Zerstörung Jerusalems zu Beginn des sechsten Jahrhunderts vor Christus.

Die Bevölkerung der ersten «Welle», die Jarediten, waren vor der Ankunft der zweiten Welle ausgestorben, so dass diese einen gänzlich unbewohnten Kontinent antraf. Sehr bald schon teilten sich diese zweiten Ankömmlinge, die dem Fall Jerusalems entgangen waren, in zwei Völker, in die gottesfürchtigen Nephiten und die gottlosen Lamaniten. Erstere durften erleben, dass Jesus Christus nach seiner Himmelfahrt in Palästina sich zu ihnen gesellte, ihnen eine Kurzfassung der Evangelien vermittelte, zwölf Apostel bestimmte und sich wiederum in den Himmel erhob.

Den so unterwiesenen Christen der Neuen Welt war aber ein übles Geschick bestimmt: im fünften Jahrhundert u.Z. wurden sie von den gottlosen Lamaniten in einer grossen Schlacht bis auf den letzten Mann niedergemacht, allerdings nicht bevor der Letzte der Nephiten, ein gewisser Moroni, die Geschichte seines Volkes auf eben diesen Goldplatten niederschreiben konnte, in deren Besitz Joseph Smith dann gelangte. Die Lamaniten hingegen überlebten, wurden allerdings für ihre Gottlosigkeit mit einer dunklen Hautfarbe bestraft (2. Nephi 5,21). Sie stellen die Vorfahren der heutigen Indianer dar. Diesen Inhalt präsentiert das Buch Mormon, das 1830 herausgegeben wurde.

Was aus kritischer Sicht wie mässig gute Fantasy-Literatur mit reichlich rassistischem Beigeschmack aussieht, fiel zu Zeiten Joseph Smiths auf fruchtbaren Boden. Zum einen war die Vorstellung, dass es sich bei den amerikanischen Indianern um die verlorenen zehn Stämme Israels handelt, weit verbreitet und wurde heiss diskutiert. Zum anderen litten die Zeitgenossen Joseph Smiths an der in den USA besonders deutlichen Zersplitterung des Christentums: Eine Unzahl von Denominationen lag miteinander im Streit, jede davon überzeugt, dem wahren Christentum am nächsten zu kommen. Wie sollte hier Abhilfe geschaffen werden?

Durch Rückbesinnung auf die Sitten und Gebräuche der Urgemeinde, die möglichst originalgetreu wiederhergestellt werden sollten, lautete eine häufig gehörte Antwort, die eine ganze Bewegung stiftete: das Restauration Movement, die Wiederherstellungsbewegung, aus welchen die «Disciples of Christ» und die auch im deutschen Sprachraum tätigen «Gemeinden Christi» entsprangen. Die genannten Gemeinden bemühen sich, bis ins Wort hinein neutestamentliche Gemeindemodelle in unserer Zeit nachzuformen. Joseph Smiths Platten wiesen in die selbe Richtung: Die Geschichte der bisherigen Christenheit ist eine Geschichte eines zunehmenden Verfalles des ursprünglichen Zustandes. Welches dieser ideale Urzustand der Urgemeinde war, dies musste Joseph Smith nun, im Gegensatz zum Restauration Movement, nicht mühsam aus dem Neuen Testament gewinnen, er hatte ja seine Platten, die die unverfälschte Botschaft Christi wiedergaben.

Die Wiederherstellung des ursprünglichen Christentums sollte, so die Vorstellung nicht nur Joseph Smiths, sondern auch des Restauration Movements, die Wiederkunft Christi und damit das Ende dieser Welt zur Folge haben. Die Botschaft Joseph Smiths kann deshalb durchaus als Endzeitbotschaft gelesen werden und wirkte attraktiv auf Menschen, die durch den sozialen Wandel angesichts der beginnenden Industrialisierung überfordert waren.

Eine Prüfung von Joseph Smiths Platten ist heute leider nicht mehr möglich, da er dieselben nach erfolgter Übersetzung dem Engel wieder zurückgeben musste. An Beweises statt sind heutigen Editionen des Buches Mormon zwei Zeugnisse beigegeben, eines von drei und eines von acht Zeugen, welche bestätigen, die ominösen Platten mit eigenen Augen gesehen zu haben. Eine historische Prüfung der Aussagen dieser Zeugen erbringt allerdings, dass diese die Platten physisch nur eingewickelt in Decken wahrgenommen haben, dass ihnen allerdings durch geistige Schau die Platten auch unverhüllt gezeigt wurden. Ein simples Auswickeln der Platten aus ihrer Umhüllung wurde Joseph Smith vom Engel offenbar ausdrücklich verboten. Die Sprachproben in «Reformed Egyptian», die Joseph Smith von den Platten abgezeichnet haben will und die ebenfalls jeder Edition des Buches Mormon beigegeben sind, machen jedenfalls für den des Altägyptischen Kundigen keinen Sinn. Es erstaunt angesichts dieser Tatsachen nicht, dass der Vorwurf des Betruges die Mormonen-Bewegung seit ihrer Entstehung begleitet.

In letzter Zeit wurde die Problematik um das Buch Mormon verschärft durch die Tatsache, dass die Archäologie in Amerika die Aussagen des Buches Mormon nicht etwa bestätigte, sondern vielmehr massiv in Frage stellte. So finden sich auf dem amerikanischen Kontinent aus präkolumbischer Zeit keinerlei Spuren von Metallgebrauch, welcher im Buch Mormon als selbstverständlich angenommen wird. Ebenso fehlen Überreste von diversen eurasischen Tierarten, die im Buch Mormon erwähnt werden. Von den im Buch Mormon angeführten Städten fand sich bisher ebenfalls keine Spur (dies im Gegensatz etwa zum Alten Testament, das kaum eine Stadt erwähnt, die im Gelände bisher nicht identifiziert werden konnte).

Da das Buch Mormon in vielerlei Hinsicht auf Bedürfnisse der zeitgenössischen Menschen, denen natürlich weder die Erkenntnisse der modernen Amerikanistik noch die Entzifferung der altägyptischen Sprache zugänglich waren, recht geschickt einging, gelang es Joseph Smith, schnell zahlreiche Anhänger seiner neuen Botschaft zu gewinnen. In den Jahren 1829 und 1830 organisierte er diese in einer eigenen religiösen Gemeinschaft, der «Church of Christ», welche in Lehre und Praxis nach den Lehren des Buches Mormon gestaltet war. Dies bedeutete im Einzelnen:

– Die Gotteslehre war modalistisch, das heisst, Gott-Vater und Jesus Christus galten als zwei Erscheinungsweisen («modi») derselben göttlichen Person. Die Lehre von der Dreieinigkeit wurde verworfen.

– Eine Erbsünde oder grundsätzliche Sündhaftigkeit des Menschen wurde abgelehnt. Der Mensch kann sich selbst erlösen, wenn er sich an die Vorschriften des Buches Mormon hält.

– Die Wiederkunft Christi wurde als sehr nahe bevorstehend erwartet. Als das Heilige Land galten nun aber die USA, die Wiederkunft war also dort zu erwarten.

– Die Ämter der Kirche folgten weitgehend dem Neuen Testament, jedoch ergänzt durch das Amt des Priesters, das im Buch Mormon vorgesehen ist.
 Die Organisation einer Kirche warf aber bald Fragen auf, die im Buch Mormon nicht vorgezeichnet waren. Joseph Smith empfing nun zur Lösung derselben direkte Offenbarungen von himmlischen Gestalten, die schon früh gesammelt wurden und autoritativen Rang erhielten. Im Jahr 1833 erschien das «Book of Commandments», das die bis dahin an Joseph Smith ergangenen Offenbarungen enthielt. Drei Jahre später erschien eine ergänzte Fassung mit zum Teil auch korrigierten und veränderten Versionen der älteren Offenbarungen unter dem Titel «Doctrine and Covenants» (Lehre und Bündnisse). So heisst auch heute noch die Sammlung, die bis zum Tode Joseph Smiths auf 133 Offenbarungen angewachsen war.

– Die fortlaufende Offenbarung an Joseph Smith führte zu einer stetigen Veränderung von Lehre und Praxis der Gemeinschaft. Insbesondere das Gottesbild entwickelte sich erheblich weiter, vom Modalismus – die drei Personen Vater, Sohn und Geist sind nur verschiedene Erscheinungsweisen des einen Gottes – über den Binitarianismus – Vater und Sohn sind Personen in einer göttlichen Natur, der Geist ist keine Person, nur göttliche Kraft – zum Dyotheismus, welcher Gott und Christus als zwei völlig getrennte Gottheiten betrachtet. Stellte das Buch Mormon noch fest, dass Gott Geist sei, war für Joseph Smith später klar, dass auch Gott über einen Körper verfügt. Im praktischen Bereich wurden die Ämter stärker differenziert und gingen über das Neue Testament immer weiter hinaus. So forderten die Offenbarungen die Einsetzung von zweierlei Priesterschaft, der niedereren aaronitischen und der höheren melchisedekschen, die Einrichtung einer Präsidentschaft und die Verleihung des Titels eines «Sehers, Propheten und Offenbarers» an Joseph Smith selbst. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das Buch Mormon für die Mormonen selbst zum Teil überholt ist.

Zunehmender Widerstand der Umwelt machte einen häufigen Ortswechsel von Joseph Smith und den Seinen vonnöten. Eine gewisse Zeit der Ruhe ergab sich erst von 1839 bis 1844 in Nauvoo, Illinois, wo die Mormonen eine eigene Stadt aufbauten. Trotz dieses Widerstandes verzeichnete die Mormonen-Bewegung beachtliche missionarische Erfolge und wuchs kontinuierlich an.

Die fortlaufende Veränderung der Lehre erwies sich als permanenter Quell für Abspaltungen von Teilgemeinschaften, die entweder auf einem früheren Stand der Lehre beharren wollten oder sich um einen Menschen scharten, der sich Joseph Smith gleich zum Propheten berufen fühlte und eigene Offenbarungen erhielt. Schon in den Anfangstagen der mormonischen Bewegung zeigt sich somit ihr Schicksal einer nie enden wollenden Aufsplitterung.

In den letzten Jahren seines Lebens gestaltete Joseph Smith die Praxis der Mormonen nochmals um: Zum einen liess sich Joseph Smith in eine Freimaurer-Loge einweihen und übernahm deren Rituale weitgehend für seine eigene Kirche, ein Unterfangen, das sich zum ursprünglichen Ziel, eine möglichst nahe am Urchristentum orientierte Gemeinde zu schaffen, doch recht widersprüchlich verhielt.

Zum anderen führte der Prophet, ehelicher Treue offenbar schon vorher nicht unbedingt verpflichtet, die Polygamie (für Männer) ein und ehelichte diverse z.T. massiv jüngere Frauen. Die diesbezügliche Offenbarung 132 setzte zwar das Einverständnis der bisherigen Frau(en) bei der Heirat weiterer Frauen voraus, mit einer Ausnahme: Josephs Frau Emma. Obwohl ihr das Einverständnis von göttlicher Seite her befohlen wurde, widersetzte sie sich zeitlebens der Lehre von der Polygamie.

Zum dritten führten die frühen Mormonen in jener Zeit eine Praxis ein, für die die Utah-Mormonen heute im Bewusstsein der Allgemeinheit am bekanntesten sind: Die postume Taufe verstorbener Vorfahren, was diesen auch Anteil an der Erlösung in mormonischer Sicht geben soll.
 Der Kanon der Heiligen Schriften der Mormonen erhielt in den letzten Lebensjahren Joseph Smiths eine weitere Ergänzung durch das «Buch Abraham», eine «Übersetzung» eines Papyrus, den Joseph Smith von einem fahrenden Aussteller erworben hatte. Dieser Papyrus ist heute bekannt und ediert, er enthält das spätägyptische «Buch vom Atmen», eine ptolemäische Kurzfassung des ägyptischen Totenbuches. Mit der angeblichen Übersetzung von Joseph Smith besteht keinerlei Ähnlichkeit. Offensichtlich hatte Joseph Smith von der altägyptischen Sprache keine Kenntnis.

Eine Auseinandersetzung mit einer abgespaltenen Gruppe in Nauvoo führte im Jahr 1844 zur Inhaftierung von Joseph Smith. Am 27. Juni wurde der Prophet von einem aufgebrachten Mob im Gefängnis von Carthage in Illinois erschossen.
 Der Tod von Joseph Smith traf die Mormonen-Gemeinschaft unvorbereitet. Ein Nachfolger war nicht bestimmt, verschiedene Mormonenführer stritten in der Folge um diese Rolle. Den grössten Teil der Anhänger vermochte in dieser Auseinandersetzung Brigham Young um sich zu versammeln. Young führte seine Leute in den folgenden Jahren nach Westen ins damals unbesiedelte Salzseetal in Utah. Aus dieser Gruppe erwuchs die «Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage», welche auch die Spätlehren Joseph Smiths übernahm und die Polygamie bis 1890, inoffiziell sogar noch länger, praktizierte. Die Aufgabe der Polygamie 1890 führte in den folgenden Jahrzehnten zur Abspaltung zahlreicher sog. «polygamer Gruppen», die auf diese Praxis nicht verzichten mochten und ihr da und dort heute noch in abgelegeneren Gegenden der USA nachleben.

Verschiedene im Mittleren Westen verbliebene Gruppen von Mormonen wurden in den 1850er Jahren von Joseph Smiths Sohn Joseph Smith III. zusammengeführt und im Jahr 1860 zur «Reorganisierten Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage» vereinigt, wobei die Reorganisierte Kirche Smiths Spätlehren verwarf. Verschiedene andere Gruppen bezogen sich bloss auf das Buch Mormon und Joseph Smiths frühe Offenbarungen und gingen davon aus, dass er zu einem unterschiedlich bestimmten Zeitpunkt seiner Biographie vom rechten Weg abgewichen sei.

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