Christentum

Das Christentum ist religionsgeschichtlich gesehen eine messianische Reformbewegung innerhalb des Judentums, die zur zahlenmässig bedeutsamsten Weltreligion wurde.

Messianische Aufbrüche prägen die Geschichte des Judentums in begreiflicher Regelmässigkeit, weil vor allem in Zeiten des Umbruchs die religiöse Leidenschaft auf Erfüllung der schon seit langem verkündeten prophetischen Visionen und Versprechen drängt. Warum aber ist unter den verschiedenen messianischen Bewegungen gerade die Bewegung des Jesus von Nazareth schon innerhalb weniger Jahrhunderte zur bestimmenden religiösen Kraft der ausgehenden Antike avanciert?

Der Messiasprätendent des frühen Christentums wurde genauso verfolgt und umgebracht, wie die Leitgestalten anderer messianischer Bewegungen. Aber er hatte eine Intensität der Nachfolge ausgelöst, die alles übertraf, was wir bei anderen Endzeitboten anzunehmen wagen. Er liess seine Umgebung den Anbruch des Gottesreichs in einer derartigen das menschliche Leben verwandelnden Dynamik erleben, dass am Ende sogar sein Tod zu seinem grössten Triumph wurde: Seine Hinrichtung führte innerhalb von Tagen zu den Begegnungen mit dem Auferstandenen und zur in ekstatischer Erlebnisfülle wahrgenommen göttlichen Präsenz in der sog. Ausgiessung des heiligen Geistes.

Diese Dynamik hat in den anschliessend Jahrzehnten und Jahrhunderten an Intensität nur scheinbar nachgelassen. Aber ihre Erscheinungsformen und ihre Zielrichtung hat sich zum Teil gründlich verschoben. Immer noch präsent blieb den späteren christlichen Jahrhunderten der Glaube an den Gott mit dem menschlichen Antlitz. In Jesus Christus hatte sich Gott in einzigartiger Erlebnisdichte gezeigt. Das konnte nicht ohne Folgen für jede weitere Zuwendung zum Absoluten bleiben. Gott wendet sich wie Christus und in Christus dem Menschen zu ohne sich vor irgendeiner Grenzerfahrung menschlicher Existenz zu scheuen. Er liebt die Randsiedler der menschlichen Gesellschaft und begleitet den Menschen bis hinein in den absurden Tod: Das Kreuz Christi war und ist für diese urchristliche Überzeugung noch immer das stärkste Symbol.

Das Wissen um das menschliche Antlitz Gottes hat im Verlauf der Lehrentwicklung des Christentums über viele Etappen hinweg zu für Aussenstehende so eigenartigen Phänomenen wie den Glauben an die Menschwerdung Gottes in Christus, an die Wiederherstellung des Adam vor seinem Fall durch das Erlösungswerk Christi und zum Glauben an den dreieinigen Gott geführt, Überzeugungen, die die Erlebnisintensität der ursprünglichen messianisch-jüdischen Reformbewegung nicht zum Erliegen brachten, sondern sie auf neuen gedankliche Bahnen sich zu erhalten suchten. Doch in ihrer alten unmittelbaren oder in ihrer späteren dogmatisch geklärten Form war und blieb das Wissen um das menschliche Antlitz Gottes wahrscheinlich spirituell betrachtet der Impuls, der – einmal abgesehen von allen historischen Zufälligkeiten und politischen Machtspielen – die ursprüngliche messianische Reformbewegung zu dem werden liess, was sie heute ist.

Mit der Lehrentwicklung verband sich aber schon bald auch eine andere Tendenz, die das Christentum nur scheinbar förderte, die sich vielmehr bis in die Neuzeit hinein vor allem verhängnisvoll auswirkt. Schon in neutestamentlicher Zeit trat an Stelle des gemeinsamen Lebens im anbrechenden Gottesreich das Leben in der Gemeinschaft der Kirche, oder realistischer formuliert: der Kirchen. Zu viele spätantike Vorstellungen und Sehnsüchte zogen die Christen mal in dieser, mal in jener Richtung. Dieser drohenden Zersplitterung konnte das Christentum nur begegnen mit dem Aufbau einer immer auffälligeren kirchlichen Hierarchie und einer immer detaillierteren Ausgestaltung des kirchlichen Dogmas.

Dieser Trend zur Hierarchie und zur Dogmatisierung verband sich während langer Strecken christlicher Geschichte nicht mehr und noch nicht mit der früher generell wenig bestrittenen und später offen deklarierten religiösen Toleranz. So endete die erwähnte einzigartige Dynamik der frühen Jesusbewegung über weite Strecken im Willen, Macht über das Denken und Leben der Menschen zu beanspruchen und durchzusetzen. Damit war die frühe Jesusbewegung im späteren seiner Macht bewussten Christentum kaum mehr zu erkennen und die Rückbesinnung auf die Ursprünge wurde für viele Christen in allen Konfessionen zur heiligen Pflicht. Natürlich kann sich, wie die Geschichte belegt, jede Religion unmenschlich gebärden. Wenn dies aber auch in reichem Mass für die Religion mit dem menschlichen Antlitz Gottes zutrifft, war und ist Rückbesinnung in besonderer Dringlichkeit angesagt.

Unterbereiche der Kategorie «Christentum»

Zurück zur Übersicht