Ältere und evangelikale Freikirchen

Die in diesem Kapiteln beschriebenen Kirchen werden als Freikirchen bezeichnet. Sie unterscheiden sich damit sowohl von den Landeskirchen als auch von den Volkskirchen. Anders als die Landeskirchen sind sie frei von irgendwelchen organisatorischen Verbindungen mit dem Staat, in der Schweiz mit dem jeweiligen Kanton. Ihre Mitglieder werden – zumindest in der Theorie – nicht wie in den Volkskirchen sozusagen in die Gemeinden hineingeboren. Sie treten ihrer Kirche durch einen freien Entschluss bei.

Aus den Freikirchen sind – wie aus jeder Tradition – auch Gemeinschaften herausgewachsen, die wegen ihres Absolutheitsanspruchs oder ihrer autoritären Struktur als Sondergruppen oder gar als Sekten angesprochen werden können (siehe dazu die Texte zu den einzelnen Gemeinschaften). Die Freikirchen lassen sich in zwei Gruppen einteilen, in sog. «nichtcharismatische» und sog. «pfingstlerisch-charismatische», je nachdem, ob sie die sog. Geistesgaben Zungenrede, Prophetie etc. kennen und ihnen eine wesentliche Bedeutung beimessen oder nicht.

In diesem Kapitel ist die Rede von Freikirchen, welche die im Neuen Testament beschriebenen Geistesgaben als auf das apostolische Zeitalter beschränkt sehen (sog. cessationistische Auffassung: die Geistesgaben haben am Ende des apostolischen Zeitalters aufgehört). Nach ihrer Gemeindestruktur lassen sich die «nichtcharismatischen» Freikirchen in zwei Gruppen einteilen: in die Freikirchen täuferischer, baptistischer und darbystischer Herkunft und in diejenigen pietistischen und methodistischen Ursprungs.

Die Kirchen der ersten Gruppe haben in der Regel eine kongregationalistische Kirchenverfassung. «Congregation» heisst im Englischen «Gemeinde». In der Einzelgemeinde kommt bereits die ganze Kirche zum Ausdruck. Sie ist darum ganz und gar selbständig. Die Gemeinden können sich für bestimmte Aufgaben zu Bünden zusammenschliessen. Die leitenden Organe eines Bundes haben indessen keine grössere Autorität als die Vorsteher der Einzelgemeinde.

Den eigentlichen kongregationalistischen Kirchen, die vor allem in den anglikanischen Ländern verbreitet sind, gehen wir hier nicht weiter nach. Zu ihnen gehört z.B. die Congregational Church of England and Wales mit ca. 200 000 Mitgliedern. 1891 gründeten verschiedene kongregationalistische Kirchen The International Congregational Council. 1970 erfolgte der Zusammenschluss mit dem Reformierten Weltbund. Gemeinsam ist den Freikirchen der ersten Gruppe auch die Erwachsenentaufe. Sie bilden in der Regel Gemeinden getaufter Gläubiger. Nicht einheitlich ist die Taufe in der Brüderbewegung (Darbysten). Ein Teil der Versammlungen übt Erwachsenentaufe, ein anderer Teil Kindertaufe.

Mit dem Auftreten der Täufer während der Reformationszeit entstand ganz allgemein die erste Freikirche der Neuzeit. Täufergemeinden sind, wie die kirchengeschichtliche Forschung festgestellt hat, fast gleichzeitig in verschiedenen Gebieten entstanden: In Zürich, wo 1525 die erste Erwachsenentaufe in neuerer Zeit vollzogen wurde, in Süddeutschland und im norddeutsch-niederländischen Raum, wo Menno Simons der überragende Täufer-Führer war. Sein Wirken führte zur Bezeichnung Mennoniten.

Durch Verfolgung und Auswanderung erlebte das Täufertum im Laufe der Jahre eine weitere Verbreitung. In einer gewissen Anlehnung an die Mennoniten stehen die sog. Neutäufer, eine im neunzehnten Jahrhundert in der Schweiz entstandene Bewegung, die allerdings bereits von der Erweckungsbewegung mitbeeinflusst wurde und deshalb von den (Alt-)Täufern abzusetzen ist.

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts entstand in Amsterdam unter Glaubensflüchtlingen aus England die erste Gemeinde der Baptisten. Eine direkte Beeinflussung der Gemeindegründer durch die Mennoniten der Reformationszeit hat sich bis heute nicht nachweisen lassen. Einige Jahre danach nahm in England eine andere Baptistenrichtung ihren Anfang. Die Baptisten verbreiteten sich vor allem in den angelsächsischen Ländern ziemlich rasch. Sie fanden aber in kleinerem Ausmass auch in den deutschsprachigen Ländern Europas Eingang. Gewisse Anschauungen des Baptismus teilen die Gemeinschaften, die aus dem Restoration Movement des neunzehnten Jahrhunderts hervorgegangen sind. Diesem ging es um die Wiederherstellung des ursprünglichen neutestamentlichen Gemeindelebens, auch in Details der Gemeinde- und Lebenspraxis. Herausgewachsen aus dem Restoration Movement sind z.B. die Disciples of Christ, die Churches of Christ und ihr Ableger, die umstrittenen International Churches of Christ.

Bei der Brüderbewegung (Darbysten), die in diesem Kapitel ebenfalls beschrieben wird, handelt es sich um eine eigenständige Gründung aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Gewisse Ähnlichkeiten ermöglichten ihr 1941 in Deutschland den Zusammenschluss mit den Baptisten zum Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland. Als nach 1945 der politische Druck nachliess, blieb dennoch ein Teil der Brüderbewegung in diesem Bund.

Die Brüderbewegung erstrebt die Bildung von Versammlungen nach dem Vorbild der Apostelzeit. Darum bezeichnen sich ihre Anhänger als «Brüder» oder auch Christliche Versammlungen. Mit den weiteren Kirchen dieses Kapitels haben sie auch den Independentismus gemeinsam, d.h. die einzelnen Versammlungen sind selbständig und unabhängig. Zu den verschiedenen englischen Reform-Strömungen, die in Opposition zur konstituierten Kirche, vor allem zur Church of England, die Urkirche wieder herstellen wollten, gehören seit dem 17. Jahrhundert auch die Quäker. Die Quäker betonten von Anfang an nicht neue Lehren, sondern die Bedeutung des inneren Lichts. Sie bildeten eine Bewegung mit eigenen Versammlungen, jedoch nur mit einem Minimum an Organisation; denn wenn sich die Quäker als «Erleuchtete» dem Hören auf den Heiligen Geist in sich verpflichtet wissen, so brauchen sie weder Dogmen noch Kirchen, Priester und Sakramente. Sie vertreten einen Independentismus in letzter Konsequenz.

Nun zur zweiten Gruppe: Der Pietismus ist eine bedeutende Glaubensbewegung des 17. Jahrhunderts. Seine Nachwirkungen sind bis in unsere Zeit herein wahrnehmbar. Innerkirchliche pietistische Kreise bildeten sich sowohl in lutherischen wie in reformierten Gebieten. Ihr Anliegen war die Erneuerung der Kirche, deren Leben damals mancherorts in einem trockenen Lehr- und Verwaltungsbetrieb erstarrt war. Die Anhänger des Pietismus wollten sich nicht mehr allein mit dem Besitz des rechten Glaubens zufriedengeben, sondern diesen Glauben auch leben. Die praxis pietatis, die «Übung der Gottseligkeit», gehörte zu ihren Hauptanliegen. Bibelglaube, Erkenntnis der Schuld und Gewissheit der Vergebung, Bekehrung und Heiligung fanden eine ganz neue Betonung.

Die beiden bedeutendsten Förderer des Pietismus in Deutschland waren Philipp Jakob Spener (1635–1705), dessen Buch «Pia desideria» die neue Bewegung recht eigentlich auslöste, und August Hermann Francke (1663–1727), der als Professor und Prediger in Halle einen weit über Deutschlands Grenzen hinausreichenden Einfluss ausübte. Zahlreiche in Halle ausgebildete Theologen und viele ehemalige Schüler von Franckes Waisenhäusern und Schulanstalten mit rund 2000 Plätzen brachten die neue Frömmigkeit auch in andere Gegenden und Länder.

Der alte Pietismus blieb, wenn wir von ein paar extremen Erscheinungen absehen, eine innerkirchliche Bewegung. Von ihm gingen indessen auch Anstösse zu einer Weiterentwicklung von Lehren und Frömmigkeit und damit zur Gründung neuer Bewegungen und Kirchen aus. Im Blick auf die Entstehung neuer Gemeinden darf allerdings ein Unterschied nicht übersehen werden: Die Freikirchen täuferischer (mennonitischer), baptistischer und darbystischer Herkunft erstrebten in ihrer Anfangszeit eine Erneuerung der Kirche durch die Ablehnung der bestehenden Kirchen. Sie stellten diesen von Anfang an neue Kirchenformen, andere Lehren und eine andere Frömmigkeit entgegen. Demgegenüber begannen die pietistischen und methodistischen Kirchen sowie die Heiligungsgemeinden in der Regel als Erneuerungsbewegungen innerhalb der traditionellen Kirchen. Erst die Zunahme von Spannungen und die Schwierigkeiten zur Integration der neuen Bewegungen führten zur Bildung neuer Kirchen und Gemeinden.

In Deutschland entstand als Freikirche pietistischer Herkunft die Herrnhuter Brüdergemeine. Deren Frömmigkeit wirkte sich im 18. Jahrhundert auch in England aus. Charles Wesley (1707–1788) und sein Bruder John Wesley (1703–1791) wie auch George Whitefield (1714–1770), die Gründer des Methodismus, waren von ihr beeinflusst. Sie entwickelten die von den Herrnhutern empfangenen geistlichen Anstösse zur besonderen methodistischen Verkündigung und Frömmigkeit.

Kennzeichnend für den früheren Methodismus war die Bildung von «Klassen», einer Art von Hausversammlungen zum Bibelstudium, sowie der Einsatz von Laienpredigern. Die Methodisten betonten die Freiheit des menschlichen Willens, die unmittelbare Erfahrung Gottes in der Seele des Christen bzw. das Zeugnis des Heiligen Geistes, die Wichtigkeit der Bekehrung und schliesslich die Forderung der Vollkommenheit nach der Liebe.

Die Aussagen John Wesleys und der frühen Methodisten zur christlichen Vollkommenheit führten zu zahlreichen Diskussionen und schliesslich in der Mitte des 19. Jahrhunderts zur Entstehung der amerikanischen Heiligungsbewegung. Deren Anhänger machten in Abweichung von den methodistischen Lehren aus der Rechtfertigung des Christen durch den Glauben und aus der Heiligung des Lebens zwei Glaubensstufen. Sie sprachen von der Heiligung und Vollkommenheit als von der «zweiten Segnung», vermochten allerdings dem Perfektionismus nicht immer zu entgehen.

In neuer Zeit blühte der Pietismus vor allem in der deutschen Gemeinschaftsbewegung als Neupietismus wieder auf. Durch das Zusammentreffen mit der amerikanischen Erweckungsfrömmigkeit und ihrer Theologie entstand auch in Europa die Bewegung der Evangelikalen. Zu den Evangelikalen zählen heute verschiedene Kreise in den evangelischen Landeskirchen, einige Freikirchen und eine grosse Zahl von selbständigen evangelistischen und volksmissionarischen Unternehmen. Die Bewegung der Evangelikalen ist, was Lehren und Frömmigkeit betrifft, allerdings nicht einheitlich. Die Unterschiede dürfen nicht übergangen werden.

Die Evangelikalen halten sich in der Regel an die 9 Punkte umfassende Glaubensbasis der Evangelischen Allianz von 1846 und an die Lausanner Erklärung des Internationalen Kongresses für Weltevangelisation von 1974 in Lausanne. Die Evangelikalen betonen die persönliche Heilsaneignung mit der Sündenerkenntnis, dem Sündenbekenntnis, der Busse, der Bekehrung und der Wiedergeburt. Sie reden von der Erfahrung des Heils, aus der ein aktives Christenleben hervorgehen soll. Zum aktiven Christenleben gehören nicht nur die tätige Nächstenliebe, sondern ebenso sehr die Bereitschaft, über seine Bekehrung und Wiedergeburt Zeugnis abzulegen.

Das Wort der Bibel wird zum persönlichen Wort für den Leser. Die Bedeutung des Wortes hinsichtlich der Gemeinde wird weniger stark betont. Bibelkritik auch im Sinne einer den Sinn aufhellenden Bibelwissenschaft wird in der Regel abgelehnt. Nicht selten wird in fundamentalistischer Weise an der Verbalinspiration festgehalten. Evangelikale Gemeinden umfassen, soweit dies möglich ist, Christen, die Bekehrung und Wiedergeburt erlebt haben. Kirchen, die darauf weniger Gewicht legen und z.B. eher Wortverkündigung und Sakramentsausteilung oder ein gemeinsames Bekenntnis als konstitutiv betrachten, sind ihnen suspekt. In vielen Fällen lehnen sie diese ab.

Dieses Gemeindeverständnis der Evangelikalen kann allerdings zu einer Zweiteilung in «Gläubige» und «Ungläubige», Zeitliches und Ewiges, Kirche und Welt führen. Den Evangelikalen liegt viel an der Evangelisation der Welt. Ungläubige sollen zur Bekehrung geführt werden. Entsprechend der erwähnten Zweiteilung wird hier und dort nicht so sehr die in der Menschwerdung Jesu Christi begründete Hilfe für die Welt, sondern der Ruf zur Distanz von der Welt betont. Die Einstellung der evangelikalen Gemeinden zur Taufe, Kindertaufe oder Erwachsenentaufe, ist nicht einheitlich. Der Ökumenische Rat der Kirchen wird auf Grund eines andern Kirchenverständnisses abgelehnt.

Aus dem evangelikalen Milieu, aber ohne Anbindung an eine bestimmte Tradition herausgewachsen sind die verschiedenen fundamentalistischen Sondergruppen, die meist auf einen einzelnen Leiter zurückgehen, der – von evangelikalem Glauben bewegt – zusätzliche Sonderlehren entwickelt und seine Gemeinschaft ins Abseits des Allein-Rechthabens und meist auch einer starken Personenbindung führt. Eine Auswahl dieser meist konfliktreichen Gemeinschaften schliesst das Kapitel ab.

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