Hinduismus

«Hinduismus» ist eigentlich ein Sammelbegriff für alle zu einem religiösen Kosmos zusammengeschmolzenen religiösen Gemeinschaften und Traditionen Indiens, die sich nicht einer anderen eindeutig bezeichneten Religion zurechnen. Hindus sind also alle gläubigen Inder, die nicht Moslem, Christen, Sikhs, Jainas, Buddhisten oder Angehörige alter «vorhinduistischer» Stammeskulte sind. Die Hindus selbst nennen ihren religiösen Weg meist nicht Hinduismus – der Begriff ist für sie zu sehr ein Konstrukt – sondern «sanatana dharma», «ewiges Gesetz».

Als Konglomerat zahlloser religiöser Einzeltraditionen entwickelt der sog. Hinduismus wie keine andere Religion die Kunst der Synthese. Im Hinduismus verbindet sich sogar das scheinbar Unvereinbare: Das eine Göttliche und die Unzahl der Gottheiten, die formlose Wahrheit und Versenkung ins eigene Selbst, die beinah zirkusreifen Askeseübungen und der mystische Genuss mit allen Sinnen, die wilde Ekstase der Feste und das jahrelange Schweigen mystischer Meister, die immensen Tempelanlagen, eigentliche Götterpaläste, und das Wissen um das eine Göttliche in allen Dingen, die fast erotische Liebe zu einem persönlich erlebbaren Gott (Bhakti Marga=Weg der liebevollen Hingabe) und die Versenkung ins göttlich Eine ohne Kontur und Gesicht (Jnana Marga=Weg der Erkenntnis). Diese einmalige Kraft zur Synthese gewinnt der Hinduismus vor allem aus seiner pantheistischen Grundstimmung. Die Bereitschaft, Gott in allem zu entdecken, relativiert nicht nur alle Unterschiede zwischen Mensch und Mensch, zwischen Tier und Mensch, zwischen diesem Gott und jenem Gott, sie verschmilzt zahllose lokale Gottheiten in immer wieder neuer Weise mit den wesentlichen Gestalten des eigenen Pantheons. Im Raum des Hinduismus wird alles und jedes zum Gesicht des Gottes mit unendlich vielen Gesichtern (Vishvarupa = Allgestalt, vgl. Bhagavadgita 11. Gesang). Selbst Gestalten, die ursprünglich dem Hinduismus völlig fern stehen, wie Buddha oder Christus, vereinigten sich im Hinduismus mit einem Hindugott und wurden zu Vishnu-Inkarnationen.

Wo immer aber indische Spiritualität Gott erlebt, neigt der indische Mystiker dazu, auch sein Ich zuletzt im göttlichen Selbst aufzulösen. Die Erkenntnis der Identität des eigenen und des universalen Selbst gehört zu einer Leitlinie indischer Frömmigkeit, differenziert vertreten z.B. in der Theologie der sog. «differenzierten Nicht-Zweiheit», radikal gefasst in der reinen «Nicht-Zweiheit», «Advaita». Zu «Dvaita», «Zweiheit», dem bleibenden Gegenüber von menschlicher Seele und Gott, bekennen sich nur wenige Hindumeister. Gerade darin unterscheidet sich hinduistische deutlich von christlicher Religiosität. Menschliches Wesen löst sich zwar auch in Grenzerlebnissen christlicher Mystik im Göttlichen auf, nie aber in einem am biblischen Zeugnis sich orientierenden Glauben. Hier verlieren sich das menschliche Ich und das göttliche Du nie ineinander. Das menschliche Ich bleibt Ich oder wird erst richtiges menschliches Ich in seiner Liebe und seinem Gegenüber zum göttlichen Du.

Nach traditionell hinduistischer Auffassung ist Sanskrit, die heilige Sprache des Hinduismus, die Ursprache der Menschheit. Die ältesten heiligen Schriften sollen zwischen 5000 und 1500 v.Chr. entstanden sein. In sprachwissenschaftlicher Sicht entstanden die ältesten Hinduschriften – die vier Veden – zwischen 1500 und 1000 v.Chr., bald nach der Einwanderung der Indoarier in Indien.

Wichtiger als diese ältesten Sammlungen von Opferhymnen und Ritualgebeten sind die eher philosophisch-mystisch orientierten Upanishaden, in denen – um ca. 800 v.Chr. – zum ersten Mal der Glaube an Reinkarnation und an Karma (=«Tat», d.h. der Tat-Wirkungs-Zusammenhang als schicksalsbestimmende Macht) erwogen und vorerst nicht öffentlich, sondern nur im erlesenen Kreis würdiger Wahrheitsfreunde erläutert wurde. Nicht die Götter bestimmen das Schicksal. Jedes Wesen bestimmt für die momentane und für weitere Inkarnationen sein Geschick. Die Religiosität, die sich in den Veden und Upanishaden artikulierte, wird heute in der Regel noch nicht als Hinduismus angesprochen. Man spricht meist von vedischer Religion und reserviert den Begriff Hinduismus für jene Phasen der indischen Religionsgeschichte, die durch die – provokative – Begegnung der vedischen Weltsicht und Mystik mit dem Buddhismus geprägt sind. Der Buddha – um 560 bis 480 v.Chr. – lehnte sowohl das vedische Schrifttum wie auch die altindische Kastenordnung und die in den Upanishaden beschriebene Mystik als Versenkung ins überall präsente göttliche Wesen ab.

In nachbuddhistischer Zeit entfaltete der Hinduismus in den grossen Epen, im Mahabharata, (darin eingeschlossen das berühmte Lehrgedicht des Krishna an seinen Freund Arjuna, die Bhagavadgita), im Ramayana, das die Heldentaten der Vishnu-Inkarnation Rama schildert, und in den mythenreichen Puranas, eine sowohl volksnahe als auch philosophisch reflektierte Frömmigkeit. Beide, Volksnähe und Tiefsinn hinduistischer Frömmigkeit, führten dazu, dass der Buddhismus, nach ein paar Jahrhunderten intensivster Ausbreitung, in Indien wieder an Faszination und Einfluss verlor. Im 8. Jahrhundert n. Chr. reorganisierte Shankara nicht nur das hinduistische Mönchswesen. Mit seinem radikalen Monismus (Advaita-Vedanta, radikale Nicht-Zweiheitslehre) entwarf er Grundlinien einer Mystik, die vom Vielen so radikal ins göttlich Eine führt, dass sie alle Sehnsucht der Inder nach dem befreienden Nichts des Buddhismus überstrahlte. Aber stehen sich das Eine des Vedanta und das Nichts des Buddhismus, trotz ihres scheinbaren Gegensatzes nicht eigenartig nahe? Der gemeinsame Grund buddhistischer und hinduistischer Spiritualität bleibt bis heute überall dort spürbar, wo sich das Interesse am spirituellen Erleben und nicht an lehrmässigen Differenzen orientiert.

So ist die Welt für Buddhisten wie für Hindus Samsara, leidvoller Kreislauf von Geburten. Der Mensch sucht Befreiung vom Rad der Geburten. Im Blick auf den Weg der Befreiung – oder auf die in jeder der beiden grossen Religionen dargelegten vielen Wege der Befreiung – setzen Hinduismus und Buddhismus nicht grundsätzlich andere Wegzeichen, aber deutlich andere Akzente. Buddhismus entwickelt sich zum Weg der Überwindung jeder Gier, zum radikalen Aufgeben alles Wollens und zum Erleben der grossen Befreiung im Wegfallen aller Bindung an ein Hier oder Dort. Hinduismus führt in seiner eindrücklichsten Gestalt zum Eintauchen des menschlichen Geistes ins göttliche Ein-und-Alles und damit auf seine Weise ebenfalls zum Freiwerden jeder Bindung an ein Dies und Das. Der befreite Buddhist verliert sein eigenes Selbst, der befreite Hindu wird eins mit dem höchsten göttlichen Selbst. In seiner Theorie gibt sich der alte Buddhismus nihilistisch. Der klassische Hinduismus präsentiert sich pantheistisch. Aber unterscheiden sich diese zwei Befreiungswege im Erleben der Befreiung wesentlich voneinander?

Der Einfall des Islams in Indien führte nicht nur – vor allem in Nordindien – zur Zerstörung zahlloser Tempel. Der Hinduismus entwickelte gleichzeitig immer ofenkundiger Bhakti, die persönliche Liebe zu einem menschennahen Gott. Seit der englischen Kolonialzeit integrierte der Hinduismus Elemente westlicher Weltsicht (Reformhinduismus). Er griff in Indien ebenso offenkundig nationale Anliegen auf, wie er im Westen missionierend sich als Universalreligion präsentierte. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war der Hinduismus noch eindeutig eine Nationalreligion: Indien ist das Land der Götter und des Dharma, der göttlichen Ordnung. Der Rest der Welt ist Adharma, Unordnung. Diese Bindung ans «heilige Land» hat sich in neuster Zeit sehr gelockert. Während im tradierten Hinduismus die Überzeugung, dass jeder Mensch für sein Karma selber verantwortlich ist, dem Engagement für sozial Benachteiligte enge Grenzen setzte – wer leidet, ist «selber schuld» –, bekennt sich der Reformhinduismus, nicht zuletzt auch als Antwort auf die christlichen Missionen, offen zu sozialem Engagement (z.B. in der sog. Ramakrishna-Mission). Er versucht die in vielen Jahrhunderten erstarrte Kastenordnung zwar nicht aufzuheben, aber aufzuweichen und die sog. Kastenlosen, während langer Jahrhunderte als dem Hinduismus nicht zugehörig betrachtet und in Tempeln nicht zugelassen, als Teil der Hindu-Gesellschaftsordnung zu verstehen.

Dieses Bemühen ist nur zu begreiflich, haben sich doch in neuerer und neuester Zeit nicht wenige Menschen aus niedrigen Kasten und Kastenlose dem Buddhismus, dem Islam und dem Christentum zugewandt. Im Moment trägt eine orthodoxe Hindupartei die Regierungsverantwortung in Delhi. Der von Hindu-Fundamentalisten ausgehende Wunsch nach einer Verwandlung der säkularen indischen Union in einen Hindustaat und die ihn begleitenden neuen religiösen Auseinandersetzungen können den Stolz Indiens auf seine religiöse Toleranz zwar verunsichern, aber nicht wirklich ausräumen. Indien kann sich religiöse Intoleranz eigentlich nicht leisten. Ein Indien, das seine religiöse Toleranz aufgibt, würde als Staat zerbrechen. Obwohl in den letzten Jahren der christliche Bevölkerungsanteil wahrscheinlich nur unwesentlich gewachsen ist, allenfalls durch amerikanisch-evangelikale Missionare, die heute an vielen Orten präsent sind, wird das Christentum vom «fundamentalistischen», d.h. politisch engagierten Hinduismus z.Zt. als Bedrohung der indischen Identität empfunden.

«Yoga» – wurzelverwandt mit dem lateinischen «iugum» und dem deutschen «Joch» – ist der Versuch, alle physischen und psychischen Kräfte unter das Joch des eigenen Erlösungswillens zu spannen. Gerade damit unterscheidet sich der indische Yoga zentral von seinen westlichen Formen. Westlicher Yoga ist immer eine Art mystisch vertiefte oder spirituell sanft verklärte Körperarbeit. Die Übenden sollen befähigt werden, ihren Körper, ihren Geist, ihren Atem – kurz, ihr Leben – bewusster, souveräner und intensiver zu erleben. Weltfreiheit und Weltlosigkeit ist nie das Ziel des westlichen, wohl aber des klassischen indischen Yoga. In den Yoga-Merksprüchen des Patanjali, d.h. im Leitfaden des sog. Raja-Yoga, sucht der klassische indische Yoga am Ende seines Weges das radikale All-Ein-Sein, das regungslose Ruhen des Geistes in sich selbst, befreit von aller Emotion und jeder Bindung an Körper und Welt. Der Geist soll zum blanken Spiegel werden, in dem sich nichts mehr spiegelt, zum glatten See, auf dem kein Wind mehr die Oberfläche kräuselt. (Spiegelglatte Seen erlauben dem Betrachter, in die Tiefe zu blicken. Indischer Yoga erlaubt dem regungslosen Geist, sich selber zu erkennen.)

In diesem All-Ein-Sein, in diesem ungetrübten Ruhen-in-sich-selbst, hat der Geist den leidvollen Kreislauf der Wiedergeburten durchbrochen. Im indischen Hatha-Yoga – «Zwang»-Yoga – wird zwar oberflächlich betrachtet der Körper bejaht und geschult, so intensiv, bis der Yogin viele Körperfunktionen in ihr Gegenteil umkehren kann: Er kann auf dem Kopf stehen, Positionen einnehmen, die an Pflanzen, Bäume oder Tiere erinnern, er kann den Atem unwahrscheinlich lange anhalten, die Augen nach innen drehen, mit dem After und dem Penis im Wasser stehend Wasser aufsaugen usw. Aber all diese Umkehr-Übungen sind nur scheinbar Körpertraining. Indischer Hatha-Yoga trainiert den Körper nicht aus Körperfreude und Sportbegeisterung. Er ist, wie indischer Yoga überhaupt, immer eine Art mystische Sterbeübung. Der Körper soll zum gehorsamen Werkzeug in der Hand des Geistes werden. Und dieser Geist versucht, Lebendigkeit weitgehend zu unterbinden. Besonders das endlos lange Atemanhalten ist eine Vorübung für den Tod. Diese scheinbar morbide Zielsetzung des indischen Yoga wirkt auf uns solange befremdlich, als wir uns nicht vor Augen halten, wie sehr das Sterben-Können und das Leben-Können zwei Seiten derselben Sache sind. Nur wer sterben kann, kann auch leben und umgekehrt. Nichts von dieser Erlösungssucht steckt aber im westlichen Hatha-Yoga.

Hier ist Yoga nicht mystische Sterbeübung, sondern Lebensschulung und Körpertraining. Analoges gilt vom sog. Kundalini-Yoga, einer tantrischen Spielform des Hatha-Yoga. Kundalini gilt als göttliche, unbewusste, weibliche Energie, die an der Basis unserer Wirbelsäule als eingerollte Schlange (Kundalini = die Geringelte) ruht. Durch entsprechende Atemübungen und Mantra-Meditationen (meditatives Wiederholen mystischer Silben) wird Kundalini geweckt und in der Vorstellung des Yogins dazu gezwungen, durch einen Kanal entlang der Wirbelsäule und durch die vielen Chakras («Kreise», Energiezentren) dieses Kanals aufzusteigen, bis sie sich im obersten Chakra – meist zwischen den Augenbrauen vorgestellt – mit der passiven, männlichen, bewussten, göttlichen Energie vereint. In diesem Erlebnis der Verschmelzung von Shakti (weibliche göttliche Kundalini-Kraft) mit Shiva (göttliches männliches Bewusstsein) erleben die Meditierenden, was sie zutiefst in allen Yoga-Formen suchen, ein Sein jenseits des Samsara, ein Glück, das von allen Bindungen an das leidvolle Dasein befreit. Auch Kundalini-Meditation wird, in den Westen übertragen, selbstverständlich zur Bereicherung und nicht zur Überwindung der eigenen körpergebundenen Existenz eingesetzt: Kundalini-Yoga soll mir helfen, alle in mir verborgenen Chakras und Kräfte zu entfalten.

Die oft diskutierte Frage, ob sich Yoga mit christlichem Glauben verbinden lasse, entscheidet sich so besehen an den Intentionen des in Frage stehenden Yogas. Ein verwestlichter Yoga, eine Art mystische Gymnastik zur Vertiefung des eigenen Wohlbefindens, widerspricht den Grundanliegen des christlichen Glaubens nur dort, wo er – wie viele Bewegungen und Schulen indischer Spiritualität – in Guruverehrung und pantheistische Einheitsmystik gleitet. Mit den Grundanliegen christlicher Existenz aber grundsätzlich nicht vereinbar ist ein indischer Yoga, der mit diesen oder anderen Mitteln die Befreiung des eigenen Geistes aus aller welthaften Bindung erstrebt. Christlicher Glaube erarbeitet sich – wie alle Konfessionen betonen – nie allein die eigene Befreiung, und wenn sie ihm geschenkt wird, ist es nicht die Befreiung von, sondern die Befreiung in der Welt.

Also: Yoga lässt sich problemlos mit dem christlichen Glauben verbinden, wenn er – an seinen indischen Wurzeln gemessen – kein Yoga mehr ist.

Tantra, wörtlich «Webstuhl», dient als Sammelbezeichnung für hinduistische, buddhistische und jainisitische Texte, die einerseits Anleitung geben, wie man in einer von geheimnisvollen Kräften erfüllten Welt sich diese durch geheimnisvolle Rituale dienstbar machen kann, und die andrerseits die Verbindung der weiblichen Kraft (Shakti) mit dem männlichen Bewusstsein (Shiva) als Grundprinzip des mystischen Erlösungsstrebens lehren. Tantra ist einerseits Magie, andererseits spezifisch Sexualmagie, in beiden Fällen aber ein okkultes Wissen und eine okkulte Praxis, die nie in der Öffentlichkeit ausgebreitet, sondern nur von Meistern im kleinen Kreis auf den Schüler übertragen werden.

Als okkulte Magie und Religiosität setzt sich Tantra – wie die meisten okkulten Strömungen in allen Religionen – in bewusste Opposition zur herrschenden Religiosität und Moral. Tantra ist Liebe zum Gegenteil, zu jenen Aspekten menschlicher Existenz, die die herrschende Moral nur zu gerne ächtet. Tabus zu brechen gehört zu den faszinierendsten Aspekten jeder okkulten Religiosität. Als Sexualmagie sucht Tantra die Erlösung aus dem Kreislauf des Samsara in der bewussten Vereinigung des weiblichen mit dem männlichen Prinzip. Der sog. rechtshändige Tantrismus arbeitet mit sexuellen Symbolen. Der linkshändige Tantrismus begnügt sich nicht mit Symbolen. In feierlichem Ritual wecken Partnerin und Partner in sich das Bewusstsein für die im eigenen Körper und im Gegenüber präsente Gottheit und verbinden sich nach weiteren Vorübungen zur sexuell und mystisch erlebten Einheit aller Gegensätze, die aus dem Kreis des Samsara befreien soll. Diese Rituale des traditionellen linkshändigen Tantrismus verlangen vom Übenden aber ein äusserstes Mass an feierlicher Ordnung. An wilden Gruppensex denkt nur das Sexbusiness und die banale Lüsternheit. Ziel des indischen Tantra ist nie die Lust als Lust und schon gar nicht die öffentlich vermarktete Lust. Sein Ziel ist die Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten durch Freiwerden von aller Gier. Weil die eigenen Triebe sich diesem spirituellen Ziel oft nicht unterordnen wollen und weil sich göttliche Kräfte in allem Erfahrbaren verbergen – auch das scheinbar Perverse ist von Gott erfüllt –, greift der indische Tantrismus oft zu nekrophilen Kasteiungen.

Auch in Bezug auf den Tod bricht Tantra einige Tabus. So üben sich Tantriker im Extremfall in Selbstabtötung auf Kremationsplätzen, ernähren sich von im erlöschenden Kremationsfeuer noch auffindbaren Fleischresten, beschmieren sich mit Asche, malträtieren ihr Lingam (männliches Glied), oder üben sich in der Kunst, im Zusammensein mit ihrer Partnerin jeden Samenverlust zu vermeiden (Samenverlust gilt als Kraftverlust). All diese bizarr okkulten Aspekte des indischen Tantra übersieht der heute im Westen sich ausbreitende Tantramarkt mit gutem Grund. Nachdem sich in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg zahlreiche Varianten des Yoga im Westen ausbreiteten, hat sich in den letzten Jahren vor allem Tantra auf den spirituellen Markt des Westens etabliert, allerdings ein Tantra, das, wie seinerzeit der Yoga, den Westen nur faszinieren kann, weil es aufgehört hat, Tantra zu sein.

So verschieden diese neuen Tantra-Angebote sind – sie reichen von mystisch eingefärbter Sexualtherapie bis zur spirituell notdürftig kaschierten Prostitution – gemeinsam ist ihnen, dass sie sich nicht als okkultes Geheimwissen präsentieren, sondern als öffentlich inserierte Angebote, und dass sie einem sog. Normalsex durch exotisch-mystische Ambiance neue Impulse geben möchten. Aus Frust soll wieder Lust werden, so lautet das Motto des Neo-Tantra, während das traditionelle indische Tantra als Erlösungsweg über jeden Frust und jede Lust hinaus in die Befreiung führen will. Gemeinsam ist dem indischen und westlichen Tantra die Bedeutung des Lehrers für den Schüler, der sich auf okkulte Mystik und Magie dort oder auf spirituell-sinnliche Abenteuer hier einlassen will.

Dass der Guru im Tantra noch mehr als im Yoga ein entscheidender Faktor auf diesem nicht ungefährlichen Befreiungsweg oder Selbsterkundungsweg ist, versteht sich fast von selbst. Wo der Schüler psychisch so absturzgefährdet übt und lebt, wird der Meister schlicht unentbehrlich. Nicht alle Tantra- und Neotantra- Meister verdienen aber das grenzenlose Vertrauen, das die Übenden ihnen schenken. Wo Meister-Allüren sich mit sexualmagischen Experimenten verbinden, ist sexuelle Ausbeutung die beinah unvermeidliche Folge.

In der magischen Welt des traditionellen indischen Tantra kann sich der christliche Glaube nicht wohlfühlen. Christlicher Glaube will nicht geheimnisvolle (körperliche und kosmische) Kräfte beherrschen. Neotantra muss sich vom christlichen Glauben fragen lassen, ob es Sexualität vertieft oder vermarktet. Neotantra verkommt oft zum Sexgewerbe und indisches Tantra zur okkulten Zauberei. In beiden Fällen wird der eigentlich gemeinte spirituelle Wert des Tantra durch irdische Wünsche verdrängt.

Die Institution des spirituellen Meisters kennt Indien seit der Zeit der frühen Upanishaden. Je offenkundiger indische Spiritualität pantheistisch war und je deutlicher sie alle Wahrheitssucher vor die Aufgabe stellte, auf dem Grund des eigenen Wesens das wahre göttliche Selbst zu entdecken und zu entfalten, desto notwendiger brauchte der Schüler auch einen Menschen, der dieses eigene göttliche Selbst in sich schon entdeckt und entfaltet hatte. Gurus oder Gurvis (Meisterinnen) sind selbstverwirklichte Menschen, die anderen helfen können, auch ihr eigenes Selbst zu entdecken und zu entfalten.

Wie finden Wahrheitssuchende ihren wahren Meister? Schüler und Meister finden, wenn die Beziehung stimmt, in einer Art gegenseitiger, spontaner Wahl zu- einander. Der Schüler weiss: Dieser ist mein Meister. Der Meister gibt dem Schüler zu erkennen, dass er schon lange auf ihn gewartet hat. Kurz: Meister und Schüler finden zueinander durch ihr Karma, weil sie aus früheren Inkarnationen sich kennen und füreinander bestimmt sind. (Die Geheimnisse der traditionellen Meister-Schüler-Beziehung werden eindrücklich beschrieben z.B. im bekannten Werk von Yogananda, «Autobiographie eines Yogi».) Während nun aber bis ins 20. Jahrhundert hinein die traditionelle Meister-Schüler-Ordnung eine relativ kleine Gruppe von Schülern in einer fast familiären Verbindung für die Jahre des Lernens mit dem Meister verband, führte das Phänomen des Massengurus im 20. Jahrhundert auch zu extrem wahngefährdeten Meister-Schüler-Beziehungen und zu zahllosen ausgeprägt sektenhaften Gurubewegungen.

Der Schüler kann in der modernen Gurubewegung seinem Meister auch nie mehr wirklich begegnen. Echtes Sich-kennen-Lernen ist nicht vorgesehen. Der Meister erscheint vor Hunderten von Schülern und lässt sich von ihnen feiern. Diese sog. Darshans, Rituale des Gurukultes, geben dem Schüler zwar die Möglichkeit, seine Wünsche in den Guru hineinzuprojizieren und allenfalls noch untertänigst eine Frage zu formulieren und damit seine Lernbereitschaft zu dokumentieren. Für wirkliche Begegnung bleibt im Darshan kein Raum. Der Meister kann deshalb den Schüler auch nicht mehr auf einem schwierigen individuellen Weg der Selbstfindung persönlich begleiten. In einer tranceähnlichen Kollektivmystik gleitet das leidgebundene kleine Ich des Schülers ins selige Kollektiv der Verehrergruppe. Auf diese Weise führt aber kein Meister den Schüler zum eigenen wahren Selbst.

Da im Westen viele an ihrer Selbstverantwortung zerbrechende und im eigenen Ich gefangene Wahrheitssucher gerne ihr kleines Ich wenigstens vorübergehend im grossen Selbst des Meisters und in der sich um den Meister versammelnden Gruppe auflösen, finden die modernen Massengurus in der westlichen Welt nicht wenige Anhänger. Sie versprechen wahres Menschsein und Selbstfindung und führen in wahnhafte Hörigkeit und in kollektive Trance, die jedes eigenverantwortliche Selbst vergisst.

Im 16. Jahrhundert entstand im Spannungsfeld von Islam und Hinduismus in Nordindien eine spirituell und bald auch politisch äusserst bedeutsame und militärisch erfolgreiche Bewegung, die Elemente des Islams – der Glaube an einen einzigen Gott, Ablehnung des Kastenwesens, Verehrung eines heiligen Buches – mit Elementen des Hinduismus verband, nämlich Reinkarnationsglaube, Meditation als Erlösungsweg, Bhakti (liebevolle Hingabe an Gott), Bedeutung des Gurus. Der Sikhismus führte von Guru Nanak (1469–1539), einem eindrücklichen Mystiker, über verschiedene Gurus, z.B. Ram Dass (1534–81), den Erbauer des goldenen Tempels von Amritsar, und Godbindh Singh (1660–1708), der ein eigentlicher Theokrat war, zur Überzeugung, dass das heilige Buch, der Adi Grant, für die später Geborenen der wahre Guru sei. Wie ein Guru, d.h. wie eine menschliche Majestät, wird das heilige Buch in Amritsar auch verehrt. Damit hat der traditionelle Sikhismus auf spätere wegweisende Meistergestalten verzichtet.

Hingegen scharen sich andere, weniger orthodoxe Strömungen seit dem 19. Jahrhundert um ihre neuen, zeitgenössischen Meister. Gerade diese «heterodoxen» Sikhgruppen, vor allem die Varianten der von Shiv Dayal Singh (1818–1878) begründeten Radha-Soami- oder Sant-Mat-Bewegung, suchen und finden dank ihrer faszinierenden Verbindung von meditativen Erfahrungen (Klangmystik und Farbenmystik) mit intensiven Gemeinschaftserlebnissen und bedingungslosem Meisterkult zahlreiche Anhänger in der westlichen Welt.

Neben dem Meisterkult und der faszinierenden pantheistischen Grundstimmung wirkt der sog. Hinduismus auf einen Teil der westlichen Welt vor allem mit seinem Glauben an Karma und Reinkarnation. Auch dieses Element indischer Spiritualität hat, als es in der westlichen Welt aufgegriffen wurde, seine weltüberwindende und weltflüchtige Dynamik gegen eine eher weltfrohe und beinah weltsüchtige Perspektive ausgetauscht. Die von der Theosophie, dem New-Age und zahlreichen modernen im Westen heimischen spirituellen Bewegungen aufgegriffene Reinkarnationslehre belastet den Menschen nicht mehr mit den zahllosen vergangenen und noch anstehenden Geburten. Das mystische Indien suchte, sobald es die endlose Kette der Geburten und Wiedergeburten ins Auge fasste, sofort nach Befreiung vom Rad der Geburten. Im Westen dagegen freuen sich reinkarnationsgläubige Menschen am Ende einer Existenz auf neue, interessante Inkarnationen.

Ein an biblischem Schrifttum orientierter christlicher Glaube geht zum indischen und theosophisch-westlichen Reinkarnationsglauben auf Distanz, weil er die Einzigartigkeit und Bedeutsamkeit jedes Augenblickes und jedes Lebens anerkennt, und weil er den Reinkarnationsglauben, ein spirituelles Karrieredenken, das zur stufenweisen Selbstreinigung und Selbsterlösung auffordert, mit dem Glauben an die uns geschenkte Erlösung nicht verbinden kann. Alle Kombinationen von christlicher Gnadenlehre und Reinkarnationsglauben – verschiedene Vorschläge wurden schon vorgelegt – wirken auf den ersten Blick besehen gekünstelt und bei intensiver Betrachtung manchmal arrogant. Der reinkarnationsgläubige Mensch möchte dem Schicksal auf die Finger schauen, und erkennen, wer warum die Schicksalsfäden so seltsam spinnt. Er schiebt Vorhänge zur Seite, hinter welche die gläubige Vorsicht nie zu blicken wagt. Keine der grossen Weltreligionen sieht sich so offenkundig als Synthese oder Summe aller religiösen Wahrheiten wie der moderne Hinduismus. In allem, was Menschen verehren, zeigt sich ein Antlitz Gottes und jeder Weg zu Gott führt zuletzt ans gleiche Ziel. Das heisst nicht, dass in neuhinduistischem Verständnis alle Religionen gleichwertig sind. Die Religion, die diese Einheit aller am klarsten erkennt und die alle Wahrheiten der anderen bewusst bejahen und in die eigene religiöse Welt integrieren kann, steht dieser Einheit selbstverständlich am nächsten. Mit anderen Worten: Alle Religionen sind Wege zu Gott. Aber der Hinduismus erkennt Gott umfassender als alle anderen Glaubensweisen und fasziniert mit dieser seiner «elitären Offenheit» auch gebildete und weltoffene Westler.

Auch Christen, die andere Religionen nicht bekämpfen, sondern verstehen möchten, rechnen oft mit einer letzten Einheit aller Religionen. Denn niemand kann von Gott verlangen, dass er sich nur im je eigenen Glauben den Menschen zuwendet. Aus dieser nur in Gott gegebenen und uns nicht verfügbaren Einheit aller Religionen heraus wächst hie und da der Wunsch nach einer alle Religionen umfassenden und überbietenden Welteinheitsreligion. Diese Theorie, Universalreligion genannt, wird zwangsläufig jede konkrete Religion so vereinnahmen, wie der Hinduismus Elemente christlicher, islamischer und buddhistischer Spiritualität vereinnahmt hat. Also: wir dienen keinem Glauben, wenn wir ihn «globalisieren», d.h., in eine fiktive Universalreligion einfliessen lassen. Denn in der grossen religiösen Synthese verblasst jede konkrete Religion zum Schatten ihrer selbst.

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