Tantra und Neo-Tantra

anderer Name: Tantrismus

Tantra bedeutet aus dem Sanskrit übersetzt so viel wie „Gewebe, Zusammenhang, System, Lehre“, kann aber auch mit «Kontinuität oder Text» beschrieben werden. Die Wortwurzel «Tan» bedeutet so viel wie «ausdehnen, weiten», was sich auf die Erweiterung der menschlichen Fähigkeiten und des Bewusstseins bezieht. Dadurch sollen die geistigen Kräfte, welche jedem Menschen innewohnen, verwirklicht werden. Der Begriff Tantra bezeichnet auch die Literatur zum Tantra, welche auch solche einschliesst, die als «erweitert» gesehen wird und daher nur entfernt mit den ursprünglich tantrischen Lehren in Verbindung steht. Die Entstehung dieser Textgattung mit vielschichtiger Sprache und Symbolik geht auf das 8. Jahrhundert in Indien zurück. Die Schriften umfassen eine Sammlung an unterschiedlichen Traditionen und esoterischer Praktiken. Sie zeigen auch sexuelle Darstellungen, welche die männlich-weibliche Polaritäten betonen und sowohl symbolisch verstanden, als auch praktisch umgesetzt werden.

Der Tantrismus kann als Strömung im indischen Denken bezeichnet werden. Er umfasst keine einheitliche Lehre, sondern bietet eine Bandbreite an unterschiedlichen Methoden und Praktiken, mit denen man das Eins-Sein mit dem Absoluten erleben kann. Meist wird Tantra als Weg betrachtet, wobei die Körper- und Geistübungen das Bewusstsein erweitern und zur Befreiung führen sollen. Gemäss dem Tantra enthält jegliche Aktivität eine schöpferische Kraft. Daher besteht die Wirkung des Tantras nicht aus Askese und Entsagung, sondern aus dem Annehmen von Wünschen, Sehnsüchten und Gefühlen. Durch die Tantra-Praxis soll der menschliche Körper und Geist zur Ausgeglichenheit (und dadurch zur höchstmöglichen Spiritualität) gebracht werden. Die Lehre des Tantra grenzt sich von der orthodoxen vedischen Tradition ab, hebt Kastenunterschiede auf und betont die rituelle Gleichheit der Frau. Tantriker lassen sich grob in vier Gruppen teilen, je nach Gottheit die sie verehren und den Ritualen, die sie ausführen: Saivas (Verehrung Shivas), Vasnavas (Verehrung Vishnus) und Saktas (Verehrung der weiblichen Energie Shakti). Diese unterteilen sich wiederum in weitere Untergruppen.

Der Tantrismus hat eine lange Geschichte und soll bis auf prähistorische Magie- und Fruchtbarkeitskulte zurückgehen. Im Hinduismus, Buddhismus und Jainismus gibt es frühe Hinweise auf den Tantrismus, wobei die Praktiken viel älter sind, als diese Texte. Ab dem 3./4. Jahrhundert n.Chr. sind in Nordindien buddhistische und ab dem 6. Jahrhundert hinduistische Tantras belegt. Frühe Texte beschäftigen sich meist mit magischen Schutz- und Besänftigungsrituale, während spätere Texte (ab dem 8. Jahrhundert) die Vorstellung vertreten, dass man durch tantrische Praktiken die Buddhaschaft erlangen kann. Weitere Texte behandeln die Überwindung von Polaritäten und der Dualität durch die rituelle Vereinigung von männlich-weiblicher Polarität und durch verbotenes Verhalten (Verzehr von Fleisch usw.). Im 7. Jahrhundert kam es in Nordindien (Bihar, Bengalen, Kaschmir, Orissa) zur Blütezeit des Tantrismus. Von dort aus breitete er sich weiter nach Osten aus und erreichte auch den Westen durch unterschiedliche Kanäle. Hier vermischte sich esoterisches, tantrisches und okkultes Gedankengut, welches bei Kabbalisten, Freimaurern und Alchemisten grosse Beliebtheit genoss. Zu den wichtigsten und bekanntesten Vermittlern dieser Form der tantrischen Lehre im 19. und 20. Jahrhundert zählen der britische Richter und Tantratexte-Übersetzter John Woodroffe (alias Arthur Avalon), die Theosophische Gesellschaft, der Okkultist Aleister Crowley und die amerikanische Popkultur (durch das Aufkommen der «Jugendreligionen»).

Der Tantrismus gelangt über Nordindien nach Tibet und von dort in die Mongolei. Insbesondere in Tibet werden die Lehren und Praktiken des «Tantrayana» (auch Vajrayana) aufgenommen und weiterentwickelt. Über China gelangt der Tantrismus nach Japan, wo er heute noch im Shingon-Buddhismus praktiziert wird. Spuren des Tantrismus sind auch in anderen asiatischen Ländern wie Korea, Indonesien oder Sri Lanka zu finden. Der buddhistische Tantrismus beruht auf tibetischen Tantra Texten und gilt als eine Form des Mahayana-Buddhismus. In dieser Vorstellung ist es dem Menschen möglich, durch die Führung eines Gurus die Erleuchtung und Eins-Werdung mit dem kosmischen Buddha zu erlangen. Durch Meditation und bestimmte Rituale versuchen buddhistische Tantriker das Nirvana schneller zu erlangen als andere Mahayana-Buddhisten. Für die Meditation sind Mandalas (komplexe Darstellungen des buddhistischen Kosmos) eine Hilfestellung. Auch Atemübungen, die Rezitation von Mantras und die rituellen Handhaltungen, sogenannte Mudras, helfen bei der Meditation.

Die Entwicklung der Tantra-Literatur erstreckt sich über einen langen Zeitraum und kann nicht auf eine bestimmte Periode festgelegt werden. Insgesamt soll es 108 tantrische Texte geben, wobei die Zahl nur schwer bestimmbar ist. Die Tantra Texte sind meist anonym geschrieben worden, wobei ihnen ein göttlicher Ursprung zugeschrieben wird. Sie sind in Form eines belehrenden Dialogs geschrieben und tragen unterschiedliche Namen wie: Agama, Nigama, Yamala usw. Texte in denen Shiva seine Gefährtin Parvati anspricht werden dabei als Agama («Offenbarung») beschrieben, während Nigama Texte Szenen beschreibt, in denen sich Parvati an Shiva richtet. Die Tantra können gemäss ihren Patronats-Gottheiten in drei Gruppen gegliedert werden: Saiva-Agamas (Shiva), Vaihsnava-Agamas (Vishnu) und Sakta-Agamas (Sakti). Die Agamas gelten als theologische Abhandlungen und Handbücher für die Gottesverehrung. Sie alle unterteilen sich in vier Teile. Der erste Teil behandelt das Wissen und metaphysische Fragen, der zweite bildet das Yoga, der dritte handelt vom Ritual und der vierte beschäftigt sich mit dem Verhalten des Menschen und seiner Natur.

Der Tantrismus ist ein praktischer Weg des Handelns, bei dem Wirkungen und nicht eine Philosophie oder ein Glaubenssystem im Vordergrund stehen. Tantriker gehen von einem Nicht-Dualismus aus, der Vorstellung, dass das Universum einen gemeinsamen Ursprung hat und eine Einheit bildet. Erlösung erfolgt im Tantrismus durch Rituale und «magische» Praktiken.

Im Tantrismus nimmt das Zusammenspiel von Mikro- und Makrokosmos eine zentrale Stellung ein. Während ersterer die sogenannte grobstoffliche, sinnlich erfahrbare Welt beschreibt, so bezeichnet letzterer die sogenannte feinstoffliche, geistige Welt. Beide sind ineinander verwoben und bilden sich gegenseitig ab. Gemäss der tantrischen Lehre sind individuelle Existenz und das universelle Sein eins. So sollen Kräfte, welche in der makrokosmischen Ebene herrschen auch das Individuum auf der mikrokosmischen Ebene regieren. Tantriker verstehen das Universum also so, dass es auch im Menschen besteht und umgekehrt der Mensch auch im Universum besteht. Die zentrale Idee besteht darin, dass die Wirklichkeit ein unteilbares Ganzes darstellt, eine Einheit. Der Tantrismus geht davon aus, dass das Universum auf den miteinander verwobenen männlich-weibliche Polarität beruht. Diese Vorstellung wird «Shiva-Shakti» genannt, was so viel wie kosmisches Bewusstsein bedeutet und mit den hinduistischen Gottheiten Shiva (männlich) und Shakti (weiblich) identifiziert wird. Shiva steht für die geordnete Struktur und die elementaren Bestandteile und Shakti für die dynamische Kraft, welche das Leben mit kosmischer Energie erfüllt. Das gesamte Sein manifestiert sich in Gegensatzpaaren wie negativ und positiv, männlich und weiblich, hart und weich usw., die zwar scheinbar unterscheidbar in ihren Qualitäten sind, jedoch als zwei Aspekte des Einen angesehen werden. Man spricht hierbei auch vom Prinzip der Dualität in der Nicht-Dualität. Ziel des Manschens ist dabei die Überwindung dieser Dualität und dass Erlangen eines Zustandes ohne Polarität. Kurz gesagt ist das oberste Ziel des Tantrikers das Erlangen von Shiva-Shakti, die Vereinigung der Polaritäten, das Ein-werden. Dabei soll es zu einer Befreiung von Schmerz, Leiden, Werden und Vergehen kommen.

Unterschiedliche Methoden im Tantrismus sollen alle Sinne miteinbeziehen und auf Geist und Körper wirken. Diese Übungen haben zum Ziel, dass der Mensch Selbsterleuchtung erlangt. Die Methoden der Tantriker bestehen aus der Arbeit an sich selbst oder aus Körperübungen, aus Riten und Rituale, aus dem Anschauen von Mandalas oder Gottheiten und aus der Rezitation von Mantras. Der Tantrismus weist einen komplexen Ritualismus auf. Durch das regelmässige Praktizieren von tantrischen Ritualen sollten sich die Menschen mit dem Universum eins fühlen und dadurch Samadhi, die absolute Erfüllung ohne Ängste, Schmerzen oder Sehnsüchte, finden. Diese Erfüllung erfährt man gemäss dem Tantrismus nicht durch Askese, sondern durch das aktive Erleben aller Erfahrungen, die spirituell genutzt werden können. Da jede Erfahrung dies leisten kann, sind tantrische Praktiken auch nicht an bestimmte religiöse Traditionen gebunden. Die Rituale und Techniken dienen der Vereinigung mit dem Göttlichen im Hier und Jetzt. Durch solche tantrischen Praktiken sollen magische Fähigkeiten (siddhis) erlangt werden.

Die tantrischen Riten und Rituale sind komplex und bestehen aus einer Reihe an Übungen. Wichtig dabei ist, dass der Schüler von einem qualifizierten Guru oder spirituellen Lehrer eingeweiht wird. Diese Initiation (deeksha/diksha) durch einen tantrischen Guru beinhaltet meist das Ablegen des weltlichen Namens und der Zuweisung eines persönlichen Mantras. Der Schüler wird vom Lehrer in die rituelle Praxis (Sadhana) eingeführt. Bei der Initiation und auch der rituellen Praxis werden Mantras, Mudras und Mandalas verwendet.

Im Tantrismus nimmt der Körper eine zentrale Stellung ein und wird als Tempel Gottes bezeichnet. Gemäss der Lehre des Tantras befindet sich die Shakti-Kraft im Bereich des Beckenbodens, wo sie wie eine eingerollte Schlange (Kundalini) liegen soll. An derselben Stelle befindet sich das erste von sieben Energiezentren (chakras), das Wurzelchakra (chakra = Rad). Die Kundalini-Energie kann durch verschiedene Meditations- und Atemtechniken (pranayama) und Mantras aktiviert werden. Meist liegt sie jedoch still, wodurch sich der Mensch nur seiner irdischen Ebene bewusst ist. Durch das Erwecken und das Aufsteigen der Kundalini zu den sechs höheren Chakren wird eine höhere spirituelle Ebene erreicht, was auch mit der Aktivierung eines schlafenden Hirnteils beschrieben wird. Die Erweckung der Kundalini erfolgt durch tantrische Übungen und erweckt wiederum die Chakren im menschlichen Körper. Am Ende dieser Erweckung steht einerseits das Eins-werden mit Shiva-Shakti und andererseits das Erlangen übernatürlicher Kräfte (siddhi). Die Kundalini-Shaki kann auch durch die Ausübung sexueller Yoga-Stellungen (asanas) entfaltet werden, die die Sinne erforschen lehren, statt sie zu unterdrücken. Die Wichtigkeit des Körpers ist auch mit der Entwicklung des Hatha-Yoga erklärbar, wo Körper-Übungen, Körpersitzhaltungen und Atemtechniken geübt werden. Heutige im Westen bekannte Yoga-Arten wie beispielsweise Kundalini-Yoga (Siddha-Yoga) oder Kriya-Yoga beruhen auf dem Hatha-Yoga und haben teilweise tantrische Anteile.

Im Tantrismus nimmt die Frau eine zentrale Rolle ein. Die Weiblichkeit gilt im Tantrismus als bewegender Aspekt des Bewusstseins und ist damit einer der Hauptgründe für ihre hohe Stellung. In den tantrischen Ritualen verkörpert jede Frau dieses weibliche Prinzip der kosmischen Energie. Das weibliche Prinzip ist zwar immer mit dem männlichen verbunden, transzendiert dieses jedoch auch. Shakti, die weibliche Energie, ist daher auch mit allen Lebensaspekten ausgestattet und vermag zu erzeugen aber auch aufzulösen, ist sinnlich aber auch erhaben, gütig aber auch schrecklich. Sie stellt die zeugende Kraft der Ewigkeit dar und symbolisiert das Absolute, das Eine, da sie für die kosmische Dualität des männlichen und weiblichen Prinzips steht.

Die Riten und Praktiken im Tantrismus sind stark mit der Sexualität verbunden, sei es die Beherrschung dieser oder der rituelle Geschlechtsverkehr (maithuna). All dies zielt auf die Verehrung der Shakti und der eigenen Vervollkommnung ab. Im Tantrismus gilt die Sexualität als physische Grundlage des Seins. Dabei wird zwischen dem vorübergehenden Genuss und der Seligkeit der Vereinigung unterschieden. Die Freude der Vereinigung wird mit der höchsten Seligkeit gleichgesetzt, wobei die Unterschiede der weiblichen und männlichen Polarität aufgehoben werden. Durch das Aufsteigen und Entfalten der Kundalini kommt es zur Ekstase und alles wird in diesem Moment zu Shiva-Shakti. Bei den Körperhaltungen (asanas) kommt dem weiblichen Partner eine dynamische Rolle bei, in der sie als Vermittlerin zwischen dem Immanenten und Transzendenten und als Verkörperung der Shakti agiert. Sie hat alle positiven Eigenschaften, verkörpert ein göttliches Bild und gilt im tantrischen Ritual als verehrungswürdig.

Das heutige Tantra ist stark von Bhagwan Shree Rajneesh (Osho), dem Begründer der Osho Rajneesh-Bewegung, beeinflusst. Als «Neo-Tantra» propagierte er dabei eine Weltanschauung, in der er östliche und westliche Elemente mit therapeutischen Konzepten verband um so eine Grenzerfahrung oder gar Erleuchtung zu erlangen. Im Neo-Tantra werden Spiritualität und Sexualität miteinander verbunden, wobei auch die Psychotherapie und Esoterik einen grossen Einfluss auf diese Tradition hatte. Die sexuelle Energie gilt gemäss dem Neo-Tantra als Lebensenergie. Durch das Zulassen von Gefühlen und Emotionen soll die spirituelle Entwicklung vorangetrieben werden. Sogenannte «negative» Gefühle wie Hass, Wut oder Gier sollen im Tantra genutzt werden und in heilsame Energien umgewandelt werden. Heute gibt es ein breites Angebot in der Tantra-Sparte. Workshops, Seminare, Meditationen, Körperarbeit und Partnerübungen werden angeboten mit dem Versprechen auf Hilfe in der Partnerschaft, im Sexualleben, bei sexuellem Missbrauch oder anderen Traumata.

Auch Tantra Massagen geniessen grossen Bekanntheit. Ursprünglich wurden sie als Aspekte des Tantras in den Seminaren der Tantra Schulen gelehrt, werden heute aber abgekoppelt davon als eigene Dienstleistung angeboten und haben daher nichts mit dem traditionellen Tantra zu tun.

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