Besuch einer Gira der Terra Sagrada

Louisa Bernet, März 2020

Die Atmosphäre drinnen bildete einen starken Kontrast zu jener draussen, als ich pünktlich um 19 Uhr an diesem kalten, dunklen Montagabend das Gemeinschaftszentrum Schindlergut in Zürich betrat.

Es schwirrten farbig gekleidete Menschen umher, die offensichtlich noch die letzten Vorbereitungen für die an diesem Abend stattfindende Gira der Terra Sagrada trafen. Sie eilten mit Krügen und Tüchern an mir vorbei, hatten jedoch stets Zeit, mir freundlich entgegenzulächeln.

Eine etwa 40-Jährige Frau stellte vor einem Raum im Erdgeschoss einen Tisch mit diversen Broschüren zur Terra Sagrada, verschiedenen CDs und einer kleinen Kasse bereit. Sie trug einen wunderschönen langen Rock, dessen Muster an afrikanische Stoffe erinnerte und mit goldenen Verzierungen getupft war. Oben hatte sie ein einfaches weisses T-Shirt an, und ihr Haar war mit einem ebenso weissen Tuch verdeckt. Sie lächelte mich an und stellte sich als Nelly vor.

Nelly beschrieb mir die Faszination der Umbanda-Tradition, die man, ihrer Sichtweise nach, am besten durch das Erleben eines Rituals kennenlernen sollte. Sie erzählte mir ein wenig von der bevorstehenden Gira, war jedoch ziemlich beschäftigt mit den Vorbereitungen, sodass ich nicht viel im Voraus erfuhr.

Die drei weiteren Besuchenden, die vor der Tür mit mir warteten, kannten die Tradition bereits ein wenig. Auch sie konnten mir allerdings bedingt durch die Sprachbarriere nicht viele Informationen liefern. Alle drei spra- chen Portugiesisch, wobei wir uns dann auf die gemeinsame Sprache Französisch einigen konnten.

Ein aus Rio de Janeiro stammender Mann erzählte, dass er bereits in seinem vorherigen Wohnort in Genf Umbanda-Gemeinschaften besucht hätte und nun in Zürich auf der Suche nach einem Ersatz sei. Zwei Frauen hatten bereits einige Male die Giras der Terra Sagrada besucht.

Die Türe des Raums war geschlossen, ich hörte lediglich den Gesang der Gruppe. Anschliessend öffnete eine Frau, die in Kleidung und Alter in etwa Nelly entsprach, den Raum und bat uns einzutreten. Ich passte mich den anderen Besuchenden an, zog meine Schuhe und Socken aus und betrat den Raum. Der Geruch von ätherischen Ölen strömte mir entgegen und das angenehme gedämpfte Licht entspannte mich sofort.

Der Raum war durch ein Seil in einen inneren und einen äusseren Kreis geteilt. In der Mitte des inneren Kreises lag ein Tonkrug, der stark dem Terra-Sagrada-Logo ähnelte. Rundherum waren Kerzen in verschiedenen Farben, kleine Schalen mit Kräutern und Behälter mit Wasser ausgelegt worden. Ganz vorne stand ein kleiner Altar mit einem Blumenstrauss und Kerzen, und an den Rändern des Kreises lagen Tücher, auf denen diverse Gegenstände für die bevorstehende Gira aufgestellt worden waren.

Die zehn Menschen im Inneren des Kreises lächelten uns still an, als wir den Raum betraten. Durch die Position und die Kleidung der einzelnen Personen wurde eine klare Hierarchie ersichtlich. Im Kreis standen sechs Personen, drei Frauen auf der linken Seite, drei Männer auf der rechten. Die Frauen trugen alle lange, farbige Röcke, weisse T-Shirts und Kopftücher. Die Männer trugen weisse Stoffhosen, farbige Hemden und gemusterte Mützen. Hinter den Männern stand eine Frau, die noch nicht initiiert worden war und daher einen einfarbigen braunen Rock und ein weisses T-Shirt trug. Sie hatte keine Kopfbedeckung. Ihr männliches Gegenstück stand hinter den Frauen und trug weisse Hosen und ein blaues T-Shirt. Auch ihm fehlte die Kopfbedeckung.

An der Wand neben dem Altar befanden sich zwei Frauen hinter den beiden Trommeln. Sie trugen als einzige weibliche Personen farbige Hosen, dazu weisse T-Shirts und farbige Kopftücher. Die gesamte Gira-Gruppe sah europäisch aus.

Wir Besuchenden wurden durch das Seil vom inneren Kreis getrennt. Die Kekerê, die Leiterin der Gira, begrüsste uns auf Deutsch und Portugiesisch, forderte uns dazu auf, mitzutanzen und zu singen, und schloss den Kreis daraufhin. So standen wir in einer Beobachterrolle aussen vor und ich fühlte mich zum beginnenden Ritual wenig zugehörig.

Die Kekerê kniete sich auf den Boden und fing an, laut auf Portugiesisch zu singen. Einen Moment später setzten die beiden Trommlerinnen und der Rest des Kreises ein und alle begannen zu tanzen. Auch ich ertappte mich, wie ich meinen Körper zum Rhythmus bewegte. Es war ansteckend und mein Zugehörigkeitsgefühl verbesserte sich zwar augenblicklich, entwickelte sich jedoch nicht vollständig.

Die Kekerê leitete den Gesang als Vorsängerin, wobei auch die anderen Mitglieder der Gira-Gruppe jedes Lied dieses ersten Teils perfekt auswendig konnten, was mich sehr beeindruckte. Alle schienen während des Tanzens vollkommen in ihrer eigenen Welt zu sein. Teilweise bewegte sich die Gruppe im Kreis herum, wobei aber meist die fixen Plätze eingehalten wurden. Die Kekerê tanzte nach dem zweiten Lied zu den Utensilien am Rand des Raumes und räucherte anschliessend die gesamte Gruppe ein. Sobald der Rauch bei den einzelnen Teilnehmenden ankam, drehten sich diese im Kreis, damit sie der Rauch an allen Stellen des Körpers reinigen konnte. Die wunderschönen langen Röcke der Frauen bewegten sich mit der Schwingung mit.

Als die Kekerê den Teilnehmenden ätherisches Öl in die Hände goss, strichen sie es sich im Takt der Musik ins Gesicht und in den Nacken. Beim Beenden eines Liedes wurde dieses mit den Händen Richtung Boden „weggeklatscht“. Der gesamte Raum bewegte sich im Rhythmus der Trommeln.

Durch die Musik und Bewegungen der Gira-Gruppe hatte ich mich entspannt und tanzte locker mit. So erschrak ich ziemlich, als sich Nelly und der Mann gegenüber, der mir im Voraus als Lukas vorgestellt worden war, plötzlich zu Boden warfen. Auf allen Vieren bewegten sich die beiden, stets im Rhythmus der Musik, und reagierten auf die Bewegungen des Anderen. Das Ganze erinnerte mich an den brasilianischen Kampftanz Capoeira, welcher eine ähnliche Entstehungsgeschichte wie Umbanda selbst hat. Bei Capoeira berührt man sich nie, sondern reagiert lediglich in einem Tanz auf die Bewegungen des Gegenübers.

Die fixen Plätze vom Beginn des Rituals wurden von den beiden nicht mehr eingehalten, sie benutzen den gesamten Kreis für ihre Bewegungen. Langsam begaben sie sich zu ihren begleitenden Personen, die neben ihnen standen. Diese banden Nelly und Lukas ein mit gelben Blumen besticktes Band um den Kopf.

Daraufhin zeichneten die beiden einen Kreis aus weisser Kreide auf den Boden. Hektisch und ohne zu überlegen gestalteten sie den Kreis mit Pfeilen und scheinbar willkürlichen Mustern. Die beiden wurden von Caboclos besessen.

Die Caboclos als Gottheiten, welche jede initiierte Person der Terra Sagrada durch den Tanz inkorporieren und so auf der materiellen Welt manifestieren kann, hatten die Körper von Nelly und Lukas völlig übernommen. Sie bewegten sich anders als vorher. Lukas tanzte nun wie ein älterer Mann mit leicht gebückter Haltung. Nelly hatte ihre Augen halbwegs geschlossen, sodass sie angetrunken wirkte. Die Kekerê öffnete den Kreis. Da ich am nächsten zur Öffnung stand, winkte sie mir zu und forderte mich dazu auf, den Kreis zu betreten. Entgegen der Aussage von Nelly vor dem Ritual, dass niemand bei der Gira mitmachen müsse, spürte ich bei der Aufforderung der Kekerê keine Freiwilligkeit. So trat ich, mit einem letzten etwas unsicheren Blick zur Besucherin neben mir, in den Kreis ein.

Ich wurde durch die tanzenden Bewegungen der Menschen im Kreis zur Begleitungsperson von Lukas geleitet. Er war ein junger Mann mit dunk- len Haaren und einem warmen Lächeln. Er forderte mich dazu auf, den Caboclo zu begrüssen. Nach meinem Versuch mit einem etwas unbeholfenen „Hallo“ in Richtung Lukas, sagte dieser zu seiner Begleitung, er solle

mir zeigen, wie ein Caboclo richtig zu begrüssen sei. So überkreuzte ich unter der Anleitung des Begleiters meine beiden Fäuste und drückte sie gegen die Fäuste des Caboclos.

Für die nächsten 15 Minuten tanzte ich innerhalb des weissen Kreidekreises mit dem Caboclo, der nach einer Weile meinen Tanzstil lobte. Immer wieder bat er seinen Begleiter um Wasser oder Kräuter, sodass ich mit ihm aus einem Holzbecher trank und er tanzend Rosmarin um mich herum verteilte. Bei Erhalt des Gewünschten, aber auch zwischendurch, gab er immer wieder eifrig mehrere aufeinander folgende „Ja“ von sich.

Da ich meinen Rücken gegen den restlichen Kreis gewendet hatte, war ich mit dem Caboclo und seinem Begleiter in einer eigenen Welt. Immer wieder sprach er mit mir. Eine seiner schönsten Aussagen war, dass ich tanzend alles erreichen könne und überall willkommen sei.

Während er sprach, erinnerte er mich jeweils abwechselnd an einen betrunkenen Mann und dann wieder an einen kleinen hilflosen Jungen. Da ich keine Anliegen hatte, verabschiedeten wir uns wieder mit den überkreuzten Fäusten, und ich wurde aus dem Kreis hinausgeleitet.

Nachdem ich den Kreis verlassen hatte, konnte ich die anderen Besuchenden bei ihrem Treffen mit dem Caboclo beobachten. Eine junge Frau weinte bei Nelly und erhielt eine gelbe Rose und eine Kerze. Nellys Caboclo sprach dabei auf Portugiesisch. Eine Besucherin tanzte wild im ganzen Kreis herum und wirkte, als ob sie eine eigene Inkorporation durchmachen würde. Der aus Rio de Janeiro stammende Mann wurde mit nassen Salbeiblättern bestrichen. Als die Anliegen der Besuchenden beantwortet waren, verliessen sie den Kreis, sodass nur noch die Gira- Gruppe übrig blieb.

Die Caboclos verliessen die Körper von Nelly und Lukas mit einem Zucken und einem Rückwärtssprung, sodass die beiden von den begleitenden Personen aufgefangen werden mussten. Nelly öffnete die Augen wieder vollständig, Lukas konnte mit geradem Rücken stehen. Beiden wurden die bestickten Bänder vom Kopf genommen. Sie lächelten daraufhin mit einem etwas verträumten Gesicht in den Kreis hinein und schienen sich noch von der Trance erholen zu müssen. Der gesamte Kreis lag daraufhin mit dem Kopf zur Mitte auf den Boden. Ich konnte die Stille und die kurze Verschnaufpause jedoch nur kurz geniessen, denn die Musik und das Tanzen gingen sofort wieder los.

Diesmal übernahmen Nelly und Lukas die Aufsicht, während sich der Rest der Gruppe mit Ausnahme der Nicht-Initiierten in Trance tanzte. Teilweise mit geschlossenen Augen bewegten sie sich wild durch den Kreis und machten komische Geräusche. Der Begleiter von Lukas stand einen Moment lang in einer Flamingo- Position still, die Begleiterin von Nelly bellte wie ein Hund. Währenddessen sangen Nelly und Lukas unbeirrt weiter, standen aber stets bereit, da die restlichen Personen, eine nach der anderen, von ihrem Caboclo ver- lassen wurden und somit aufgefangen werden mussten.

Die Gira endete mit dem Ausklingen der Trommeln und dem Wunsch der Kekerê, dass das Ritual uns vor bösen Energien, besonders dem Coronavirus, in den nächsten Tag schützen solle.

Ich verliess den Raum ziemlich schnell, da ich den inneren Kreis sowieso nicht betreten konnte und ich Durst hatte vom vielen Tanzen. Ich war überrascht vom Ritual, da ich im Vorhinein keine Ahnung gehabt hatte, was mich erwarten würde. Vor allem die Hierarchie, die aufgebaut wurde, und das fehlende Zugehörigkeitsgefühl, das durch das Absperren des Kreises erzeugt worden war, hatten mich enttäuscht.

Dass die Hierarchie eine Frau an die Spitze stellte, war jedoch eine willkommene Abwechslung. Auch die Ausübung einer nicht-europäischen Tradition in diesem Kontext hatte mich ein wenig unbehaglich gestimmt. Ich habe aber Verständnis für die Faszination einer exotischen Spiritualität. Auch mich packten die Musik, der Tanz und die Kleidung der Gira-Gruppe. Um Exotik zu erleben, gehe ich das nächste Mal aber lieber an eine Capoeira-Aufführung.

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