Christengemeinschaft

Regen peitscht mir ins Gesicht und ich versuche meinen roten Knirps dem Wind zu entreissen und mich gegen die Böen zu schützen. Der Gottesdienst, in der Christengemeinschaft «Menschenweihehandlung» genannt, beginnt freitags jeweils um 8.30 Uhr. Ich bin bereits etwas knapp in der Zeit und haste die engen Gässchen hoch. Ich erreiche die Untere Zäune 19 um 8.28 Uhr, öffne die Tür und trete in den Vorraum der Gemeinschaft. Zu meiner Rechten steht ein Tisch, auf dem Prospekte und Flyer ausgestellt sind, an der Wand hängt eine Schiefertafel, auf der die Gottesdienstzeiten vermerkt sind. Durch meinen Besuch in einem Seminar an der UZH, zu Anthroposophie in dieser Gemeinschaft, weiss ich schon, wo der Gottesdienst stattfindet. Ich haste die kleine Treppe zum Hinterhof hoch, durchquere den kleinen Platz, der von Grün umringt ist und öffne die Türe zum Vorraum des Weiheraums. An der Garderobe hängt bereits eine Jacke, sowie ein Schirm. Ich behalte meine Jacke an, lege meinen Schirm auf den Boden und öffne die Doppel-Holztüre zum Altarraum.

An der linken Wand befindet sich eine helle Holzorgel und davor sind Holzstühle auf dem Parkett, in etwa 10 Reihen bis nach vorne rechts in den Altarraum gereiht. Bereits fünf Personen sind anwesend: ein Pärchen (etwa Mitte 50), ein älterer Herr ganz vorne (ca. 80 Jahre alt), ein etwa Mitte 40-jähriger Mann und eine Frau, die etwas jünger (35) scheint. Da alle ausser dem jüngeren Mann eine Jacke tragen, behalte ich auch meine an und setze mich zwei Reihen hinter das Pärchen und habe somit alle Personen im Blick. Es ist still im Raum. Ich versuche meinen Atem zu beruhigen. Die Leute sitzen in sich versunken da, ohne zu sprechen. An der Wand gegenüber öffnet sich eine Tür und eine ältere Dame betritt den Raum, grüsst die jüngere, schnappt sich eines der Sitzkissen, die gestapelt auf einem Stuhl stehen und setzt sich hinter sie. Ich sitze ruhig da und nehme den Raum in mich auf. Mir ist bekannt, dass dieser Weiheraum für die sieben erneuerten Sakramente der Christengemeinschaft errichtet wurde (Taufe, Konfirmation, Menschenweihehandlung, Beichte, Trauung, Priesterweihe, Ölung / Bestattung). Was sofort ins Auge sticht, ist die violette Bemalung des Altarraums. Hinter dem Altar ist eine Art Felsenhöhlen-Struktur in die Wand eingelassen und in dunklem Violett bemalt. Weiter oben läuft die Wand in einen Spitzbogen, der sich in ein Deckengeflecht eingliedert, das an ein grosses Spinnennetz erinnert. Die Decke dazwischen ist in einem helleren Blau-Violett gestaltet. Durch die Bemalung und die ansonsten schlichte Gestaltung des Raumes wird der Blick sofort auf den Altarbereich gelenkt. Auf dem Altar, ein steinerner Block, auf dem eine schwarz-weisse Decke liegt, sind sieben gleichgrosse Kerzenständer mit weissen, hohen Kerzen nebeneinander aufgereiht. Über dem Altar hängt ein etwa ein Meter hohes Bild, das einen gekreuzigten Jesus darstellt. Das Bild erinnert mich an Chagalls expressionistischen Darstellungen, die in denselben Weich-Zeichnungen gestaltet sind. Christus heller Körper löst sich aus dem dunklen Hintergrund, aus seiner rechten Körperhälfte scheint ein Blutstrahl zu fliessen und im Hintergrund ist verschwommen ein Gesicht erkennbar. Chagall galt allgemein als «Maler-Poet» und ich erinnere mich, dass sich die Christengemeinschaft stark an Goethe orientiert. Ich bin gespannt, was mich in diesem Gottesdienst erwartet und bereite mich auf einen Mix aus Christentum, Goethe, Steiner und Eurythmie vor.

Während ich den Raum weiter bestaune, geht an der gegenüberliegenden Wand neben der Tür, durch welche die ältere Frau gekommen ist, eine weitere Tür auf und eine etwa 50-jährige Frau mit kurzen, grauen Haaren betretet den Raum. In den Händen hält sie einen langen Stab, an dessen Ende ein Feuer brennt. Sie trägt eine schwarze Tunika, die bis zu ihren Füssen reicht, unter der ihre schwarzen Schuhe zum Vorschein kommen. Über den Schultern trägt sie eine Art weisse, kurze Kasel, die vorne und hinten abgerundet ist. Sie durchquert den Altarraum, steigt die drei Treppen zum Altar empor und zündet eine Kerze nach der anderen an. Die anwesenden Leute verfolgen das Geschehen still mit den Augen und die Frau verlässt den Raum wieder und schliesst die Tür hinter sich. Nach etwa einer Minute öffnet sich die Tür erneut und der Priester (Ortin, der uns damals eine Führung durch die Gemeinschaft gegeben hat) erscheint im Türrahmen, zu seiner Linken flankiert von der Frau, die zuvor die Kerzen entzündet hat und zur Rechten von einer weiteren Frau, ebenfalls älter, die ihre grauen Haare mit einer Klammer hochgesteckt trägt. Während die beiden Frauen dasselbe tragen, ist der Pfarrer, der die beiden Frauen weit überragt, in eine schwarze, bodenlange Tunika gehüllt, darüber trägt er ein weisses, längeres Hemd, das um die Hüfte mit einem schwarzen Tuch zusammengehalten wird. Um den Hals hat er eine schwarze Stola und auf dem Kopf trägt er einen schwarzen, hohen Hut, der mich an einen Bischofs-Hut erinnert. In den Händen hält er einen grossen, goldenen Kelch, über dem ein schwarzes Tuch liegt. Die Frau zu seiner Rechten trägt ein offenes Buch in den Händen. Die Frau zu seiner Linken hat den Feueranzünder durch eine kleine goldene Glocke ersetzt, mit der sie nun zu klingeln beginnt und in dessen Klang das Trio in Einklang Richtung Altar schreitet. Vor dem Altar angekommen, legt der Priester den Kelch auf dem Altar ab, während die eine Frau das Buch vor dem Priester ablegt und dieser daraus zu lesen beginnt. Ich werde Zeugin der Menschenweihehandlung, wie die Christengemeinschaft das Sakrament von Brot und Wein nennt. Der etwas eigenartige Name «Menschenweihehandlung» soll aussagen: «Mensch wirst du erst» (siehe Homepage Christengemeinschaft). Diese wird durch die Hilfe Christi und seine heilenden Kräfte ermöglicht und verläuft in vier Schritten: dem Sich-Öffnen für das Wort Gottes (Evangelium), der Hingabe der menschlichen Seelenkräfte (Opferung), die Wandlung der dargebrachten Substanzen von Brot und Wein (Transsubstantiation), sowie die Vereinigung des Menschen mit dem Göttlichen (Kommunion).

Während des ganzen Gottesdienstes berührt der Priester nicht einmal das Buch. Nach der ersten Lesung nimmt die Frau das Buch, umkreist den Priester und legt es zu seiner Linken auf den Altartisch. Die Predigt hält der Priester mit dem Rücken zu den Anwesenden, während die Worte in einem Singsang im Gewölbe mit Hall verklingen. Mir fällt die spezielle Betonung der Worte, die Erhebung und Senkung der Stimme und die langsam gesprochenen und langgezogenen Worte auf. Während ich mich bei der «Rücken-Predigt» an meinen Besuch einer Beerdigung in der Pius-Bruderschaft erinnere, löst sich dieses Bild mit der eigenartigen Betonung des Priesters. Ich habe zuerst Mühe, dem Inhalt zu folgen, da ich nach einem Muster in seinem Sprechakt suche – ohne Erfolg. Also konzentriere ich mich wieder auf seine Worte. Der Priester preist die Trinität, wobei alle Anwesenden unisono mit der rechten Hand eine Bewegung auf Augen- und Brusthöhe vollziehen, die mir nicht bekannt ist. Zuerst meine ich eine Kreuz-Bewegung zu erkennen, die dann aber abgerundet erscheint und in etwas völlig anderes übergeht. Im Verlaufe des Gottesdienstes nimmt die Frau, welche die Kerzen angezündet hat, feierlich die schwarze Stola des Priesters ab und hält sie in den Händen. Ab und an dreht sich der Priester bei der Predigt um, erhebt seine Rechte in einer Art Schwur zum Himmel, während er die Linke in derselben Handhaltung nach links ausstreckt, während er Jesus preist und die Frau zu seiner Rechten (mit dem Rücken zur Gemeinde) jeweils einen Satz hinzufügt. Anschliessend dreht sich der Priester wieder zum Altar um und fährt mit der Predigt fort. In einem zweiten Teil des Gottesdienstes steigen die drei die Altartreppen hinab und drehen sich zu den Anwesenden. Die eine Frau hält dabei das Buch offen in ihren Händen, während der Priester eine Lesebrille hervorholt und aus dem Johannesevangelium zu lesen beginnt. Dabei handelt es sich um «Jesus und die Ehebrecherin» (Johannes 7,53-8,11). Während der Predigt ist es ruhig im Weiheraum, die Augen sind auf den Priester gerichtet. Die Frau, welche als letzte kam, hat zwischenzeitlich einen trockenen Hustenanfall, was jedoch keinen weiter zu stören scheint.

Im Verlaufe der Predigt scheint der Pfarrer irgendwann das schwarze Tuch vom goldenen Kelch gehoben zu haben, der nun frei auf dem steinernen Altar steht. Die «Kerzen-Frau» bringt ein kleines Tablett mit zwei kleinen Glas-Kännchen, in dem einmal Wasser und im anderen Wein zu sein scheint. Der Priester giesst beides in den Kelch hinein, während dem er vom «Trank der Gesundheit» spricht. Als nächstes bringt dieselbe Frau ein Schwenkgerät und einen kleinen, dunklen Topf, aus dem der Priester Weihrauch hineinlöffelt, es entzündet und zum Rauchen bringt. Er pendelt das Gefäss in einer kreisenden Bewegung auf Bauchhöhe vor sich hin und um den Altar herum und gibt es anschliessend der Frau zurück. Nach einer weiteren Predigt-Einlage erhebt der Priester die Hostie, begleitet von seinem Singsang mit beiden Händen hoch über den Kopf und kniet sich nieder. Der Magen eines Anwesenden knurrt und ich muss schmunzeln. Das kleine Plättchen wird wohl keinen Hunger stillen können. Nun erheben sich alle und treten in einer Reihe nach vorne, der Altartreppe entlang. Ich bleibe auf meinem Platz sitzen und beobachte das Geschehen vorne. Mir scheint, als beobachte mich der Pfarrer, was mich nicht erstaunen würde. Ich falle bestimmt wie ein bunter Hund auf. Ich versuche dies jedoch zu ignorieren und konzentriere mich auf die Ereignisse. Der Priester beginnt aussen rechts bei der Frau mit dem schwarz-weissen Gewand und der hochgesteckten Frisur und legt ihr die Hostie in den Mund, spricht ein paar Worte und tritt zum Nächsten, wobei er wieder dasselbe vollzieht. Nachdem er die Runde beendet hat, wird ihm der Kelch gereicht und er tritt erneut von rechts an die Leute und lässt sie aus dem Kelch trinken, während er wieder seine Worte an sie richtet. Die Leute kehren an ihre Plätze zurück und ich werde gemustert. Nach der Kommunion wird der Gottesdienst mit einigen Worten des Priesters beendet.

Nach ca. 45 Minuten schreitet das Trio aus dem Raum, in der gleichen Formation, wie es eingetreten ist. Die Tür schliesst sich hinter ihnen und die Anwesenden sitzen still da. Nach etwa zwei Minuten öffnet sich die Tür erneut und die Frau, welche die Kerzen entzündet hat, erscheint mit einem Kerzenlöscher und löscht eine Kerze nach der anderen und verlässt den Raum erneut. Ich bleibe sitzen und warte ab. Wenig später scheint es ein stilles Aufbruchssignal zu geben, da fast alle Anwesenden gemeinsam aufstehen, mir einen Blick zuwerfen und den Raum verlassen. Auch ich erhebe mich und folge dem älteren Herrn aus der vordersten Reihe, der mir die Türe aufhält, mich etwas skeptisch betrachtet und danach den Weiheraum verlässt. Ich schnappe mir meinen Schirm, gewappnet dafür, was die Welt draussen für mich bereithält und verlasse den Weiheraum. Ich durchquere erneut den Hinterhof, bediene mich im Vorraum noch mit einigen Flyer und Prospekten – aus reiner Neugierde – und trete vor die Tür. Der Regen hat mittlerweile aufgehört und nur die nassen Pflastersteine auf dem Weg zeugen vom morgendlichen Wolkenbruch.

Bei meinem Besuch ist mir sofort die geringe Zahl an Anwesenden aufgefallen. Sechs Personen, mit mir sieben, ein Priester und zwei Helferinnen. Eine überschaubar kleine Runde. Überwiegend ältere Personen. Ob das nur daran liegt, dass es sich um einen Freitagmorgen handelt und der Rest der Mitglieder ihren beruflichen Verpflichtungen nachgeht? Ich bezweifle es stark. Der Gottesdienst der Christengemeinschaft hat mich an die tridentinische Messe (römischer Messritus vor dem Trienter Konzil) erinnert. Dabei war insbesondere die Stellung des Priesters mit dem Rücken zur Gemeinde (ad orientem) ausschlaggebend für diese Einschätzung. Weiter ist das Gedankengut der Christengemeinschaft, dass es gewissen Personen vorbehalten ist, die Bibel zu verstehen nahe an der mittelalterlichen Vorstellung, dass Laien keinen Zugang zur Bibel haben sollen/können. Etwas befremdlich erschien mir der Mix aus eben diesem alten Katholizismus und einer esoterisch angehauchten Art und Weise. Für mich fühlte es sich anachronistisch an, einer solch liturgischen Abhandlung in einem Raum beizuwohnen, der durch die Architektur und Farbgebung an abstrakte, expressionistische Kunst und den Jugendstil erinnert.

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