Buddhistische Meister der Gegenwart

Referat von Margrit Meier, lic. rer. pol., Publizistin und Meditationslehrerin, gehalten in der Nydegg-Kirche Bern am 9. Februar 2012 im Rahmen der Vortragsreihe «Mystik der Weltreligionen»

Wo steuert die buddhistische Mystik im 21. Jahrhundert hin? Drei bekannte Meditationslehrer stehen für drei Trends: der im Westen lehrende Vietnamese Thich Nhat Hanh und die amerikanischen Neo-Buddhisten Dennis Genpo Merzel und Jon Kabat-Zinn.

Thich Nhat Hanh verkörpert wie kein zweiter den Typus des modernen religiösen Lehrers. Vom traditionellen religiösen Lehrer unterscheidet er sich grundlegend durch zweierlei: Er vermittelt keine Rechtgläubigkeit, er will die Menschen nicht zum Buddhismus als allein seligmachender Doktrin bekehren. Das ist das erste. Das zweite ist, dass er Elemente des Buddhismus so vertritt, dass sie vielen Menschen – egal welcher Religion sie sind – persönlichen Nutzen bringen. Er lädt Menschen ein, Elemente des Buddhismus in ihren Alltag zu integrieren. Nicht die Menschen sind für den Buddhismus da, sondern der Buddhismus – bzw. seine Achtsamkeits-Praktiken – für die Menschen. Von Geschenken ist da die Rede, die der Buddhismus für Menschen – egal welcher Religion – bereit hält und die Menschen – egal welcher Religion – in ihrem Leben bereichern können.

Das ist grundlegend neu. An die Stelle der Konkurrenz der Religionen – einer Konkurrenz, die wir aus unserer (und der buddhistischen!) Religionsgeschichte ja bestens kennen – tritt die Kooperation der Religionen. Thich Nhat Hanh ist nicht der einzige, der sie vertritt – aber er vertritt sie mit der unerbittlichen Konsequenz eines persönlichen Werdeganges, der ihm eigentlich nur diese eine Wahl gelassen hat. Was das Leben des jungen Vietnamesen Nhat Hanh nämlich unauslöschlich prägt, das ist die Grausamkeit des Vietnam-Kriegs. Als 16-jähriger wird Nhat Hanh buddhistischer Mönch, als 20-jähriger erlebt er das erste Ausbrechen des Krieges im Jahre 1946 – zunächst als Unabhängigkeitskrieg der vietnamesischen Kommunisten gegen die französische Kolonialherrschaft.

Von Beginn an gilt Nhat Hanhs Interesse dem Gemeinsamen statt dem Trennenden der Religionen. Er bleibt nicht in der buddhistischen Schule des Mahayana-Buddhismus stecken, in die er initiiert wurde, sondern entwickelt auch früh Interesse an der anderen grossen buddhistischen Schule, dem Theravada-Buddhismus. Später wird er beide Schulen in der «Vereinigten Buddhistischen Kirche Vietnams» vereinigen, die noch heute existiert (auch wenn sie vom kommunistischen Regime verboten ist). Auch erhält er ein Stipendium für das Studium der vergleichenden Religionswissenschaft an der Universität Princeton in den USA.

Im insgesamt 30 Jahre tobenden Krieg – einem Stellvertreter-Krieg im Kampf des westlichen und des kommunistischen Systems um die Weltherrschaft, der in Vietnam ausgetragen wird – in diesem Krieg ist es Nhat Hanh nicht vergönnt, sich in religiösen Betrachtungen zu erschöpfen. Das Elend des Krieges fordert ihn als Mensch heraus. Er sucht und findet Antwort in einer Lebenshaltung, für die er später den Begriff «Engagierter Buddhismus» prägt. Es ist dies ein sozial engagierter Buddhismus, der auf die Strasse geht und sich der Kriegsopfer, der Leidenden, der Verwundeten, der Vertriebenen annimmt – und zwar unabhängig davon, auf welcher Seite der Front sie stehen. Ein sozial engagierter Buddhismus – auch das ist ein Novum, für das Thich Nhat Hanh steht.

Als 1965 die Amerikaner mit massiven Bombardierungen in den Vietnam-Krieg eingreifen, gründet Thich Nhat Hanh die «Schule der Jugend für Soziale Dienste», die aus Mönchen und Nonnen sowie aus Laienpraktizierenden besteht und sich in der Linderung der Kriegsnot so- wie im Wiederaufbau zerstörter Schulen und Spitäler engagiert. Diese Arbeit zwischen allen Fronten hat ihren Preis. Denn als sich Thich Nhat Hanh auch noch an den Friedensgesprächen für Vietnam in Paris beteiligt, erfolgt das Aus. Die kommunistische Regierung untersagt ihm die Rückkehr in die Heimat. Die Karriere von Thich Nhat Hanh als religiösem Führer seines Landes ist zu Ende – er, der sich der Vertriebenen angenommen hat, wird selbst zum Vertriebenen und findet schliesslich in Frankreich eine neue Heimat.

Thich Nhat Hanh, jetzt 40-jährig, wird auf einen Neuanfang geworfen – als buddhistischer Lehrer im Exil. Er lässt sich in Frankreich nieder und gründet hier bald seine langjährige Gemeinschaft «Plum Village» bei Bordeaux – ein Ort, an dem Menschen aller Nationen und Religionen für kürzere oder längere Zeit ein Retreat besuchen und sich von ihm unterrichten lassen können.

Seine Gefolgschaft – das sind jetzt nicht mehr die Angehörigen eines traditionell buddhistischen Landes – das sind jetzt religiöse Suchende des Abendlandes. Ihnen lehrt Nhat Hanh das, was er als Geschenk des Buddhismus an die Menschheit betrachtet: Friedfertigkeit, innere Ruhe, Achtsamkeit im Alltag, die Fähigkeit, die Früchte der Meditation ins Leben zu tragen.

Thich Nhat Hanhs Geschick ist es, dem Menschen von heute, der permanent in Atemnot ist, weil er ständig der Zeit hinterher rennt und so durchs Leben hetzt, Achtsamkeit beizubringen – nicht das vom Alltag abgehobene stille Sitzen in der Abgeschiedenheit – sondern Achtsamkeit mittendrin im Alltag, mitten in der Hetze. «Schmutziges Geschirr, rote Ampeln und Verkehrsstau sind spirituelle Helfer auf dem Pfad der Achtsamkeit.» Thich Nhat Hanh propagiert z. B. das Abwaschen um des Abwaschens willen. «Wenn wir beim Abwasch lediglich an die Tasse Tee denken, die uns (nach dem Abwasch) erwartet, und wir uns deshalb beeilen, um es schnell hinter uns zu bringen, als wäre der Abwasch eigentlich etwas völlig Überflüssiges, dann waschen wir keineswegs ab, um abzuwaschen. Ja, wir leben dann eigentlich auch gar nicht, während wir abwaschen! Wir sind unfähig, das Wunder des Lebens zu begreifen, wenn wir mit dieser Einstellung am Spülbecken stehen. Wenn wir aber nicht einmal bewusst abspülen können, liegt es nahe, dass wir auch nicht in der Lage sind, wirklich unseren Tee zu trinken. Dann trinken wir zwar unseren Tee, denken aber pausenlos an andere Dinge und sind uns der Tasse in unserer Hand kaum bewusst. So verschlingt uns die Zukunft – und wir sind leider gänzlich unfähig, auch nur eine Minute lang unser Leben wahrhaftig zu leben.»

Innehalten und achtsam für die Gegenwart werden – das ist der Kern der Lehre des Thich Nhat Hanh. Alles was uns zum Innehalten verhilft – zum Unterbrechen und Aussteigen aus dem Gedankenstrom -, ist willkommen. Es kann das Läuten einer Glocke sein (der Ausdruck Thich Nhat Hanh-Glocke ist zum stehenden Begriff geworden), oder das Schrillen eines Telefons. (Ganz nebenbei: Viele reformierte Kirchen haben sich eine zeitlang dadurch ausgezeichnet, dass auch ihrem Kirchturm ein Hahn – ein Güggel – prangte. Auch dieser Güggel symbolisiert mit seinem Kikeriki Innehalten, Aufwachen und Ankommen in der Gegenwart.) Thich Nhat Hanhs Lieblings-Meditation ist das Gehen – Gehen um des Gehens willen, ohne Ziel: «Im Gehen meditieren heisst eigentlich, das Gehen zu geniessen – kein Gehen, um anzukommen, sondern nur um zu gehen. Es hat keinen anderen Zweck, als im gegenwärtigen Moment zu sein, bewusst den Atem und das Gehen zu spüren und jeden Schritt zu geniessen. (…) Nimm bewusst wahr, wie deine Füsse die Erde berühren. Geh so, als würdest du die Erde mit deinen Füssen küssen. Wir haben der Erde viel Schaden zugefügt. Jetzt ist es an der Zeit für uns, gut für sie zu sorgen.»

Auch das meditative Gehen lässt sich leicht in den Alltag einbauen. Dazu wiederum Thich Nhat Hanh: «Geh-Meditation kannst du ausüben zwischen zwei Besprechungen, auf dem Weg zum Auto, die Treppen hinauf oder die Treppen hinunter. Egal, wo du hingehst, rechne genügend Zeit für diese Übungspraxis mit ein. Lass dir statt drei Minuten z. B. acht oder zehn Minuten Zeit. Ich gehe immer absichtlich eine extra Stunde früher zum Flughafen, so dass ich dort die Geh-Meditation ausüben kann. Freunde wollen mich gern bis zur letzten Minute bei sich behalten, aber ich gebe dem Impuls nicht nach. Ich sage ihnen, dass ich diese Zeit für mich benötige.»

Aus religiöser Sicht ganz besonders bemerkenswert ist eines der jüngsten Bücher von Thich Nhat Hanh, nämlich dasjenige über das Beten. Es ist eines seiner letzten, die der heute 86-Jährige geschrieben hat und die reife Frucht eines langen und bewegten Lebens. Das Buch ist eine Antwort auf das Fragen zweier junger buddhistischer Nonnen, die sich aufgemacht haben, um in einem Kloster in Frankreich ihre katholischen Schwestern zu besuchen. Beeindruckt von diesem Besuch, erklären sie Thich Nhat Tanh: «Die Schwestern im Kloster können all ihre Verantwortung an Christus übergeben. Sie haben absolutes Vertrauen in Christus und geben alles an Ihn ab. Sie brauchen nichts zu tun. Es ist eine sehr verlockende Lebensweise. Im Buddhismus müssen wir alles selbst tun: Wir üben das achtsame Gehen und Sitzen, wir beobachten unseren Atem. Wir nehmen unser Schicksal in die eigenen Hände und manchmal fühlen wir uns sehr müde dabei.»

Die beiden Schwestern bringen in stark vereinfachter Weise auf den Punkt, was Christentum und Buddhismus – gemeinhin – unterscheidet. Christen brauchen nichts zu tun ausser an Christus zu glauben, damit Christus sie erlöst. Buddhisten müssen alles selbst tun – sie müssen sich selbst erlösen, und das kann anstrengend sein. Welcher Weg ist der richtige? Da haben wir sie wieder, die alte Konkurrenz der Religionen. Thich Nhat Hanh wäre nicht Thich Nhat Hanh, wenn er sich durch diese Fragestellung nicht zutiefst im Innern herausgefordert fühlte. Mehr als zehn Jahre braucht er, um den beiden Schwestern zu antworten – eben in Form des Buches über das Beten. Und er geht weit in diesem Buch – so weit, dass er das christliche «Unser Vater» aus buddhistischer Sicht analysiert – Satz für Satz – um Gemeinsamkeiten und Parallelen mit dem buddhistischen Verständnis des Betens festzustellen. Nhat Hanhs Buch gipfelt in der folgenden Einsicht: «Im Christentum und im Judentum können wir (die) allgegenwärtige Präsenz Gott nennen. Gott und Buddha sind keine zwei verschiedenen Sachen. Wir sollten es Wörtern und Konzepten nicht erlauben, uns zu täuschen. Wichtig ist, dass wir dazu fähig sind, mit der Wirklichkeit in Berührung zu sein. Die gelbe Frucht, die Sie schälen, wird auf Vietnamesisch Chui und auf Deutsch Banane genannt, es ist aber dieselbe Frucht. Beide Worte verweisen auf dieselbe Wirklichkeit.»

Dennis Genpo Merzel wird 1944 in New York geboren und verkörpert den neuen Typus des amerikanischen Buddhisten. Er entwickelt sich zum Zen-Mönch und Zen-Meister und zum Leiter einer international tätigen buddhistischen Gemeinschaft. Um ihn und sein Anliegen zu verstehen, mit der er die etwas starre und festgefahrene Welt des amerikanischen Zen neu aufmischt, ist es nötig, in der Zeitgeschichte kurz zurück zu blenden, nämlich zur kulturellen Revolution von 1968 und ihren Folgen.

In den USA ist 1968 der Höhepunkt der Protestbewegung gegen den Vietnam-Krieg, in Paris brechen im Mai die französischen und in Berlin die deutschen Studentenunruhen aus, in der Tschechoslowakei beginnt der Prager Frühling. Am Broadway In New York erlebt das Musical «Hair» seine Uraufführung, und Stanley Kubricks Film «2001 – Odyssee im Weltraum» beginnt seinen Siegeszug um die Welt. Aus Liverpool sind es die vier Pilzköpfe, die Beatles, welche mit der Friedenshymne All You Need Is Love die Hitparaden weltweit anführen und ein neues Zeitalter der Populär-Kultur einleiten. In Woodstock folgt ein Jahr später das legendäre Festival, bis heute Symbol eines anderen Amerika – anders eben als das Amerika, das in den Vietnam-Krieg verwickelt ist. Die Hippie-Bewegung als gegenkulturelle Jugendbewegung mit ihrem Slogan des Flower Power entsteht. Nicht nur die Beatles pilgern zu ihrem Guru Maharishi Mahesh Yogi nach Indien. Die religiös-spirituelle Gegenkultur findet vielmehr bald ihr Zentrum in Poona, wo der intellektuell überragende Philosophie-Professor und Guru Bhagwan (später Osho) die Jugend des Westens in seinen Bann schlägt. Auch Bhagwan wird als Brückenbauer in die Geschichte der Religion eingehen. Was als zentrales Anliegen seines Wirkens bleibt, das ist nicht mehr und nicht weniger als die Synthese von Religion und Psychotherapie. Bhagwan erkennt, dass alles Streben nach Heil-Sein und Heiligkeit nämlich letztlich nur Heuchelei produzieren kann und zum Scheitern verurteilt ist, solange es dem Menschen nicht gelingt, das Böse in sich anzunehmen und es damit zu erlösen: «Ich bin eins mit allen Dingen. Im Schönen, im Hässlichen, denn in allem, was ist – da bin ich. Nicht nur der Reinheit, auch der Sünde Komplize bin ich. Und nicht nur der Himmel. Auch die Hölle ist mein. Buddha, Jesus, Laotse – Es ist leicht, deren Erbe zu sein. Aber Dschingis Khan, Tamerlan, Hitler? Auch die sind in mir! Nein, nicht die halbe, die ganze Menschheit bin ich! Alles Menschliche ist mein – Blüten und Dornen, Dunkel wie Licht. Und wenn nur der Honig mein ist, wessen ist dann die Galle? Honig und Galle – beides ist mein. Jeden, der dieses erfährt, nenne ich religiös, denn nur die Qual solcher Erfahrung kann das Leben auf Erden revolutionieren.»

Die Qual solcher Erfahrung – es ist das, was ursprünglich C. G. Jung unter dem Begriff der Integration des Schattens gefordert hat. Denn die Auseinandersetzung mit dem eigenen Schatten, die Integration des Schattens in die Gesamtpersönlichkeit – das ist es, was nach C. G. Jung zu den hauptsächlichen Aufgaben des menschlichen Reifeprozesses gehört und ein Muss ist auf dem Weg zur Ganzwerdung, zur sogenannten Individuation. Nur, wie macht man das ganz konkret, den eigenen Schatten zu integrieren? Die kurz zuvor in Amerika entdeckte Humanistische Psychologie kommt da zu Hilfe. Poona, der Ashram von Bhagwan, wird zum Tummelplatz von wilden Selbsterfahrungs-Gruppen, den sogenannten Encounter-Gruppen, in denen die Lust am Guten wie am Bösen sich austoben darf. Poona wird zum Exerzierfeld moderner gruppentherapeutischer Prozesse, wird ein Schmelztiegel für alle Arten von Ideen der Human Potential- Bewegung, die sich in Esalen in Kalifornien zu formieren beginnt – auch sie eine Protestbewegung zur etablierten Psychologie und Psychotherapie.

Es ist eine wilde und lebendige Zeit, die da abläuft, und sie zieht junge Menschen aus der ganzen Welt zu Tausenden in ihren Bann. Kann sie etwas Gutes – etwas nachhaltig Gutes – bewirken? Die Bhagwan-Bewegung gerät durch die Exzesse, die sich schliesslich auf der Ranch in Oregon in den USA ereignet haben, international in Misskredit. Bhagwan selber gelingt zwar Ende der Achtzigerjahre in Poona ein viel versprechender Neustart, doch bald darauf stirbt er, und mit ihm, wenigstens vorläufig, das weltweite Interesse an seinem Tun. Die von ihm propagierte Synthese von Religion und Psychotherapie erscheint in der Öffentlichkeit zunächst als fragwürdig, wenn nicht gescheitert. Gefragt sind wieder religiöse Lehrer, die Beruhigung ausstrahlen und bitte nicht am Schatten rühren, da das ganz offensichtlich gefährlich ist, Lehrer, die niemandem weh tun, aber möglicherweise auch niemanden weiter bringen.

In diesem Kontext der Ruhe nach dem grossen Sturm ist es Dennis Genpo Merzel (Roshi), der Neues wagt. Er ist Amerikaner, hat in Kalifornien studiert und die Impulse der wilden 60er und 70er Jahre mitbekommen. Neben seiner systematischen Ausbildung und Vorbereitung zum Zen-Meister wird Genpo Merzel Schüler von Hal und Sidra Stone und lässt sich von ihnen in den Voice Dialogue-Prozess einweihen. (Der Voice Dialogue-Prozess oder Dialog der inneren Stimmen ist eine Methode innerhalb der Humanistischen Psychologie, bei der es darum geht, den Widerstreit der inneren Stimmen in uns – beispielsweise die Stimme den Antreibers oder des Inneren Kritikers in uns – aufmerksam zu beobachten und ihren Einfluss auf uns günstig zu beeinflussen.) Es handelt sich um eine Methode der Bewusstmachung innerer Prozesse.

Genpo Merzel benutzt einzelne Elemente dieser Methode und baut sie in seine Zen-Retreats ein. Nach rund 20 Jahren Erfahrung damit lanciert er 1999 den sogenannten Big Mind – Big Heart Prozess, eine Verbindung von Zen-Meditation und Voice Dialogue. Und die Synthese hat Erfolg. In den vergangenen 12 Jahren hat sich der Big Mind-Big Heart Prozess wie ein Lauffeuer unter den zen-buddhistischen Kreisen in aller Welt verbreitet. Manche sehen in ihm die «wichtigste und schöpferischste Entdeckung innerhalb des Buddhismus der letzten zwei Jahrhunderte» (Ken Wilber) – «eine einzigartige, klare und praktische Verbindung aus westlicher Psychologie und Zen- Buddhismus, die uns auf direktestem Weg zum Erleben unseres wahren Selbst und zur Integration unserer unterschiedlichen Wesensanteile führt».

Genpo Merzel begründet das Entstehen des Big Mind-Prozesses wie folgt: «Nach einem Jahrzehnt oder mehr Jahren der Zen-Übung im Zentrum von Los Angeles (…) waren wir im Grunde genommen alle noch ziemlich verkorkst. Spirituelle Übung verändert nicht unbedingt alles. Wir kommen damit nicht notwendigerweise an unsere tieferen psychischen Probleme heran. Tatsächlich können wir 20, 30, 40 Jahre lang in Meditation sitzen und doch ‚nur auf unserem Zeug herumsitzen – eine der negativen Seiten des ‚nur Sitzens’. Wir können durchaus innerhalb der traditionellen Zen-Praxis Fortschritte erzielen, Zen-Koans lösen (das ist eine Art von Rätseln), und doch nicht zur wahren Essenz von allem vordringen. (…) So also kam Voice Dialogue ins Spiel und ermöglichte uns, uns selbst langsam in etwas zu erden, das westlich (war) und psychisch sehr gesund. (…) Ich fand es einfach grossartig. Meinem Gefühl nach war psychologische Arbeit absolut notwendig, sollte Zen im Westen Wurzeln schlagen.»

Hier haben wir sie wieder, die Synthese von Religion und Psychotherapie. Sicher ist Genpo Merzel nicht mit Bhagwan zu vergleichen – weder was das geistige Potential, noch die weltweite Rezeption, noch was den Hang zum Skandalösen und Ärgerlichen betrifft. Big Mind ist ein äusserst vorsichtiger und behutsamer Prozess, der sehr (vielleicht zu sehr) auf Harmonie aus ist – Katharsis und kathartisches Erleben werden damit nicht provoziert. Und doch ist die Erkenntnis, dass wir 20, 30, 40 Jahre lang in Meditation sitzen können und doch nur «auf unserem Zeug herumsitzen» können, bahnbrechend. Sie bricht mit einem zen-buddhistischen Tabu: dass das Sitzen in Achtsamkeit, dass die Praxis der Achtsamkeit für sich allein genüge, gewissermassen allein seligmachend sei. Ergänzend wird es nötig, sich mit dem eigenen Schatten zu konfrontieren, sich ihm zu stellen und ihn zu integrieren. Das ist nicht möglich ohne eine Risikobereitschaft. Bin ich bereit, diesen Preis zu bezahlen und aus meiner persönlichen Komfortzone heraus zu treten oder möchte ich es gerne günstiger haben – möglichst ohne jedes Risiko? Vergessen wir nicht, dass der Meister von Nazareth seine Jünger, einfache Fischer, aufgefordert hat: Folge mir nach. Folge mir nach: Das hiess damals: lass alles stehen und liegen, lebe mit mir und wage einen völligen Neuanfang.

Und was heisst es heute? Wenn sich heute Menschen von z. B. einem indischen Guru im Herzen berühren lassen und glauben, in seinem Umfeld ihr religiöses Streben am besten leben zu können, so ist uns das suspekt. Nichts bestätigt uns in unserer persönlichen Komfortzone so sehr wie andere Menschen, die mutiger und risikobereiter sind als wir, und die dann – es war absehbar – in ihrer religiösen Suche scheitern. Als buddhistischer Würdenträger persönlich gescheitert betrachtet sich übrigens auch Genpo Merzel selber. Er ist über eine Sex-Affäre gestolpert, die mit dem Ehrenkodex seiner Sanga nicht zu vereinen war und hat den Ehrentitel Roshi abgelegt. Die Big Mind-Methode unterrichtet er aber weiter. Dieser Tour d’horizon über neue Tendenzen der Mystik wäre sehr unvollständig, würde er nicht mit einem dritten Brückenbauer zwischen den Welten abgerundet, mit Jon Kabat-Zinn.

Jon Kabat-Zinn, geboren in New York, schliesst seine Universitätsstudien als Doktor der Molekularbiologie ab und wird bald Universitäts-Professor. Früh wendet er sich der buddhistischen Achtsamkeits-Meditation zu und erkennt, dass diese nur dann wirklich relevant ist, wenn sie auch dem gewöhnlichen Durchschnitts-Menschen (und eben nicht nur dem elitären Sucher) hilft, mit den ganz gewöhnlichen Durchschnitts-Sorgen des Alltags wie Stress, Angst und aussichtslose chronische Krankheiten umzugehen und sie zu bewältigen.

Jon Kabat-Zinn gelingt es, die von ihm entwickelte Achtsamkeitspraxis, die sich an die buddhistische Meditation anlehnt, in die Spitäler zu bringen und sie an chronisch Kranken zu applizieren – an jenen schwierigen Fällen wie z. B. Schmerzpatienten. Seine Erkenntnisse entwickelt er zu einem eigenen Programm, das er Mindfulness Based Stress Reduction MBSR nennt. Die Mindfulness Based Stress Reduction MBSR wird in der Regel als ein achtwöchiger Kurs angeboten. Die Teilnehmenden verpflichten sich, an sechs der sieben Wochentage täglich während mindestens 45 Minuten zu üben. Es handelt sich um ein Paket von Meditationsübungen (Meditation der Stille und Körper-Scan), die durch Übungen des Hatha Yoga ergänzt werden.

Auch Kabat-Zinn wird in seinem Wirken weltweiter Erfolg zuteil. Die Mindfulness Based Stress Reduction kann heute nicht nur im OSHO-Zentrum in Köln, sondern z. B. auch bei den Jesuiten von Schönbrunn in der Schweiz studiert werden, die ansonsten die Exerzitien des Ignatius von Loyola und Zen pflegen. Und nicht nur dort! Ein Berufsverband der MBSR-Lehrkräfte wacht schweizweit über die Qualitätskontrolle. Ich zitiere aus dem Selbstverständnis dieser Organisation: «Durch die regelmässige Übung der Achtsamkeit fördert MBSR das Wohlbefinden und einen bewussteren Umgang mit Stress im Alltag. Darüber hinaus trägt Achtsamkeit zu mehr Lebensqualität und zur persönlichen Entwicklung bei.»

Ein religiöser Bezug – ein Bezug sogar zu Gott – wird bei Jon Kabat-Zinn nicht mehr erkennbar. Sorgfältig versucht er jeden religiösen Kontext, im Besonderen jede Bezugnahme auf den Buddhismus, von dem er herstammt, zu vermeiden. Seine Adepten formulieren das so: «Der Unterricht von MBSR schliesst psychotherapeutische (…) Interventionen sowie religiöse Unterweisungen aus.»

Da stellt sich schon eine Frage grundsätzlicher Art. Kann es denn sein, dass die Wellness-Kultur von heute alles auffrisst? Droht sie die Disziplin der Meditation und der Achtsamkeit zu verschlingen, so wie sie es, Jahrzehnte zuvor, mit der Disziplin des Yoga getan hat? Wird die hohe Schule des Meditierens – analog dem Hatha Yoga – zum modernen Frisch, Fromm, Frei, Fröhlich herunter gebrochen – frei nach Turnvater Jahn?

Die Sorge ist nicht unbegründet, umso mehr als sich die moderne Hirnforschung der Disziplin der Meditation bemächtigt hat und die Praktiken des achtsamen Schweigens als äusserst förderlich für die Entwicklung des Gehirns, insbesondere des älter werdenden, beurteilt.

Meditation ohne Bezug zu Mystik und Religion? So kann man es sehen. Man würde aber Jon Kabat-Zinn wahrscheinlich nicht damit gerecht. Selbst sagt er es in einem seiner jüngsten Bücher so: «Ich bin dahin gelangt, die Meditation mehr als alles andere als einen Akt der Liebe anzusehen, eine nach innen gerichtete Geste des Wohlwollens und der Freundlichkeit uns selbst und anderen gegenüber, eine Geste des Herzens, die unsere Vollkommenheit selbst inmitten unserer offensichtlichen Unvollkommenheit anerkennt.» «Bei der Meditation geht es nicht darum, irgendwohin zu gelangen. Es geht vielmehr darum, dass Sie sich selbst erlauben, genau dort zu sein, wo Sie sind, und genau so zu sein, wie Sie sind, und dass Sie auch der Welt gestatten, genau so zu sein, wie sie im Moment gerade ist.» Ich möchte, als Schlussfolgerung aus diesem Referat, eine optimistische Deutung wagen. So verschieden Thich Nhat Hanh, Genpo Merzel und Jon Kabat-Zinn als Exponenten eines neuen Zeitgeistes auch sind, so stehen sie gemeinsam doch für einen Zeitgeist, der Brücken baut, wo sich Gegensätze einstmals unversöhnlich aufgetan haben.

Jon Kabat-Zinn steht als Brückenbauer zwischen religiöser Praxis und Wissenschaft und hilft damit, den Graben zuzuschütten, den ein übersteigertes naturwissenschaftliches Weltbild aufgerissen hat. Thich Nhat Hanh steht als Brückenbauer zwischen Religionen. Auch er hilft einen Graben zuzuschütten – den Graben, der durch den Kult der Differenz entstanden ist, dem leider manche Exponenten von Religionen glauben huldigen zu müssen (statt die Ehrfurcht vor dem Gemeinsamen zu pflegen).

Genpo Merzel baut wie vor ihm Osho und noch vor diesem C. G. Jung der Psychotherapie eine Brücke zur Religion. Psychotherapie versteht sich nach diesem Verständnis als Seelenheilkunde und beschäftigt sich – eben mit dem Seelenheil – ganz so, wie das eigentlich auch wahre Religion tut. Damit, mit diesen Brücken der Kooperation, eröffnen sich unserem Zeitalter bedeutend weiträumigere Perspektiven als jene der Konkurrenz unter verschiedenen Standpunkten.

Ich schliesse mit einem Zitat von Thich Nhat Hanh. Was er sagt, das sagt er vor dem Hintergrund der schrecklichen Kriege des 20. Jahrhunderts und – in seinem ganz persönlichen Fall – vor dem Hintergrund des Schreckens und unvorstellbaren Leidens von 30 Jahren Krieg in Vietnam: «Wir müssen das Leiden des 20. Jahrhunderts als Kompost benutzen, damit wir gemeinsam Blumen für das 21. (Jahrhundert) ziehen können.»

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